Leopoldina für Impfpflicht und sofortige Kontaktbeschränkungen
Es sei zu befürchten, dass Teile der Politik und Öffentlichkeit die Dramatik der Situation nicht in ihrem vollen Ausmaß erfassten.
Hauptproblem: die viel zu hohe Zahl der ungeimpften
Dazu tragen demnach die Vielstimmigkeit der öffentlichen Einschätzungen von Fakten und Prognosen, ein gewisser Gewöhnungseffekt und wohl auch das für viele „bloß” statistische „Angesicht” der Todesopfer und der Langzeitgeschädigten von Covid-19 bei. Das Hauptproblem in Deutschland sei aber die viel zu hohe Zahl der noch ungeimpfter Menschen.
Die Wissenschaftler empfehlen
Eine massive Verstärkung der ImpfkampagneUngeimpfte müssten motiviert oder in die Pflicht genommen werden. Zudem sei es erforderlich, dass vollständig Geimpfte möglichst nach fünf bis sechs Monaten eine Auffrischungsimpfung erhalten. Hierzu müssten andere medizinische Berufsgruppen in die Impftätigkeit einbezogen werden (Apotheker, Amtsärzte, Zahnärzte, Pflegekräfte und Hebammen), gegebenenfalls mit fachlicher und logistischer Unterstützung der Bundeswehr, des Technischen Hilfswerks THW und anderer Organisationen in der Katastrophenvorsorge. Flächendeckend müssten Impfzentren wieder eingerichtet werden, und zwar mit langen Öffnungszeiten; aufsuchende Impfangebote an Orten mit hohem Personenaufkommen (Bahnhöfe, Ämter, Einkaufszentren, soziale Brennpunkte oder Seniorenheimen) verstärkt werden.
Die Einführung einer stufenweisen ImpfpflichtFür wichtig halten die Wissenschaftler die rasche Einführung einer berufsbezogenen Impfpflicht für Ärzte, Pflegekräfte und medizinische Fachberufe sowie weiterer Multiplikatorengruppen. Hinzu komme die Vorbereitung zur Einführung einer allgemeinen Impfpflicht unter Berücksichtigung der dafür erforderlichen rechtlichen und sozialen Rahmenbedingungen.
Deutliche Kontaktreduzierungen:Hier bieten sich aus Sicht der Leopoldina zwei Optionen an:Zum einen sofortige umfassende Kontaktbeschränkungen, zumindest in Regionen mit hoher Inzidenz. Dazu gehören strikte Kontaktreduktion – vorübergehend auch für Geimpfte und Genesene - im privaten Bereich, in Innenräumen und in Situationen, in denen viele Menschen zusammenkommen (zum Beispiel in Bars, Clubs, Veranstaltungen). Wo sich persönliche Kontakte nicht vermeiden lassen, sei eine generelle Maskenpflicht - idealerweise mit FFP2-Masken – sowie eine konsequente Durchsetzung der 2G-Regeln und Anwendung der AHA+L-Regeln unvermeidlich.Zum anderen strikte, kontrollierte und sanktionierte 2G-Regelungen und eine Anwendung der AHA+L-Regeln in öffentlich zugänglichen Innenräumen und bei Veranstaltungen, mit Ausnahme von Räumlichkeiten lebensnotwendiger Infrastrukturen (Supermärkte, Arztpraxen). Wenn eine 2G nicht garantiert werden könne, müssten Veranstaltungen abgesagt werden. Die Option sei aber weniger effektiv als Option 1, es müsse mit einem längeren Verlauf der vierten Welle und mehr Todesopfern gerechnet werden.
Nach Einschätzung der Leopoldina-Wissenschaftler sollten Schulen und Kitas offenbleiben und ein Aussetzen der Präsenzpflicht und Wechselunterricht an Schulen vermieden werden. Lehrer und Schüler sollten Masken tragen. Sie empfehlen auch vorgezogene Weihnachtsferien und Corona-Tests dreimal die Woche. Die Zahl der Infektionen bei Kindern und Jugendlichen trage zum Infektionsgeschehen bei, heißt es in der Stellungnahme.
Die Wissenschaftler halten es für problematisch, dass nach Auslaufen der epidemischen Notlage bestimmte Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung nicht mehr ergriffen werden dürfen. Das schwerwiegendste Defizit des novellierten Infektionsschutzgesetzes (IfSG) bestehe darin, dass keine Kriterien wie Inzidenzwerte mehr aufgeführt sind, wann die Länder bestimmte Maßnahmen ergreifen dürfen oder müssen. Für eine bundesweite Koordinierung von Maßnahmen bleibe nur die Möglichkeit politischer Absprachen im Rahmen der Ministerpräsidentenkonferenz.
Auch Wertefragen haben die Leopoldina-Wissenschaftler aufgeworfen. Ihr Plädoyer für Freiheitsbeschränkungen geschehe in der Überzeugung, dass die hierzu führenden Abwägungen „im Einklang mit Grundwerten und Prioritäten stehen, die von der Mehrheit der Bevölkerung mit guten Gründen geteilt werden”, betonen sie. Auch die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht sei unter den aktuellen, vor einem Jahr so nicht vorhersehbaren Umständen ethisch und rechtlich gerechtfertigt: als letzte Maßnahme, um eine Impflücke zu schließen, die sich augenscheinlich anders nicht beheben lässt.