Hirnschaden als Heilmethode
Manche Ärzte werden für ihre Errungenschaften berühmt. Namen wie Rudolf Virchow, Alexander Fleming oder Robert Koch zählen auf ewig zur „Hall of Fame“ der Heilkunst. Andere stehen für die Irrwege der Medizingeschichte. Nach ihnen wird niemals ein Institut benannt. Solch ein Fall ist Dr. Walter J. Freeman.
Der US-amerikanische Psychiater, Sprössling einer renommierten Medizinerfamilie, wurde in den 1940er Jahren zum prominentesten Verfechter der Lobotomie. Zwischen 1936 und 1967 unterzog er bis zu 3.500 Menschen einer Radikalmethode, die aus Freemans Sicht die Probleme der Psychiatrie gründlich lösen sollte: schnell, billig, einfach.
Der Mann mit dem Eispickel
Tatsächlich sahen viele in dem Arzt mit den runden Brillengläsern und dem markanten Kinnbart zunächst einen ersehnten Wunderheiler. Die psychiatrische Chirurgie erhielt weltweit Einzug in den Mainstream der medizinischen Praxis. Und für eine gewisse Zeit war Freeman, der teilweise mit einem handelsüblichen Eispickel operierte und in seinem „Lobomobil“ durchs Land tourte, einer der bekanntesten Ärzte der USA. Erst später wurde aus dem Ruhm Entsetzen.
„Lobotomie bringt sie nach Hause“ - mit diesem Slogan warb der begnadete Selbstdarsteller Freeman für eine chirurgische Technik, die aus Psychiatriepatienten ohne Heilungschancen wieder funktionierende Mitglieder der Gesellschaft machen sollte. Die Methode entstand auch aus der Verzweiflung heraus. Die staatlichen Psychiatrie-Einrichtungen der 1920er und 30er Jahre waren meist reine Verwahrungsanstalten für Menschen mit Geisteserkrankungen.
Moderne Neuroleptika und Antidepressiva standen noch nicht zur Verfügung. Die Ausstattung der Häuser war katastrophal, das schlecht bezahlte Personal heillos überfordert. Vernachlässigung und Gewalt prägten den Krankenhausalltag.
Bilder aus den Kliniken schockieren
1946 schockte eine Reportage mit dem Titel „Bedlam“ (Tollhaus) die US-amerikanische Öffentlichkeit. Der Bericht aus dem Magazin „Life“ zeigte nackt auf dem Boden gekrümmte Gestalten und apathische, unterernährte Patienten zweier Staatskrankenhäuser. Die Psychiatriekrise war ein flächendeckendes Problem: Der Artikel spricht von „400.000 unschuldigen Patienten-Gefangenen aus über 180 staatlichen psychiatrischen Kliniken“. Ähnliche Zustände fand Walter Freeman vor, als er als 29-Jähriger die Leitung des St. Elisabeth Krankenhauses in Washington übernahm.
Zur Behandlung der menschlichen Psyche wurden damals Praktiken angewendet, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Auf der einen Seite erlebte die Psychoanalyse nach Sigmund Freud eine Blüte. Hier stand die Enträtselung der Seele im analytischen Gespräch im Vordergrund.
Auf der anderen experimentierte man bei der Behandlung von Schizophrenie und Depression mit Brachialtherapien durch Elektro-Konvulsion, Insulin- oder Pentetrazol-Schock. Die starke Reizkonfrontation zeigte bei manchen Krankheitsbildern durchaus Wirkung. So wird die Elektrokrampftherapie bis heute bei schweren, therapieresistenten Erkrankungen eingesetzt. Die Bundesärztekammer bewertet die Methode positiv.
Verheerende Experimente am Patienten
In den 1930er Jahren jedoch steckte die Schockpraxis noch in der Experimentierphase, die Sicherheitsbestimmungen und technischen Gegebenheiten waren schlecht. Immer wieder kamen Patienten durch motorische Krämpfe zu Schaden, bis hin zu Knochenbrüchen. Die Insulin-Koma-Therapie hinterließ teils irreversible Zerstörungen in Geist und Erinnerung und führte sogar zum Tod von Patienten. Dennoch war mit den rabiaten Anwendungen die Hoffnung verbunden, gegen das Elend der psychiatrischen Einrichtungen zumindest irgendein Konzept zur Hand zu haben - sei es auch noch so gefährlich und ethisch fragwürdig.
