Gegenseitiges Verstehen
"Viele Menschen mit Migrationshintergrund finden im Vergleich zur übrigen Bevölkerung einen schlechteren Zugang zum Gesundheitssystem“, stellt der Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Wolfgang Zöller (CDU), fest. Sie nehmen Präventions- und Aufklärungsangebote seltener wahr als Deutsche, wohingegen sie Notfallhilfen überproportional oft in Anspruch nehmen.
Kommunikationsprobleme bedingen außerdem häufiger Fehldiagnosen und -medikationen. Bei Zahngesundheit, Durchimpfungsraten, Säuglingssterblichkeit oder Rehabilitationsmaßnahmen liegen sie unter dem Bundesdurchschnitt.
Migranten stellen also die Gesundheitsversorgung vor besondere Herausforderungen. Hier spielen spezifische, aber auch kulturelle und soziale Faktoren eine Rolle. Mangelnde Sprachkenntnisse - insbesondere was medizinische und zahnmedizinische Begriffe betrifft -, ein anderes Verständnis von Krankheit und Gesundheit und eine abweichende Auffassung von der Rolle des Arztes zählen zu den Hauptschwierigkeiten, mit denen sich die behandelnden Mediziner auseinandersetzen müssen.
"In Deutschland ist es mittlerweile Praxisalltag, dass niedergelassene Zahnärzte auf Patienten mit unterschiedlichem religiös-kulturellen und sprachlichen Hintergrund treffen“, sagt Dr. Sebastian Ziller, Leiter der Abteilung Prävention und Gesundheitsförderung der Bundeszahnärztekammer (BZÄK).
Mundgesundheit von Migranten
Obwohl viele Migranten schon sehr lange, zum Teil in der zweiten und dritten Generation, hier leben, partizipierten sie in deutlich geringerem Umfang an der kontinuierlichen Verbesserung der Mundgesundheit im Vergleich zur deutschen Bevölkerung, sagt Ziller: "Sie haben beispielsweise ein erhöhtes Kariesrisiko und ein schlechteres Mundhygieneverhalten.“
Das zeigen auch mehrere Studien. Im "Spezialbericht Zahngesundheit der Kinder“ des Bezirksamts Berlin-Mitte schneiden Migranten in allen untersuchten Kategorien schlechter ab als deutsche Kinder. Sowohl was das Kariesrisiko als auch den Zahnstatus betrifft, zeigen sie durchweg schlechtere Werte.
Zu ähnlichen Ergebnissen kommt das niedersächsische Integrationsministerium. Kinder und Jugendliche mit einem beidseitigen Migrationshintergrund weisen ein ungünstigeres Mundgesundheitsverhalten auf, heißt es im Bericht "Interkulturelle Öffnung im Gesundheitssystem“. Vor allem Kinder und Jugendliche aus der Türkei, der ehemaligen Sowjetunion und aus arabisch-islamischen Ländern tragen demnach ein erhöhtes Risiko für Karies.
Kinder mit Migrationshintergrund haben eine höhere Kariesprävalenz als der Durchschnitt, belegt der Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS) des Robert Koch-Instituts. Diese Gruppe wird mit den vorhandenen präventiven Ansätzen nicht erreicht, heißt es in der Studie. Unabhängig von der sozialen Schicht ist das Zahnpflegeverhalten bei migrantischen Kindern und Jugendlichen durchgängig schlechter als bei nicht-migrantischen.
Außerdem liegt bei Migranten zwischen drei und 17 Jahren der Anteil derer, die seltener als einmal im Jahr zur Zahnarztkontrolle gehen, bei gut 16 Prozent - im Vergleich zu sechs Prozent bei Nicht-Migranten. Eine umfassende Studie, die die Mundgesundheit von Migranten aller Altersklassen deutschlandweit untersucht, gibt es allerdings nicht.
