Ein Drittel der Ärzte und Pflegekräfte in Europa hat psychische Probleme
Der neue Report Mental Health of Nurses and Doctors (MeND), den das Regionalbüro der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für Europa zusammen mit der Europäischen Kommission vorgelegt hat, umfasst 90.171 Antworten aus 29 Ländern, darunter alle EU-Staaten, Island und Norwegen. Laut WHO handelt es sich damit um die bislang größte Erhebung zur psychischen Gesundheit von Ärzten und Pflegekräften in Europa.
Die Ergebnisse weisen auf eine hohe Prävalenz psychischer Erkrankungen und unsicherer Arbeitsbedingungen – darunter Gewalt, lange Arbeitszeiten und Schichtarbeit – in allen untersuchten Ländern hin. So berichten ein Drittel der Ärztinnen und Ärzte über Symptome einer Depression oder Angststörung. Mehr als zehn Prozent gaben an, in den vergangenen Wochen an Selbsttötung gedacht zu haben. Besonders häufig betroffen sind jüngere Beschäftigte und Frauen.
Unsichere Arbeitsbedingungen gingen mit einer schlechteren psychischen Gesundheit einher. Dabei erwiesen sich Gewalterfahrungen als der stärkste Risikofaktor: Beschäftigte, die körperliche oder verbale Gewalt erlebt hatten, zeigten doppelt so häufig psychische Probleme wie Kolleginnen und Kollegen ohne diese Erfahrungen.
Jeder Dritte hat psychische Probleme
Fehlt soziale Unterstützung, etwa durch Vorgesetzte, verdreifacht sich das Risiko. Laut den Daten haben auch Personen, die regelmäßig Nachtschichten oder Überstunden leisten, ein deutlich erhöhtes Risiko für Depressionen und Angststörungen.
Das Vorhandensein von Unterstützungs- und Schutzfaktoren am Arbeitsplatz war hingegen mit einer besseren psychischen Gesundheit verbunden. So wiesen Befragte, die regelmäßig Unterstützung am Arbeitsplatz erhielten, seltener Symptome psychischer Erkrankungen auf (17 Prozent gegenüber 51 Prozent). Auch eine gute Work-Life-Balance sowie mehr Einfluss auf die Arbeitszeiten senkten das Risiko deutlich.
Support im Job ist wie ein Schutzschirm
Auf Basis der Ergebnisse formuliert die WHO politische Handlungsempfehlungen: eine Null-Toleranz-Politik gegenüber Gewalt und Belästigung, Begrenzung von Überstunden, bessere Planbarkeit von Schichten, Aufbau von Führungskompetenz im Umgang mit psychischer Belastung, Zugang zu niedrigschwelliger psychologischer Unterstützung sowie ein regelmäßiges Monitoring der Arbeitsbedingungen.
Handlungsempfehlungen der WHO
Verfolgen Sie eine Null-Toleranz-Politik gegenüber Mobbing, Belästigung und anderen Formen von Gewalt am Arbeitsplatz. Diese Maxime muss mit Strategien zur Entwicklung, Verbesserung und Förderung des Bewusstseins für organisatorische und gesetzliche Unterstützungsstrukturen einhergehen. Dazu zählen beispielsweise bessere Meldesysteme für Vorfälle. Die Strategien sollten eine langfristige Überwachung und Identifizierung von Risiken ermöglichen und die Einstellung gegenüber Gesundheits- und Pflegepersonal verbessern.
Es geht um eine Verbesserung der Vorhersehbarkeit und Flexibilität im Zusammenhang mit Schichtarbeit. Um den damit verbundenen Risiken für die psychische Gesundheit entgegenzuwirken, können Organisationen darauf hinarbeiten, die Unvorhersehbarkeit und Inflexibilität der Arbeitszeiten zu verringern und den Arbeitnehmern nach Möglichkeit mehr Kontrolle über ihre Arbeitszeitgestaltung zu geben. Förderung und Prävention können auch durch die Begrenzung aufeinanderfolgender Nachtschichten und langer Schichten, die Gewährleistung ausreichender Ruhezeiten sowie die Verbesserung anderer Schutzfaktoren – einschließlich sozialer Unterstützung, Einfluss auf die Arbeit und Unterstützungsstrukturen am Arbeitsplatz – erreicht werden.