An einer weiteren Extremmethode forschte der portugiesische Neurologe Egas Moniz - auch er ein Anti-Freudianer. Moniz begann 1935, an psychisch Kranken Hirnoperationen vorzunehmen, um sie angeblich von Wahnvorstellungen zu befreien. Moniz taufte sein Verfahren Leukotomie: von „leukos“ (weiß) und „tome“ (Schnitt/schneiden), dem Eingriff in die weiße Substanz des Gehirns.
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Eingriffe ins Gehirn
Dabei wurde die Schädeldecke der Patienten trepaniert, ein eingeführtes Schneidewerkzeug durchtrennte Nervenbahnen zwischen Stirnlappen und Thalamus. Die Zerstörungen in der präfrontalen Gehirnregion erfolgten blindlings oder mit geringer Sichtkontrolle. Laut Moniz galten sie falsch verwachsenen Nervenfasern, welche psychische Störungen verursachten. Hirnschaden als Heilmethode.
Als Walter Freeman von den psychochirurgischen Eingriffen des portugiesischen Arztes las, war er wie besessen von der Idee, die Technik als Erster in den USA auszuprobieren. Wie sein Mentor Moniz glaubte Freeman, viele Erkrankungen der Psyche auf rein organische Ursachen zurückführen zu können. Diesen Fehlfunktionen des Nervenapparats wollte er mit Bohrer und Messer zu Leibe rücken und so zum medizinischen Pionier werden.
In dem Neurochirurgen James Watts fand Freeman einen erfahrenen Partner für die Eingriffe. Denn Freeman selbst hatte keine chirurgische Ausbildung. Die beiden übten zunächst an Leichen, bis sie 1936 an der 63 Jahre alten Hausfrau Alice Hammatt die ersten Schnitte ins Hirn vornahmen. Hammatt litt an Ängsten und Depressionen. Sie und ihr Ehemann gaben das Einverständnis zur Operation. Um sich von Moniz abzuheben, taufte Freeman sein Verfahren Lobotomie, nach „lobus“, dem Stirnlappen.
Erste OPs an Leichen
Die aus heutiger Sicht sehr fragwürdige Praktik markiert für Freeman den Beginn einer exzentrischen Karriere. 1942 hatten er und Kollege Watts bereits über 200 Menschen operiert. Die beiden Mediziner veröffentlichten eine Monografie zu ihrer Arbeit. Freeman versorgte die Presse von Anfang an mit Erfolgsmeldungen zur scheinbar bahnbrechenden neuen Therapie. Auch fotografierte er exzessiv im Operationssaal und drehte seine eigenen Lehrfilme. Ausschnitte dieses Materials finden sich heute auf Youtube.
Laut Freemans eigener Angaben profitierte der Großteil seiner Patienten angeblich deutlich von der Hirnchirurgie (63 Prozent). Bei 23 Prozent stellte er keinerlei Veränderung fest, bei 14 Prozent eine Verschlechterung. Freemans Bewertung des „Heilungserfolgs“ bezog sich dabei vor allem auf die äußerliche Unauffälligkeit der Behandelten nach der Lobotomie.
Menschen, die vorher hospitalisiert worden waren, konnten nun - abgestumpft, aber pflegeleicht - wieder zu Hause leben. Dass mit ihren extremen Erregungszuständen auch allgemein ihre Energie, ihre Persönlichkeit verschwand, störte Freeman nicht. Ihm ging es nicht um die Lebensqualität der Operierten, um ihre Fähigkeit zur sozialen und intellektuellen Teilhabe, sondern um reine Funktionalität im Alltag. „Von einer erfolgreichen Lobotomie zu reden ist so, wie von einem erfolgreichen Autounfall zu sprechen“, kommentierte Freemans Sohn Franklin später.