Ziller sieht mehrere Gründe für die schlechtere Mundgesundheit von Migranten: "Viele Familien mit Migrationshintergrund haben einen niedrigen sozioökonomischen Status. Auch der kulturelle Hintergrund spielt eine Rolle, wie die KiGGS-Studie zeigt. Zudem stehen Sprachbarrieren zu Ärzten, Informations- und Wissensdefizite einer besseren Mundgesundheit im Weg.“
Nach Angaben des Deutschen Roten Kreuzes sind vielen Familien mit Zuwanderungsgeschichte die Gefahr von Karies und die Möglichkeit von Präventionsmaßnahmen oft nicht bewusst. Dies sei auch häufig bei Familien aus bildungsfernen Schichten der Fall.
Verständnis und Verständigung
Doch was kann der Zahnarzt konkret in seiner Praxis unternehmen, um besser auf die Bedürfnisse von migrantischen Patienten einzugehen und letztlich ihre Mundgesundheit zu verbessern? Das Wichtigste sei, sich ausreichend Zeit für diese Patienten zu nehmen, sagt Ramazan Salman, Gründer des Ethno-Medizinischen Zentrums (EMZ) in Hannover.
Salman sieht für den Zahnarzt, folgend aus einem guten Arzt-Patienten-Verhältnis, auch ökonomische Gründe, sich auf migrantische Patienten einzustellen - bei einem Migrantenanteil von knapp 20 Prozent an der Gesamtbevölkerung in Deutschland. "Man sollte diesen Patientenkreis nicht aus dem Visier lassen“, sagt er. Migranten seien durchaus bereit, Geld für medizinische Leistungen auszugeben - wenn ihnen im Vorfeld Anamnese, Untersuchung und Behandlungsverlauf klar erklärt werden.
"Dabei geht es nicht nur darum, besondere "Problemgruppen" in die Behandlungswege einzuschließen, sondern gerade bei den Zahnärzten um intelligente und wichtige Punkte, wie Verbesserung der Behandlungsergebnisse, Selbsterhaltung und Patientenbindung“, ergänzt Dr. Elif Cindik, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und Mitglied des bundesweiten Arbeitskreises "Migration und öffentliche Gesundheit". Eine Verbesserung der eigenen therapeutischen Fähigkeiten helfe dem Mediziner dabei, ein guter Arzt im Wettbewerb zu sein.
Um eine reibungslose Kommunikation sicherzustellen, könnte der Zahnarzt beispielsweise auch mehrsprachiges Praxispersonal einstellen, das die Patienten aufklärt und damit für eine gute Compliance sorgt.
"Es geht nicht darum, dass Ärzte Kisuaheli oder andere fremde Sprachen lernen müssen oder die eigenen Wertmaßstäbe über den Haufen werfen sollen“, räumt Cindik mit möglichen Missverständnissen auf. 2Vielmehr geht es darum, dass wir mit Menschen aus anderen Kulturen andere Kommunikationscodes haben könnten und damit die Compliance schwieriger wäre, wenn wir sie nicht in der Behandlung ins Boot holen und gut aufklären beziehungsweise dafür sorgen, dass sie Präventionsmaßnahmen ausreichend häufig in Anspruch nehmen.“
Dafür kann der Zahnarzt beispielsweise Broschüren in seiner Praxis bereithalten, die in den Sprachen der größten Migrantengruppen (Türkisch, Serbokroatisch, Russisch) den Patienten einfache Handlungsanweisungen mit auf den Weg geben - sei es zur richtigen Zahnpflege oder zum korrekten Verhalten nach einer Wurzelbehandlung. Cindik sieht hier auch staatliche Stellen wie die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in der Pflicht, den Zahnmedizinern solche fremdsprachigen Broschüren zur Verfügung zu stellen, da eine Einzelpraxis nur über begrenzte Ressourcen verfügt.
"In Fort- und Weiterbildungen von Entscheidungsträgern kommt der Umgang mit migrantischen Patienten bislang viel zu kurz“, erklärt Cindik. Hier sei ein Ausbau überfällig, viele Zahnärztekammern würden noch gar nichts in diese Richtung anbieten. Die BZÄK hat zu diesem Thema gerade beschlossen, dass sich die Mundgesundheit und das Gesundheitsverhalten von Migranten in der Aus- und Fortbildung widerspiegeln sollte.