Der Umgang mit Überstunden sollte im Einklang mit den Bedürfnissen und Ansprüchen der Beschäftigten im Gesundheitswesen erfolgn, während gleichzeitig die Normen und die Kultur am Arbeitsplatz neu definiert werden. Internationale und europäische Standards für Arbeitszeiten sollten von den Ländern durch legislative und politische Maßnahmen gefördert und durchgesetzt werden. Es sollten organisatorische Mechanismen eingesetzt werden, um die Überwachung von Überstunden und die Vergütung der geleisteten Arbeitszeit zu erleichtern. Das Ziel besteht darin, Kulturen zu verhindern, in denen Überstunden gefördert oder erwartet werden.
Um qualitativ hochwertige Gesundheitsdienstleistungen zu erbringen, muss die übermäßige Arbeitsbelastung bewältigt werden. Der Schwerpunkt muss dabei auf die Verbesserung der Personalausstattung und die Optimierung der Arbeitsabläufe gelegt werden. Dies kann durch die Neuorganisation der Dienstleistungen, die Anpassung des Qualifikationsmixes, den Einsatz digitaler Gesundheitstechnologien und die Straffung der Verwaltungsaufgaben erreicht werden.
Es geht darum, die Kompetenzen und Verantwortlichkeit von Führungskräften und Managern im Gesundheitswesen zu stärken, um die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden der Mitarbeiter zu fördern und zu schützen. Der Schutz der psychischen Gesundheit der Mitarbeiter sollte dabei zu einer wichtigen Leistungskennzahl werden.Manager und Führungskräfte sind für die Umsetzung der identifizierten Schutzfaktoren unerlässlich. Dazu gehören die Förderung der Unterstützung durch Kollegen, die Stärkung der Autonomie der Mitarbeiter und die Sicherstellung von Unterstützungs- und Feedbackmechanismen.
Machen Sie den Support im Bereich psychische Gesundheit und Substanzkonsum für alle Arbeitnehmer verfügbar und zugänglich, um frühzeitige Interventionen zu erleichtern. Die Unterstützung muss vertraulich sein, ohne Angst vor Konsequenzen in Anspruch genommen werden können und auf die Bedürfnisse und Präferenzen der Mitarbeitenden abgestimmt sein. Zusätzlich zur Unterstützung von Arbeitnehmern, die unter psychischen Problemen leiden, sollte auch Unterstützung für diejenigen verfügbar sein, die nach einer krankheitsbedingten Auszeit an ihren Arbeitsplatz zurückkehren. Dies sollte durch die Förderung von Versorgungspfaden und den Abbau von Hindernissen für die Inanspruchnahme von Hilfe, wie beispielsweise Stigmatisierung im Zusammenhang mit psychischen Problemen und Substanzkonsum, erleichtert werden.
Priorisieren Sie regelmäßige Bewertungen und Berichterstattungen zur psychischen Gesundheit sowie zu den Arbeitsbedingungen. Die Länder werden ermutigt, die psychische Gesundheit und die Arbeitsbedingungen auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene zu überwachen. Solche regelmäßigen Bewertungen können dabei helfen, Verantwortlichkeiten zu schaffen, den Dialog zwischen den Interessengruppen zu erleichtern, Lösungen zu finden und gleichzeitig die Fortschritte zu überwachen.
„Der Schutz der psychischen Gesundheit unserer Gesundheits- und Pflegekräfte ist nicht nur richtig – er ist für die Zukunft der Gesundheitsversorgung in Europa von entscheidender Bedeutung“, heißt es im Report. Denn nur wer psychisch gesund sei, könne sicher und empathisch behandeln.
Zwischen Oktober 2024 und April 2025 hat ein Forschungsteam Ärzte und Pflegekräfte in Europa über nationale Verbände online befragt. Die Befragten gaben auch Auskunft über Arbeitszeiten, Schichtdienste, Gewalterfahrungen und vorhandene Unterstützungsstrukturen. Der Report Mental Health of Nurses and Doctors (MeND) ist Teil der WHO-Initiative „Bewältigung psychischer Gesundheitsprobleme in der EU, Island und Norwegen“.