Erstinstanzliches Urteil zur Telemedizin
Im vorliegenden Fall geht es um das Unternehmen TeleClinic, das selbst keine ärztlichen Leistungen anbietet, aber für gesetzlich und privat versicherte Patienten den Zugang zu Videosprechstunden vermittelt. Seit der Gründung 2015 hat das Unternehmen nach eigenen Angaben über drei Millionen Behandlungen durchgeführt und mehr als 4.500 Ärztinnen und Ärzte angebunden. Im Juli 2022 wurde TeleClinic Testsieger bei Stiftung Warentest.
Die Kassenärztliche Vereinigung Bayern sah sich jedoch in ihrem Sicherstellungsauftrag für die ärztliche Versorgung beeinträchtigt und klagte gegen einige Bestandteile der Geschäftstätigkeit von TeleClinic – in vielen Punkten erfolgreich.
Gericht rügt: Freie Arztwahl nicht gewährleistet!
Das Sozialgericht (SG) München stellte in seinem Urteil vom 29. April 2025, das jetzt veröffentlicht wurde, Verstöße gegen die Erfordernisse bei der vertragsärztlichen Versorgung und gegen Marktverhaltensregeln fest. So beanstandete es neben der Werbung diverse Abläufe bei und nach der Vermittlung, wie beispielsweise die Registrierungspflicht, die Arztwahl und die Dokumentation.
Die Rechtsanwaltsgesellschaft Luther hat die Entscheidungsgründe zu den einzelnen Klagepunkten zusammengefasst:
Zur Patientenakte: Zunächst stellte das Gericht klar, dass es sich bei dem elektronischen Dokumentenordner, den die Plattform zum Ablegen von Behandlungsdokumentationen anbietet, um eine elektronische Patientenakte handle. Das Gericht ist damit nicht der Argumentation der Plattform gefolgt, wonach sie keine Patientenakte führe, sondern es sich nur um eine „elektronische Dokumentation“ handele. Nach Auffassung des Gerichts greife die Plattform hiermit in den gesetzlich vorgegebenen Regelungsrahmen ein, den sie durch den Sicherstellungsauftrag zu bewahren habe. Sie sei nicht berechtigt, für den Arzt eine Patientenakte zu führen, auch nicht, falls der Patient seine Einwilligung zur Speicherung der Daten erteilt habe.
Zur Registrierungspflicht: Das Gericht urteilte auch, dass die Plattform ihre Nutzer für eine Videosprechstunde nicht zur vorherigen Registrierung verpflichten darf. Nach § 5 Abs. 1 Nr. 8 Anlage 31 b BMV-Ä muss ein Versicherter einen Videodienst nutzen können, ohne sich vorher registrieren zu müssen.
Zur freien Arztwahl: Nach § 76 Abs. 1 Satz 1 SGB V steht gesetzlich Versicherten das Recht zu, den behandelnden Arzt unter den zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassenen Leistungserbringern frei wählen zu können. Hier gegen habe die Plattform verstoßen. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass die gesetzlich Versicherten nach Registrierung/Einloggen im Portal lediglich einen Zeitraum auswählen konnten, in dem sie sich die Videosprechstunde einrichten konnten. Die über die Terminanfrage informierten Ärzte hätten dann entschieden, ob sie den Termin übernehmen oder nicht. Damit hätten die Versicherten nicht die Möglichkeit gehabt, selbst unter den Ärzten auszuwählen, die über die Plattform Videosprechstunden anboten.
Übermittlung geschilderter Symptome: Die Plattform hat die Übermittlung von Patienten geschilderter Symptome an den Arzt zu unterlassen, so das Gericht, es sei denn, der Versicherte stimmt nach Beginn der Videosprechstunde zu. Die Teilnahme der Plattform an der Versorgung sei auf die technische Durchführung an der Videosprechstunde beschränkt, die Delegationsvereinbarung entspreche nicht den Anforderungen der Anlage 24 BMV-Ä: Der Arzt nehme seine Pflichten, konkret Auswahlpflicht, Anleitungspflicht sowie Überwachungspflicht gegenüber den Mitarbeitern der Plattform nicht wahr. Vor allem aber sieht das Gericht durch die Erhebung der Daten und Weiterleitung an den Arzt die Gefahr, dass „bereits der Zugang zur Nutzung der Plattform nicht ermöglicht wird, wenn Symptome nicht geschildert werden“. Die Übermittlung an den Arzt vor Behandlungsbeginn berge die Gefahr, dass der Arzt die Behandlung erst gar nicht übernehme.