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Hirnverletzungen mit dem Hammer - "wie ein erfolgreicher Autounfall"
Mit der „transorbitalen Lobotomie“ veränderte Freeman ab 1946 seine Technik. Statt die Schädeldecke zu öffnen, schob er nun ein Eispickel-ähnliches Instrument zwischen Lid und Augapfel (zu Beginn war es tatsächlich ein Eispickel aus Freemans Küchenschublade). Mit dem Schlag eines Hämmerchens durchstieß das sogenannte Leukotom den dünnen Schädelknochen (Orbita) und drang in den Stirnlappen vor. Durch schwenkende Bewegungen verletzte Freeman das Hirngewebe. Die Prozedur wiederholte er am anderen Auge. Wegen der zurückbleibenden Hämatome empfahl der Arzt den frisch Lobotomisierten, eine Sonnenbrille zu tragen.
Die vereinfachte Methode erforderte nicht mehr die Hilfe eines Neurochirurgen und den Einsatz von Anästhesie. Stattdessen betäubte Freeman seine Patienten mit Elektroschocks. Die dazu benötigten Gerätschaften konnte er jederzeit bei sich tragen, einen Operationssaal hielt er nicht mehr für nötig. Eine Abneigung gegen steriles Arbeiten hatte er schon immer verspürt.
„All that germ crap“ – „dieser ganze Bakterien-Unsinn“, schimpfte er und verzichtete meist auf sterile Handschuhe, Kittel oder Mundschutz. Freemans leichtfertiges chirurgisches Vorgehen war letztlich zu viel für den doch eher konservativen Mediziner James Watts. 1950 distanzierte sich Watts von seinem langjährigen OP-Partner und dessen zunehmender Radikalität.
Doch aus dem „Lobotomisten“ wurde ein regelrechter Star-Mediziner. Der ambitionierte Freeman arbeitete daran, seine transorbitale Lobotomie zur erfolgreichen Marke zu machen und mit der Technik in „Massenproduktion“ zu gehen. Er operierte in Hörsälen, vor TV-Kameras und reiste mit seinem „Lobomobil“ zu Nervenheilanstalten, deren überlastetes Personal ihn sehnlichst erwartete.
Freemans Traum: die kostensparende, minutenschnelle Technik allen Psychiatern zugänglich zu machen. Hatte Freeman die Operation zu Beginn noch als letzten Ausweg für therapieresistente Schwerkranke gesehen, propagierte er nun ihre möglichst frühe Anwendung, um eine Chronifizierung der Symptome zu verhindern. Auch mit der Einverständniserklärung von Patienten und deren Angehörigen nahm er es längst nicht mehr genau.
Nobelpreis für Hirnschneiderei
Während Freeman immer skrupelloser vorging, boomte die Hirnschneiderei. Und zwar nicht nur in den USA, sondern auch in Südamerika, Europa oder Asien. Zehntausende Menschen wurden bis in die 1950er Jahre weltweit einer Lobotomie unterzogen, schätzt der Neurowissenschaftler Elliot Valenstein in seinem Buch zum Aufstieg und Niedergang der Psychochirurgie. Vereinzelt soll es bis in die 70er Jahre derartige Operationen gegeben haben, teils unter Zwang durchgeführt.
Der Nobelpreis, den Egas Moniz 1949 „für die Entdeckung des therapeutischen Wertes der präfrontalen Leukotomie bei gewissen Psychosen“ erhielt, adelte die Technik. Freeman selbst wurde in Fachkreisen zwar heftig kritisiert, manchmal sogar beschimpft.
Doch die Öffentlichkeit erfuhr nichts von den Bedenken der Medizinerschaft. Sie glaubte nur zur gern Freemans eigener PR: dass es möglich sei, die Menschheit von psychischen Defekten zu befreien. Lobotomie für alle. Walter Freeman erhielt zahlreiche Anfragen von Schmerz- oder Angstpatienten und deren Angehörigen. Andere wollten von Depression oder Alkoholismus geheilt werden. Vielen erschien der Arzt als eine Art Halbgott, der den Eispickel schwingt und Autogrammkarten verteilt. Und das, obwohl es durch seine Behandlungen neben körperlichen und geistigen Schäden immer wieder zu Todesfällen kam, etwa nach Infektionen. Einmal rutschte dem Nervenarzt auch einfach die Stahlnadel aus, als er ein Operationsfoto machen wollte.
