Europa muss mehr für die Mundgesundheit tun
Dem neuen WHO-Bericht zufolge hatten die insgesamt 53 Länder in Europa und Zentralasien der Europäischen WHO-Region mit 50,1 Prozent der erwachsenen Bevölkerung die höchste Prävalenz schwerer oraler Erkrankungen und mit 33,6 Prozent der Bevölkerung auch die höchste Prävalenz von Karies an bleibenden Zähnen in allen sechs WHO-Regionen weltweit. Sie hat zudem mit 25,2 Prozent den zweithöchsten Anteil an Zahnverlusten mit rund 88 Millionen Menschen im Alter von 20 Jahren oder älter. Dies entspricht einer Prävalenz von 12,4 Prozent, fast doppelt so hoch wie die weltweite Prävalenz von 6,8 Prozent.
Die Region wies demzufolge auch die zweithöchste geschätzte Zahl neuer Fälle von Mundhöhlenkrebs unter den WHO-Regionen auf, nämlich fast 70.000, was 18,5 Prozent der geschätzten Gesamtfälle weltweit ausmacht. Mehr als 26.500 Todesfälle waren dort 2020 auf Mundhöhlenkrebs zurückzuführen.
Zwar verzeichnet der neue WHO-Bericht auch einen Rückgang von von Milchzahnkaries bei Kindern im Alter von 1 bis 9 Jahren um 7,2 Prozent sowie einen Rückgang um 3,9 Prozent von Karies an bleibenden Zähnen in dieser Altersgruppe zwischen 1990 und 2019. Das Gesamtbild sei jedoch "äußerst besorgniserregend".
Die orale Versorgung in der Europäischen WHO-Region
Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat 193 Mitgliedsstaaten, davon gehören 53 Länder zur Europäischen Region der WHO. Von ihnen hatten 34 keine nationale Mundgesundheitspolitik, in elf Ländern gab es in im zuständigen Gesundheitsministerium kein eigenes Personal für Mundkrankheiten. Die orale Versorgung erfolgt größtenteils durch private Zahnärzte und ihre Dienste, so dass viele Patienten hohe Behandlungskosten haben, die sie aus eigener Tasche bezahlen müssen. Staatliche Programme und Versicherungen decken die Mundgesundheitsversorgung nur teilweise oder gar nicht ab. von den 53 Ländern gaben zehn weniger als 10 US-Dollar pro Person und Jahr für die Mundgesundheitsversorgung aus, bei 14 waren es zwischen 11 und 50 US-Dollar. „Dies ist äußerst problematisch, da Untersuchungen zeigen, dass Menschen mit dem größten Bedarf an Mundgesundheitsversorgung den geringsten Zugang zu den Dienstleistungen haben“, heißt es dazu in dem WHO-Bericht.
"Viele unserer grundlegenden menschlichen Funktionen – Sprechen und Kommunizieren, Essen, Atmen und nicht zuletzt Lächeln – hängen von einer guten Mundgesundheit ab", sagt Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa. "Unbehandelte Zahnkaries kann die Lebensqualität der Menschen in jedem Alter beeinträchtigen, ist aber in der Kindheit besonders schädlich, da sie Probleme verursacht, die ein Leben lang anhalten können. Bei Kindern beeinträchtigt Karies den Schulbesuch und die schulischen Leistungen."
Schwere unbehandelte Karies könne zudem die Ernährung und das Wachstum behindern. "In vielen Ländern mit hohem Einkommen ist die Extraktion kariöser Zähne unter Vollnarkose der Hauptgrund für Krankenhausaufenthalte von Kleinkindern", berichtet Kluge. "Bei Erwachsenen kann unbehandelte Karies eine der Hauptursachen für Fehlzeiten sein und die Lebens- und Arbeitsqualität beeinträchtigen. Die Mundgesundheit wirkt sich auf so viele Bereiche unseres Lebens aus, findet aber in der Gesundheitspolitik und in der Gesundheitsversorgung selten die Aufmerksamkeit, die sie verdient."
Ursachen für die Schäden
Mundkrankheiten werden laut WHO hauptsächlich durch Zuckerkonsum, Tabakkonsum, Alkoholkonsum, Traumata und mangelnde Mundhygiene verursacht. Auf politischer Ebene gehören zu den wichtigsten Faktoren:
die Verfügbarkeit von Substanzen mit hohem Zuckergehalt, insbesondere von zuckergesüßten Getränken;
aggressives Marketing für Substanzen mit hohem Zuckergehalt, insbesondere für Kinder, sowie für Tabak und Alkohol;
schlechter Zugang zu primären beziehungsweise kommunalen Mundgesundheitsdiensten;
eine unzureichende Versorgung mit Fluorid in der Wasserversorgung und in Mundhygieneprodukten wie Zahnpasta.
"Zahnkaries ist weltweit die häufigste nicht übertragbare Krankheit, aber das muss nicht sein. Wir wissen, was getan werden muss. Ziel dieses Berichts ist, Regierungen und Gesundheitsbehörden zu ermutigen, den Zugang zu einer sicheren, wirksamen und erschwinglichen Grundversorgung im Bereich der Mundgesundheit als Teil der nationalen allgemeinen Gesundheitsversorgung zu verbessern", betont Kluge. "Dies ist der beste Weg, um Ungleichheiten im Bereich der Mundgesundheit zu beseitigen, gleichzeitig mehrere nichtübertragbare Krankheiten zu bekämpfen und die Gesundheit der Bevölkerung insgesamt zu verbessern."
Was die WHO empfiehlt
Die wichtigsten WHOEmpfehlungen aus dem neuen Bericht an die Regierungen sind:
neue nationale Mundgesundheitsstrategien zu entwickeln, die mit der Globalen Mundgesundheitsstrategie der WHO und den nationalen Strategien zur Bekämpfung nichtübertragbarer Krankheiten (NCD) und zur allgemeinen Gesundheitsversorgung (UHC) in Einklang stehen;
im Gesundheitsministerium Personal und Mittel für Mundgesundheit bereitzustellen;
Maßnahmen zur Verringerung der Aufnahme von freiem Zucker umzusetzen, wie die obligatorische Nährwertkennzeichnung auf vorverpackten Lebensmitteln, Zielvorgaben zur Verringerung des Zuckergehalts in Lebensmitteln und Getränken zu definieren, Maßnahmen zur öffentlichen Beschaffung von Lebensmitteln zur Verringerung des Angebots an zuckerhaltigen Lebensmitteln durchzusetzen, Maßnahmen zu ergreifen zum Schutz von Kindern vor den schädlichen Auswirkungen des Lebensmittelmarketings und Steuern auf zuckergesüßte Getränke und zuckerhaltige Lebensmittel zu erheben;
die Mundgesundheitsversorgung in die primäre Gesundheitsversorgung auf allen Versorgungsebenen zu integrieren, mit der erforderlichen Personalausstattung, dem erforderlichen Qualifikationsmix und den erforderlichen Kompetenzen;
ein innovatives Personalmodell für die Mundgesundheit zu entwickeln, um den Bedürfnissen der Bevölkerung im Bereich der Mundgesundheit gerecht zu werden.
"Eine universelle Gesundheitsversorgung kann ohne Mundgesundheitsversorgung nicht erreicht werden", heißt es im Fazit des Berichts. Die Hauptbotschaft laute: "Nationale Krankenversicherungspakete müssen den Zugang zur Mundgesundheitsversorgung entweder kostenlos oder zu einem für die Menschen erschwinglichen Preis beinhalten."