Querschnittsgelähmter spielt Klavier mit Beißschiene
Für den 15-jährigen Alberto Mancarella aus Los Angeles ging ein lang gehegter Wunsch in Erfüllung: Bei einer feierlichen Preisverleihung der Deutschen Stiftung Querschnittlähmung (DSQ) Ende März in Heidelberg spielte der junge querschnittgelähmte Pianist Auszüge aus dem Italienischen Konzert von Bach - erstmals unter Verwendung einer speziellen Funkbeißschiene. Mithilfe seiner Zunge konnte der Querschnittsgelähmte so das rechte Fußpedal des Klavierflügels bedienen. Diese Methode ist bisher einzigartig.
Seit mehr als 20 Jahren gibt es für querschnittgelähmte Klavierspieler - meist Unfallopfer - elektromagnetische Pedalsteuerungen. Impulsgeber wie Lichtschranken, Kopfstützen, Rückenlehnenkissen, Halskrausen und Mundblasschalter ermöglichen den behinderten Pianisten, auch pedalnotierte Partituren zu spielen. Der Nachteil dieser technischen Lösungen: Magnete sind für den pianistischen Einsatz zu undifferenziert, weil sie durch entsprechende Schalter das Pedal des Flügels lediglich ein- und ausschalten können.
Die Klavierpedalen mit der Zunge bedienen
"Zwischenstufen wie etwa Halbpedal oder Flatterpedal sind so nicht möglich. Hinzu kommt, dass die unterstützende Technik für den Konzertbesucher immer sichtbar war", erklärt Dr.-Ing. Rüdiger Rupp die Defizite. Zusammen mit seinem Team entwickelte der Leiter der Sektion Experimentelle Neurorehabilitation des Querschnittzentrums am Universitätsklinikum Heidelberg innerhalb von fast zwei Jahren eine Beißschiene mit einem druckempfindlichen Sensor, die der Pianist im Mund trägt und mit der er das Pedal je nach Notierung in der Partitur steuern kann.
"Wir werten die Kraft aus, mit der ein Querschnittgelähmter die Zähne zusammenbeißt. Je nachdem, wie stark er dies tut, kann er die Stellung des Pedals kontrollieren", beschreibt der Heidelberger Forscher seine Innovation. Bereits 2008 wurde er für diese Erfindung mit dem mit 15.000 Euro dotierten Innovationspreis der Deutschen Stiftung Querschnittlähmung ausgezeichnet.
Trotz Tumor will Alberto Pianist werden
Auf Rupps prämierte Entwicklung aufmerksam geworden, wandte sich die Mutter des querschnittsgelähmten Alberto an den Heidelberger Ingenieur. Alberto erkrankte im Alter von vier Jahren an einem Tumor, der sein Rückenmark schädigte - dennoch wollte er unbedingt Pianist werden. Heute spielt er sogar so hervorragend, dass er ein Stipendium für seine musikalische Ausbildung bekam.
Doch ein Problem blieb bestehen: Aufgrund seiner Querschnittlähmung kann Alberto Klavierstücke, die den Einsatz von Pedalen vorsehen, nicht oder nur sehr eingeschränkt spielen. Bereits 2011 wandte sich Albertos Mutter daher an den Heidelberger Ingenieur, doch die Beißschiene war damals noch nicht ausgereift, geschweige denn käuflich erwerbbar.
"Die Arbeit an der Funkbeißschiene lag damals auf Eis. Doch Albertos Geschichte, seine Zielstrebigkeit, haben mich so fasziniert und bewegt, dass ich ihm unbedingt helfen wollte", erinnert sich Rupp. Mit dem Preisgeld von 2008 sowie der privaten Spende in Höhe von 10.000 Euro konnte er die Forschung weiter vorantreiben und die Beißschiene weiterentwickeln: Hinter den Schneidezähnen ist nun ein druckempfindlicher Sensor befestigt, der Zungenkraft in Steuersignale an den Motor umsetzt. Auf diese Weise kann Alberto den Druck abgestuft dosieren und er hat - anders als beim Zubeißen bei der ersten Version - mehr Gefühl für die Kraft, die er erzeugt.
Fünf Tage Zeit zum Einstudieren pedalnotierter Partituren
Zudem ist der kleine, rund 15 Kilogramm schwere und hochdynamische Motor, der das Pedal bewegt, deutlich leistungsstärker als sein Vorgänger und kann das Pedal nun ebenso schnell bewegen, wie es ein nicht gehandicapter Pianist mit dem Fuß bedienen würde. Weitere Verbesserungen betreffen die Elektronik: Das gesamte System ist nun kleiner, so dass es auch in den Mund eines Teenagers passt, die Knopfzelle liefert Energie für acht Stunden und lässt sich anschließend an einer Dockingstation wieder aufladen.
Wie sich mit der Funkbeißschiene nun letztlich Klavier spielt, konnte Alberto allerdings erst bei seinem Besuch in Heidelberg ausprobieren. Zuvor übte er am Rechner die Bedienung des Zungensensors mit speziellen Trainingsprogrammen und Geschicklichkeitsspielen. Nachdem Alberto am 26. März in Heidelberg eintraf, hatte er fünf Tage Zeit, ausgewählte Stücke einzustudieren.
Neue Projekte dank Zungendrucksensor denkbar
Rupp hat indes bereits Pläne für die Weiterentwicklung der Beißschiene: Mithilfe der druckempfindlichen Folie ließen sich je nach Position des Zungendrucks auch die anderen Pedale eines Flügels ansteuern oder auch bestimmte Funktionen an einem Keyboard. "Entsprechende Anfragen querschnittgelähmter Musiker sind schon bei mir eingegangen", sagt Rupp. Denkbar wäre auch ein Einsatz der Funkbeißschiene für die Bedienung eines Rechners oder elektrischen Rollstuhls - interessant vor allem vor Menschen, die von der Halswirbelsäule an abwärts gelähmt sind.
Der Ingenieur hofft, mit einem breiteren Anwendungsgebiet das Interesse der Industrie sowie weiterer Förderer zu wecken, damit die Forschung und Entwicklung weitergehen kann. "Ohne diesen beeindruckenden Jungen hätte ich dieses Projekt nicht weiter verfolgt", erklärt Rupp.