Kieferorthopädie: Neue Daten widerlegen Überversorgung
Etwa 40 Prozent der acht- und neunjährigen Kinder in Deutschland weisen einen kieferorthopädischen Behandlungsbedarf auf, der nach den Richtlinien der vertragszahnärztlichen Versorgung therapiert werden sollte. Ein Vergleich mit entsprechenden Abrechnungsdaten unterstreicht, dass sich dieser Behandlungsbedarf weitgehend mit der Versorgungsrealität deckt und es in diesem Bereich – anders als immer wieder im gesundheitspolitischen Bereich behauptet – keine Unter- oder gar Überversorgung gibt.
Diese Daten sind Ergebnisse des Forschungsprojektes „Zahn- und Kieferfehlstellungen bei Kindern“ und werden als „kieferorthopädisches Modul“ in die sechste Deutsche Mundgesundheitsstudie (DMS 6), mit der Daten zur Mundgesundheit in Deutschland systematisch erhoben werden, integriert. Die Ergebnisse wurden gestern auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kieferorthopädie e.V. (DGKFO) präsentiert und am heutigen Tag im Rahmen einer Pressekonferenz durch das Institut der Deutschen Zahnärzte (IDZ) gemeinsam mit der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV), der Bundeszahnärztekammer (BZÄK) und der DGKFO erstmals einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt. Zahnfehlstellungen und Kieferanomalien bei Kindern waren in diesem Umfang seit mehr als 30 Jahren nicht mehr flächendeckend ermittelt worden.
Zahn- und Kieferfehlstellungen gehören zu den häufigsten Gesundheitsbeeinträchtigungen der Mundhöhle
Für die Studie wurde untersucht, wie verbreitet Zahn- und Kieferfehlstellungen bei acht- und neunjährigen Kindern in Deutschland sind und welcher kieferorthopädische Versorgungsbedarf daraus entsteht. Darüber hinaus wurden die Zusammenhänge zwischen Zahn- und Kieferfehlstellungen und der mundgesundheitsbezogenen Lebensqualität sowie Karieserkrankungen beleuchtet. Die neue Studie ist das erste Modul der Sechsten Deutschen Mundgesundheitsstudie (DMS 6), mit der die Mundgesundheit in Deutschland systematisch beurteilt wird.
„Wir haben uns auf acht- und neunjährige Kinder konzentriert, weil danach besonders schwere Erkrankungsformen bereits im Rahmen einer sogenannten Frühbehandlung therapiert werden und dann der ursprüngliche Gebisszustand für epidemiologische Untersuchungen nicht mehr zugänglich ist”, erklärte Prof. Dr. A. Rainer Jordan, wissenschaftlicher Direktor des IDZ, das Studiendesign, das gemeinsam mit der DGKFO entwickelt wurde:
Zusammengefasste Ergebnisse
Der Anteil der Kinder, bei denen nach den Richtlinien der gesetzlichen Krankenversicherung eine kieferorthopädische Behandlung angezeigt ist, liegt bei 40,5 Prozent:
10,0 Prozent der Kinder weisen ausgeprägte Zahnfehlstellungen auf, die aus medizinischen Gründen eine Behandlung erforderlich machen,
Ein Viertel der Kinder weisen stark ausgeprägte Zahnfehlstellungen auf, die aus medizinischen Gründen dringend eine Behandlung erforderlich machen und
5,0 Prozent der Kinder weisen extrem stark ausgeprägte Zahnfehlstellungen auf, die aus medizinischen Gründen unbedingt eine Behandlung erforderlich machen.
Die kieferorthopädische Indikationsgruppe 2 bezeichnet per definitionem Zahnfehlstellungen geringerer Ausprägung, die aus medizinischen Gründen zwar eine Indikation für eine kieferorthopädische Korrektur darstellen, deren Kosten jedoch nicht von den Krankenkassen übernommen werden. 57,0 Prozent der Kinder wiesen eine solche Indikationsgruppe auf.
2,5 Prozent der Kinder gehörten zur Indikationsgruppe 1 mit allein ästhetischen Einschränkungen oder wiesen keinen pathologischen Befund auf.
Eẞer: Keine Überversorgung in der Kieferorthopädie
Bei 16,4 Prozent der Kinder lag eine Indikation für eine sogenannte kieferorthopädische Frühbehandlung vor. Aus den Abrechnungsdaten KZBV für das Jahr 2020 geht hervor, dass der Anteil der tatsächlich durchgeführten Frühbehandlungsfälle in dieser Altersgruppe lediglich bei 7,8 Prozent lag. „Eine Frühbehandlung bei acht- und neunjährigen Kindern in Deutschland findet also eher in geringerem Umfang statt als sich epidemiologisch darstellt. Tendenzen einer Überversorgung können in diesem Zusammenhang also nicht erkannt werden”, erläuterte Prof. Jordan.
Dr. Wolfgang Eßer, Vorstandsvorsitzender der KZBV, erklärte dazu: „Das Studienergebnis zeigt, dass der kieferorthopädische Behandlungsbedarf von Kindern und Jugendlichen von etwa 40 Prozent über viele Jahre konstant geblieben ist. Zudem sehen wir eine gleichbleibende Verteilung in den kieferorthopädischen Indikationsgruppen. Die Ergebnisse zur Frühbehandlung und der Vergleich mit weiteren Abrechnungsdaten belegen, dass es in der kieferorthopädischen Versorgung – anders als behauptet – keine Überversorgung gibt.”
Von Laffert: Kieferorthopädie gehört in die Hände von Profis
BZÄK-Vizepräsident Konstantin von Laffert verwies in seinem Statement auf die hohe Zahl von Kindern mit geringen Zahnfehlstellungen (KIG 2): Die „Kinder haben zwar aus medizinischen Gründen durchaus eine Indikation für eine kieferorthopädische Korrektur, die Kosten werden jedoch nicht von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen.” Als Erwachsene wollten diese Patienten oft eine Behandlung nachholen und griffen nicht selten auf Angebote von „Aligner-Shops“ zurück – hier würden jedoch Patienten „teilweise ohne ordentliche Befunde und via Handyfoto selbst den Behandlungsfortschritt dokumentierend behandelt”, was bereits zu großen zahnmedizinischen Problemen bei Betroffenen geführt habe.
Proff lobt hohe Datenqualität
Prof. Dr. Dr. Peter Proff, Präsident der DGKFO, würdigte die „hohe Qualität” der erhobenen epidemiologischen Daten: „Erstmals seit dem Jahr 1989 liegt mit DMS 6 eine valide und repräsentative epidemiologische Erhebung für Gesamtdeutschland bezüglich der Prävalenz von Zahn- und Kieferfehlstellungen in der Altersgruppe der Acht- bis Neunjährigen vor.” Proff und Jordan kündigten an, den sehr umfangreichen Datensatz weiter auszuwerten. Außerdem sei das Studiendesign auf eine Längsschnittbetrachtung angelegt, so dass bei der für das Jahr 2030 geplanten DMS 7 auf die aktuell untersuchten Probanden zurückgegriffen werde. „Für diese Kohorte ist das ein besonders spannender Zeitpunkt, weil die Kinder dann im Wesentlichen aus der kieferorthopädischen Behandlung heraus sind“, erklärte Jordan.