Man spricht Platt im Heim
In der gemusterten Porzellantasse vor Elfriede Foerster dampft Schwarzer Tee. An der Wand tickt eine alte Pendeluhr. Auf der Anrichte aus dunklem Holz thront ein vergilbtes Foto, eine Stehlampe spendet schummriges Licht. Die 78-Jährige ist umgeben von Erinnerungen aus der Zeit, als sie noch jung war. Doch dafür sorgt nicht nur die Einrichtung, sondern auch die Sprache. Foerster spricht Plattdeutsch.
Hochdeutsch lernte man erst in der Schule
Im Demenzzentrum in Molbergen gehört das zum Alltag dazu. Die kleine Gemeinde liegt mitten im ländlich geprägten Kreis Cloppenburg. Viele Menschen sprechen hier noch Platt. In Foersters Generation - also die Generation, die jetzt unter Umständen in Pflegeheimen lebt - hat man Zuhause ausschließlich Niederdeutsch geredet. Hochdeutsch lernten die Kinder erst in der Schule. Platt ist für sie quasi die Muttersprache. Mit ihr verbinden sie Geborgenheit, intensive Gefühle.
Wenn Theresia Ostrowski mit Foerster Plattdeutsch spricht, blüht die demenzkranke Frau auf. Sie erzählt aus ihrer Jugend, erinnert sich problemlos an Wörter. "Es ist wie ein Türöffner", erläutert die Betreuerin. Auch Bewohner, die kaum noch auf ihre Umwelt reagieren oder sich nicht mehr richtig ausdrücken können, tauen plötzlich auf. "Das, was ich in frühster Kindheit gelernt habe, bleibt am längsten haften", sagt Ostrowski. An diesem Vormittag sitzt sie mit Foerster bei Tee und Keksen im Erinnerungszimmer, das komplett mit alten Möbeln ausgestattet ist.
"Ick heb ne Tasche mitbröcht."
Die Betreuerin hält eine Oma-Handtasche aus Lackleder hoch. "Ick heb ne Tasche mitbröcht." Foerster soll nun raten, was diese enthält. Portemonnaie, Kamm, Taschentuch, Handschuhe zählt sie in Platt auf und strahlt. Die vertrauten Begriffe zu hören und auszusprechen, das gibt ihr Sicherheit. "So eine ähnliche Tasche hatte ich auch mal", erzählt die alte Frau und ist wieder ganz in ihrer Jugend. "Ich bin oft zum Tanzen gefahren", erinnert sie sich.
Fast alle Mitarbeiter des Demenzzentrums in Molbergen sprechen Plattdeutsch - wenn nicht fließend, dann zumindest einige Worte. Damit ist die Einrichtung Vorreiter, wie Heinrich Siefer vom Bundesrat für Niederdeutsch betont. "Aber auch andere greifen das zunehmend auf." In dem Gremium setzt er sich dafür ein, dass Plattdeutsch nicht nur bei der Betreuung von Demenzkranken, sondern in der gesamten Pflege stärker zum Einsatz kommt. Bedarf gibt es seiner Ansicht nach genug.
Niederdeutsch gibt Stabilität
Rund 2,5 Millionen Menschen im nördlichen Drittel von Deutschland sprechen nach Angaben des Instituts für Niederdeutsche Sprache Platt. Etwa dreimal so viele verstehen es. "Überall dort, wo der Mensch in Situationen kommt, die ihn verunsichern wie nach Operationen oder Schlaganfällen, ist Niederdeutsch ein gutes Mittel, um Stabilität zu geben", meint Siefer. Am Dienstag hat er deshalb zu einem Studientag nach Oldenburg geladen, bei dem verschiedene Experten über die Bedeutung von Plattdeutsch in der Pflege berichten.
An der Berufsschule für Altenpflege in Wildeshausen ist Platt seit 2010 bereits Pflicht. Dort lernen die Schüler Niederdeutsch wie andere Englisch oder Französisch. "Der Zugang zu den Patienten ist dadurch wesentlich besser", sagt Lehrerin Hella Einemann-Gräbert. Doch auch sie weiß: In 30 Jahren wird das wahrscheinlich anders aussehen. "Die Menschen, die Platt so verinnerlicht haben, sterben langsam weg. Aber in solch langen Zeiträumen denken wir nicht."
Auf die die Biografie eingehen
Unstrittig ist auf jeden Fall: Kreative Konzepte wie das in Molbergen wird es in Zukunft mehr geben müssen. "Gerade bei Demenz ist es sinnvoll, individuell auf die Betroffenen und ihre Biografie einzugehen", sagt Hans-Jürgen Freter von der Deutschen Alzheimer Gesellschaft.
1,4 Millionen Demenzkranke leben zurzeit in Deutschland. 2050 werden es 3 Millionen sein, darunter auch viele mit ausländischen Wurzeln. Dann wird nicht mehr nur Deutsch - ob Hoch oder Platt - zum Alltag in den Pflegeheimen gehören, sondern auch Türkisch, Russisch oder Italienisch.
von Irena Güttel