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Das erste prominente Opfer: Rosemary Kennedy,
Freemans prominentestes Opfer wurde Rosemary Kennedy, eine Schwester von John F. Kennedy. Vater Joseph ließ die 23-Jährige ohne Wissen der Mutter lobotomisieren, da sie aus seiner Sicht Auffälligkeiten zeigte. Der prominente Geschäftsmann fürchtete, seine schwer zu bändigende Tochter könne das Ansehen der Familie beschädigen – etwa durch eine ungewollte Schwangerschaft. Der Eingriff verwandelte Rosemary Kennedy in einen Pflegefall. Den Rest ihres Lebens verbrachte sie abgeschoben in einer Heilanstalt.
Der Großteil von Freemans Patienten war weiblich. Diese Auffälligkeit findet sich auch bei Egas Moniz. Zum einen wurde weibliches „Fehlverhalten“ damals schneller pathologisiert. Zum anderen ließen sich Frauen nach einer Lobotomie vermeintlich leichter in den Alltag integrieren.
Während seiner Laufbahn operierte Walter Freeman auch 19 Minderjährige, darunter einen Vierjährigen und ein sechs Jahre altes Mädchen. Manchmal genügte schon jugendliche Aufmüpfigkeit oder aggressives Verhalten, um mit der Diagnose Schizophrenie verurteilt zu werden.
So erging es Howard Dully, dessen Stiefmutter Probleme mit der Erziehung des Zwölfjährigen hatte und bei Dr. Freeman vorstellig wurde. Wie immer fotografierte Freeman seine Prozedur. Das Bild zeigt einen bewusstlosen Jungen mit geöffnetem Mund, aus dessen Augenhöhle ein langer Metallstab ragt. Dully, der mit „My Lobotomy“ seine Autobiografie veröffentlichte, erklärte später, beim Anblick dieses Fotos jedes Mal Verlust zu empfinden. Es ist die Trauer über die Zerstörung von etwas, das sich nicht einmal richtig lokalisieren oder benennen lässt.
Der Niedergang Freemans
Mitte der 1950er Jahre begann Freemans Stern langsam zu sinken. Erste Studien zur heilerischen Nutzlosigkeit und den verstümmelnden Folgen der Lobotomie erschienen. Gleichzeitig tauchte unter dem Namen Thorazine ein neues Medikament auf, das als „chemische Lobotomie“ vermarktet wurde. Die staatlichen Krankenhäuser stellten ihre psychochirurgischen Programme ein und setzten auf Pharmazeutika. Ihre Patientenzahlen sanken. Die kommenden Hoffnungsträger hießen Lithium oder Diazepam. Nur Freeman glaubte weiterhin an seine Methode. Von jetzt an operierte er auf privater Basis.
Nach dem Tod einer Patientin entzogen die Behörden Freeman 1967 seine Zulassung. Bis zuletzt weigerte er sich, die eigenen Fehler zu erkennen. Stattdessen reiste der nun geächtete Mediziner quer durch die USA, um seine früheren Patienten aufzuspüren. Freeman wollte unbedingt Belege für deren Wohlergehen sammeln.
Aus dem Mann mit einer Rettungsmission wurde jemand, der selbst Erlösung suchte. Er habe Freeman erst als Monster gesehen, gesteht sein Biograf Jack El-Hai („The Lobotomist“). Später als tragische Figur. Denn der Arzt glaubte wirklich, ein neuropsychiatrisches Allheilmittel gefunden zu haben. Kritikern hielt er die unzähligen Dankeskarten entgegen, die ihm Patienten geschrieben hatten.
Die Psychochirurgie ist nicht verschwunden. Doch mit dem bedenkenlosen Erzeugen von Hirndefekten hat die heutige Präzisionsmedizin nichts mehr zu tun. Inzwischen steht die Tiefenhirnstimulation im Vordergrund der Forschung. Dabei werden zum Beispiel Hirnschrittmacher bei der Behandlung von Parkinson, Epilepsie, aber auch therapieresistenten Zwangserkrankungen eingesetzt. Vom Erbe des Dr. Walter Freeman bleibt den medizinischen Disziplinen nur eine Warnung: das menschliche Gehirn niemals als Experimentierfeld und Showbühne zu missbrauchen.
Jack El-Hai: The Lobotomist: A Maverick Medical Genius and His Tragic Quest to Rid the World of Mental Illness
Howard Dully, Charles Fleming: My Lobotomy
Elliot S. Valenstein: Great and Desperate Cures. The Rise and Decline of Psychosurgery and Other Radical Treatments for Mental Illness