Insgesamt hält es Cindik für wichtig, etwaige Schwierigkeiten mit Patienten mit Migrationshintergrund nicht nur in Bezug auf die Herkunft, sondern auch auf den sozioökonomischen Status zu sehen. Vergleiche man deutsche und migrantische Patienten mit einem niedrigen Einkommens- und Bildungsniveau miteinander, gebe es hier ähnliche Probleme, was Zahnpflege und Compliance betrifft.
Die Politik reagiert
Auch Politik und Standesvertretung haben den Wert migrationsspezifischer Maßnahmen bei der Mundgesundheit erkannt. Im "Nationalen Aktionsplan Integration“ der Bundesregierung wird die Verbesserung der Mundgesundheit von Kindern und Jugendlichen, insbesondere mit Migrationshintergrund, als Ziel ausgegeben.
Dazu will man mehrsprachige und zielgruppenspezifische Ausklärungsangebote verstärken, zum Beispiel Programme für besonders kariesgefährdete Kinder im Rahmen der Gruppenprophylaxe aufsetzen, gezielter (werdende) Mütter ansprechen, eine aufsuchende Mundgesundheitsaufklärung im häuslichen Umfeld der Familien einrichten und Aufklärungsbroschüren in türkischer Sprache ausgeben.
Drüber hinaus will die Bundesregierung erreichen, dass Migranten häufiger und regelmäßiger die Individualprophylaxe in Anspruch nehmen. Das soll auch über die Zahnärzte mittels Fort- und Weiterbildung geschehen. Die KZBV hat kürzlich Patienteninformationen zu den Themen Praxisgebühr, Vollnarkose, Wurzelkanalbehandlung und Kostenerstattung auf Türkisch und Russisch auf ihre Homepage gestellt. Die BZÄK sichtet gerade ihre Informationsmaterialien zur Mundgesundheit, um dann geeignete Inhalte zu übersetzen.
Bereits im Jahr 2005 startete die Berliner Zahnärztekammer in Charlottenburg ein Kiezprojekt. In der Hauptstadt liegt der Migrantenanteil an der Gesamtbevölkerung bei knapp 26 Prozent. Auch die Straßen um den Klausenerplatz, wo das Vorhaben durchgeführt wurde, haben einen hohen Migrantenanteil und eine schwache sozioökonomische Struktur.
Als Streetworker unterwegs
Ziel des Projekts war, Maßnahmen zu testen, um möglichst viele Eltern, die nicht die üblichen Informationsangebote annehmen, zu erreichen und für die Zahngesundheit ihrer Kinder zu sensibilisieren. "Wenn wir quasi als Streetworker für die Mundgesundheit auftauchten, bei Bedarf unterstützt von türkischsprachigen Mitakteuren, waren wir geradezu von einer Woge an Sympathie und Aufmerksamkeit umgeben“, bilanziert Dr. Sylvia Neubelt vom Zahnärztlichen Dienst die Einsätze.
Wenig erfolgreich waren dagegen Veranstaltungen wie der Tag der offenen Praxistür oder Informationsabende im Kiezbüro. Aufsuchende Maßnahmen versprechen also einen viel höheren Erfolg als Projekte, wo Eigeninitiative gefragt ist.
Die eigene Kultur ist nicht die Norm
Aufgrund der demografischen Entwicklung in Deutschland und ganz Europa rechnen Experten damit, dass die von den Regierungen erwünschte Zuwanderung in den kommenden Jahren und Jahrzehnten zunehmen wird. Somit steigt auch der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund bei uns. Allein wegen dieser sich verändernden "Kundenstruktur“ kann es sich der Zahnarzt in Zukunft kaum leisten, auf diese Patienten nicht einzugehen. Bereits machen in manchen Stadtteilen Migranten über 50 Prozent der Patienten aus.
Auf diesen Hintergrund muss sich der Zahnarzt einstellen. "Wichtig ist, die Andersartigkeit von Kultur nicht als etwas Befremdliches wahrzunehmen“, sagt Ramazan Salman. „Die eigene Kultur ist sicher ein Maßstab, aber sie ist nicht die Norm, an der sich alle orientieren müssen. Das Ziel ist, die andere Kultur zu verstehen und zu respektieren.“