Scheinheilig und zu kurz gedacht
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) spricht von einem „Schlag ins Gesicht der Patientinnen und Patienten“. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) wolle die Versorgung der Bürger einschränken.
In dem Gesetzesentwurf ist vorgesehen, dass die mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) eingeführte Neupatientenregelung gekippt und die Leistungen der sogenannten offenen Sprechstunde einer unbefristeten Bereinigung unterliegen sollen. Der Minister behaupte, die Neupatientenregelung habe nichts gebracht. Das stimme einfach nicht, monierte die KBV. Sie verweist auf eine Analyse des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi). Das Zi hatte aktuell nachgewiesen, dass mehr als jeder vierte gesetzlich versicherte Patient von der Regelung begünstigt wurde.
KBV-Chef Dr. Andreas Gassen erklärte: „Mit diesem Gesetz konterkariert der Minister den Koalitionsvertrag, nachdem die ambulante Versorgung gestärkt werden sollte. Nun wird es so sein, dass die Kolleginnen und Kollegen gar nicht mehr anders können als das Terminangebot zurückzufahren.“ Gassen führte aus, dass die Neupatientenregelung den Praxen nicht mehr Geld eingebracht habe, sondern dass nur der volle Betrag ohne Budgetierung bezahlt worden sei. Dabei sei es Lauterbach selbst gewesen, der sich für die Regelung stark gemacht habe.
Fachärzteschaft empört über die Scheinheiligkeit
Auch von der Fachärzteschaft kommt heftige Kritik. Der Verband sei empört über die Scheinheiligkeit, mit welcher die Bundesregierung den Bürgern vorgaukeln will, es werde keine Leistungskürzungen im Gesundheitswesen geben, unterstrich Dr. Dirk Heinrich, Vorstandsvorsitzender des Spitzenverbandes Fachärzte Deutschlands (SpiFa).
„Fakt ist aber, dass mit diesem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz und weiteren von der Bundesregierung vorgesehenen Einschränkungen in vielen Arztpraxen ein Aufnahmestopp für Neupatienten und längere Wartezeiten auf einen Facharzttermin unvermeidlich sind. Und das bedeutet Leistungskürzungen und damit eine klare Verschlechterung der Versorgung von Patienten in Deutschland.“ Heinrich, der auch Vorsitzender des Virchowbundes ist, erklärte weiter: „Lauterbachs Politik wird zum Sargnagel der ambulanten Versorgung. Seine Fehlsteuerung der GKV-Finanzen ist dabei der Tropfen, der das Fass zu Überlaufen bringt.“
Die Krankenkassen gehen nicht davon aus, dass die Gesetzespläne langfristig wirksam sind. „Dieses Gesetz enthält keinerlei Maßnahmen für eine kurz- oder langfristige Stabilisierung der GKV-Finanzen. Beiträge werden hochgeschraubt, Rücklagen eingezogen und Schulden gemacht“, betonte der stellvertretende Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes Jens Martin Hoyer.
Ein kurzatmiges Einjahres-Gesetz
Auch marginale Änderungen im Vergleich zum Referentenentwurf wie etwa die einmalige Erhöhung des Herstellerabschlags im Arzneimittelbereich oder die Aussetzung der verschärften Regelungen zur Anhebung des Zusatzbeitrags für ein Jahr würden am grundsätzlichen Befund nichts ändern, erklärte er. Es handele sich um ein kurzatmiges Einjahres-Gesetz. Kein strukturelles Problem werde damit gelöst, so seine Einschätzung. Zwar werde auf Leistungskürzungen und höhere Eigenbeteiligungen verzichtet, was besonders vulnerable Gruppen getroffen hätte. Aber die Hauptlast müssten die Beitragszahlenden tragen.
Auch der GKV-Spitzenverband sieht mit dem Kabinettentwurf die strukturellen Probleme der GKV nicht gelöst, sagte Dr. Doris Pfeiffer, Vorstandsvorsitzende des Verbandes. Darunter würden vor allem die Beitragszahlenden leiden, die die Hauptlast der erforderlichen Mehreinnahmen aufbringen sollen. Neben dem Zugriff auf die angesparten Reserven von rund Milliarden Euro würden die Versicherten ab 2023 höhere Zusatzbeiträge zahlen müssen – gerade angesichts der hohen Inflationsrate und der zu erwartenden wirtschaftlichen Entwicklung sei das ein falsches Signal.
Das parlamentarische Verfahren zum Gesetzesentwurf wird nach der Sommerpause fortgeführt.
Zi-Auswertung zur Neupatientenregelung
Das sieht der Kabinettsentwurf vor:
Begrenzung des Honorarzuwachses für Zahnärztinnen und Zahnärzte.
Die extrabudgetäre Vergütung von vertragsärztlichen Leistungen gegenüber sogenannten „Neupatienten“ für Vertragsärzte wird abgeschafft.
Der Zusatzbeitrag für die Beitragszahler wird steigen. Auf Grundlage der Ergebnisse des GKV-Schätzerkreises im Herbst wird das Bundesministerium für Gesundheit den durchschnittlichen Zusatzbeitragssatz in der Gesetzlichen Krankenversicherung festlegen. Eine Anhebung des Zusatzbeitrags um 0,3 Prozentpunkte sei derzeit nicht unrealistisch, heißt es in dem Entwurf.
Vorhandene Finanzreserven der Krankenkassen werden mit einem kassenübergreifenden Solidarausgleich zur Stabilisierung der Beitragssätze herangezogen. Zudem wird die Obergrenze für die Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds halbiert. Übersteigende Mittel können für höhere Zuweisungen an die Krankenkassen genutzt werden, um die Finanzierungslücke weiter zu schließen.
Der bestehende Bundeszuschuss zur GKV wird von 14,5 Milliarden Euro für 2023 um zwei Milliarden Euro erhöht.
Der Bund gewährt der GKV ein unverzinsliches Darlehen für 2023 von einer Milliarde Euro an den Gesundheitsfonds.
Für das Jahr 2023 ist ein um fünf Prozentpunkte erhöhter Herstellerabschlag insbesondere für patentgeschützte Arzneimittel vorgesehen.
Das Preismoratorium bei Arzneimitteln wird bis Ende 2026 verlängert.