Was die Neonatallinie über den Todeszeitpunkt verrät
Forschende der Universitat Autònoma de Barcelona haben Milchzähne von Neugeborenen der iberischen Kultur (8. bis 1. Jh. v. Chr.) untersucht, die in häuslichen Räumen begraben wurden und festgestellt, dass sie eines natürlichen Todes starben und nicht, wie zunächst vermutet, aufgrund ritueller Praktiken. Hinweisgebend war die Untersuchung der Zähne auf das Vorhandensein von Neonatallinien, um den Geburts- sowie den Todeszeitpunkt genau zu bestimmen.
Die iberische Kultur bewohnte die östlichen und südlichen Küstenregionen der Iberischen Halbinsel während der Eisenzeit (8. bis 1. Jahrhundert v. Chr.). Das häufigste Bestattungsritual der Iberer war die Einäscherung der Verstorbenen und die anschließende Beisetzung in Urnen. Archäologen haben jedoch auch Gräber mit Überresten von Neugeborenen entdeckt, die nicht verbrannt wurden, sondern in Bereichen lagen, die für Wohn- oder Produktionszwecke genutzt wurden. Diese Bestattungen haben in der Fachwelt Kontroversen ausgelöst. Es wurde diskutiert, ob es sich um rituelle Opfermorde handelt.
Die Forschenden konnten diese Hypothese widerlegen. Hierfür untersuchten sie die Milchzähne von 45 Säuglingen aus fünf katalanischen archäologischen Stätten aus der iberischen Periode. Neben einer histologischen und elementaren Analyse wurden die Zähne lichtmikroskopisch auf das Vorhandensein von Neonatallinien untersucht. Sie entsteht durch den physiologischen Stress, der durch den abrupten Wechsel vom intrauterinen zum extrauterinen Leben verursacht wird.
„Die Neonatallinie (NNL) des Zahns dient als eindeutiges Erkennungsmerkmal, mit dem wir feststellen können, ob ein Kind die Geburt überlebt hat. Diese Linie ist wichtig, um das Sterbealter von Säuglingen anhand von Skelettresten zu bestimmen, die in archäologischen Kontexten gefunden wurden.“ [Martirosyan et al., 2024]. Die Analyse mit zusätzlicher Berechnung der Kronenbildungszeit ermöglichte, den Geburtszeitpunkt, das Überleben zu sowie das chronologische Alter der Säuglinge zum Zeitpunkt des Todes sehr genau zu bestimmen. Das chronologische Alter berücksichtigt die seit der Geburt verstrichene Zeit und nicht die biologische Entwicklung des Skeletts.
Die Forschenden bestätigten die Genauigkeit ihrer Technik mit zeitgenössischen Zähnen, bei denen das chronologische Sterbealter des Individuums bekannt ist. Darüber hinaus führten sie Röntgenmikrofluoreszenzuntersuchungen mit Synchrotronlicht durch, um die elementare Zusammensetzung der neonatalen Linie zu analysieren, insbesondere die Quantifizierung von Zink in Fällen, in denen die histologische Visualisierung der Linie unsicher war.
Anstieg von Zink, Rückgang von Kalzium
Mit dem Synchrotronlicht ist es möglich, verschiedene Elemente in Zahnschmelz und Dentin in extrem niedrigen Konzentrationen zu analysieren. Die Ergebnisse des Experiments zeigen einen Anstieg der Zinkmenge und einen Rückgang von Kalzium, einem Hauptelement des Zahnschmelzes, der mit dem Vorhandensein der neonatalen Linie zusammenfällt.
Fast die Hälfte der Säuglinge starb in der Perinatalperiode, das heißt zwischen der 27. Schwangerschaftswoche und der ersten Lebenswoche. Die überwiegende Mehrheit der perinatalen Todesfälle überlebte den Moment der Geburt nicht, und viele dieser Säuglinge starben aufgrund von Frühgeburten. „Diese Daten bestätigen die Hypothese, dass die meisten perinatalen Todesfälle durch natürliche Faktoren wie Geburtskomplikationen oder Gesundheitsprobleme im Zusammenhang mit Frühgeburtlichkeit verursacht wurden und nicht durch kulturelle Praktiken wie Kindstötung oder rituelle Opfer, wie einige Hypothesen vermuten ließen“, sagt Xavier Jordana, einer der Autoren.
Von den etwa 20 Säuglingen, die die erste Lebenswoche überlebten, wurde der Älteste 67 Tage alt. Keiner der bestatteten Säuglinge war älter als zwei Monate. Die Forschenden vermuten daher, dass Säuglinge, die in der frühesten Lebensphase starben, grundsätzlich in häuslichen Räumen begraben wurden.
Martirosyan A et al. „Reconstructing infant mortality in Iberian Iron Age populations from tooth histology.“Journal of Archaeological Science 171 (2024): 106088.