Evolution von Krebszellen entschlüsselt
Krebs entsteht nicht von heute auf morgen. Es kann sehr lange dauern, bis auf der Basis krebsfördernder Veränderungen im Erbgut schließlich ein maligner Tumor entsteht. Forschende haben nun eine Methode entwickelt, die es erstmals ermöglicht, die zeitliche Entwicklung – die Evolution – von Körperzellen, von denen eine Krebsgefahr ausgeht, aus einer einzelnen Gewebeprobe zu rekonstruieren.
Aggressiv wachsende Klone frühzeitig erkennen
DKFZ-Forscher Thomas Höfer und sein Team haben es sich zum Ziel gesetzt, die Evolution von Krebszellen nachzuvollziehen. „Unsere Vision ist eine neue Art der Krebsfrüherkennung. Jahrzehnte können nach dem initialen Ereignis – einer Mutation im Erbgut – vergehen, bis ein sichtbarer Tumor entsteht. Das heißt, es verstreicht viel Zeit, in der man vielleicht die Möglichkeit hätte, zu intervenieren und die Entwicklung hin zur manifesten Krebserkrankung zu stoppen.“ Die Forscherinnen und Forscher haben jetzt mit SCIFER – so heißt das von ihnen entwickelte Verfahren – einen ersten Schritt in diese Richtung gemacht.
Damit ist es gelungen, die Evolution von Zellklonen, also den von einer Zelle abstammenden Zellverbänden, im menschlichen Organismus zu rekonstruieren. Das Verfahren kann aggressiv wachsende Klone frühzeitig erkennen. Ausgangspunkt sind Mutationen – Veränderungen im Erbgut, die sich ständig spontan ereignen. Im Laufe der Zeit sammeln sich hunderte Mutationen in einzelnen Zellen an, und die so entstehenden Mutationsmuster dienten dem Team als Wegweiser bei der Entschlüsselung der Zellevolution.
„Die überwiegende Zahl dieser Mutationen ist selektiv neutral, bringt der Zelle also weder Vorteil noch Nachteil. Wenn sich jedoch eine krebsfördernde Mutation ereignet, die eine Zelle fitter macht, verändert das mit der Zeit das Muster der vielen neutralen Mutationen,“ sagt Höfer. „Aus dieser Veränderung, die sich sehr gut messen lässt, können wir zurückverfolgen, wann die krebsfördernde Mutation entstanden ist, und wie schnell der entsprechende prämaligne Zellklon wächst. Wir können aus einer einzigen Blut- oder Gewebeprobe den zeitlichen Verlauf zurückrechnen.“
Ein Onkogen macht noch keinen Krebs
Letzteres ist etwa der Fall, wenn in einer Zelle infolge Mutation ein sogenanntes Onkogen angeschaltet wird. Das sind Gene, die das Potenzial haben, Krebs zu fördern. Normalerweise sind Onkogene abgeschaltet beziehungsweise werden allenfalls ab und zu kurzfristig aktiviert. Infolge Mutation kann es jedoch passieren, dass Onkogene dauerhaft angeschaltet bleiben, was das Risiko der Krebsentstehung erhöht.
Aber ein einzelnes, aktiviertes Onkogen macht in der Regel noch keinen Krebs. Meist müssen mehrere krebsfördernde Mutationen zusammenkommen, wobei auch nichtgenetische Faktoren eine Rolle spielen können. Zum Beispiel ist bekannt, dass Entzündungen im Umfeld von Zellen – im Mikroenvironment – das Entartungsrisiko erhöhen können.
Im nächsten Schritt wollen die Forscher herausfinden, welche Selektionsfaktoren Zellen mit aktivierten Onkogenen weiter in Richtung maligne Entartung treiben, und welche Faktoren in der Lage sind, diesen Prozess aufzuhalten. Die Vision des Teams ist, an dieser Stellschraube anzusetzen, um neuartige Strategien zu entwickeln, diesen Prozess zu unterbrechen.
SCIFER ist in Kooperation mit dem Hämatologen Paresh Vyas und seiner Arbeitsgruppe an der Universität Oxford entstanden, die Knochenmarksproben gesunder Probanden beigesteuert haben, um die Methode umfassend zu testen und auf reale Daten zuzuschneiden. Vyas nennt als Beispiel das myelodysplastische Syndrom (MDS), eine Störung blutbildender Stammzellen des Knochenmarks, die in eine sehr schwer behandelbare akute myeloische Leukämie übergehen kann. Aber längst nicht alle MDS-Patienten entwickeln eine Leukämie, weshalb viel gewonnen wäre, wenn man Risikopersonen treffsicher identifizieren könnte, um dann gezielt zu intervenieren. Thomas Höfer hält es für realistisch, dass die SCIFER-gestützte Erforschung der Zellevolution mit Blick auf diese und auch andere Blutkrebserkrankungen in absehbarer Zeit zu medizinisch verwertbaren Ergebnissen führen könnte.
Körber, V., Jakobsen, N.A., Ansari-Pour, N. et al. Detecting and quantifying clonal selection in somatic stem cells. Nat Genet (2025). doi.org/10.1038/s41588-025-02217-y