Zu unzulässiger Werbung: Das Gericht sprach der KV gegen die Plattform einen Unterlassungsanspruch hinsichtlich der Werbung „Tschüss Wartezimmer. Hallo Online-Arzt - Arztgespräch, Privatrezept und Krankschreibung in Minuten.“ zu, da diese Werbung gegen § 9 Heilmittelwerbegesetz (HWG) verstoße. Nach Auffassung des Gerichts bewerbe die Plattform ein umfassendes, nicht auf bestimmte Krankheitsbilder eingeschränktes digitales Primärversorgungsmodell. Die Kombination „Tschüss Wartezimmer„ und „Hallo Online-Arzt“ enthalte die Aussage, dass die ärztliche Versorgung ohne einen „klassischen„ Arztbesuch möglich sei. Diese Aussage würde durch den Zusatz „Arztgespräch, Privatrezept und Krankschreibung in Minuten“ verstärkt. Denn letztlich handele es sich bei diesen Leistungen um das, was ein erkrankter Versicherter erwarte, wenn er davon ausgeht, dass er so erkrankt ist, dass ein Arztbesuch erforderlich sei, weil er eine Medikation benötigt und er arbeitsunfähig ist.
Zum Vorwurf von Beratungsleistungen: Keinen Erfolg hatte die KV mit ihrem Vortrag, aus ihrem Sicherstellungsauftrag folge, dass sie das ausschließliche Recht habe, während der Bereitschaftsdienstzeiten im Sinne der Bereitschaftsdienstordnung gesetzlich Versicherte zu beraten oder beraten zu lassen. Nach Ansicht des SG verletzt das Ermöglichen von Videosprechstunden und die Tätigkeit der Plattform als Videodienstanbieter während der Bereitschaftsdienstzeiten den Sicherstellungsauftrag der KV nicht. Aus dem Sicherstellungsauftrag gemäß § 75 SGB V folge nicht im Umkehrschluss, dass sie alleine zur Sicherstellung der Versorgung der gesetzlich Versicherten berechtigt ist und nur sie während der Bereitschaftsdienstzeiten berechtigt sei, Kontakte zwischen gesetzlich Versicherten und Vertragsärzten herzustellen und als Videodienstanbieter tätig zu sein. Das Gericht stellte zudem klar, dass die Plattform gesetzlich Versicherte nicht berät oder beraten lässt. Ihr Leistungsangebot beziehe sich alleine auf die Bereitstellung der Infrastruktur für Videosprechstunden und die Herstellung des Kontakts zwischen gesetzlich Versicherten und Vertragsärzten. Den Antrag der KV, der Plattform jegliche Kontaktvermittlung und jedes Tätigwerden zu untersagen, das über die Tätigkeit als Videodienstanbieter hinausgeht, hielt das Gericht mangels schlüssigen Vorbringens der KV ebenfalls für unbegründet. Ein solch weiter Unterlassungsanspruch stehe der KV nicht zu.
Zum Vergütungsmodell für Ärzte: Das SG München entschied, dass die Plattform nicht berechtigt sei, von den Vertragsärzten eine Vergütung ihrer Leistungen als Videodienstanbieter erstens in Abhängigkeit von dem erzielten Honorar und zweitens nur dann zu verlangen, wenn eine Videosprechstunde zustande kommt: „Denn das von dem Vertragsarzt gezahlte Entgelt stellt sich als ein Entgelt für die Zuweisung von Patienten dar. Die Beklagte weist den Vertragsärzten Patienten zu, indem sie über ihre Plattform den Kontakt zwischen dem gesetzlich Versicherten und dem Vertragsarzt herstellt und die technische Infrastruktur für die Videosprechstunde zur Verfügung stellt. Ohne ihre Dienste als Videodienstanbieter würde ein Kontakt zwischen dem gesetzlich Versicherten und dem Vertragsarzt nicht zustande kommen. Das seitens des Vertragsarztes zu zahlende Entgelt wird auch für diese Zuweisung gezahlt, da es nur anfällt, wenn eine Videosprechstunde zustande kommt. Dies belegt einen engen kausalen Zusammenhang zwischen der Vermittlung des Kontaktes gesetzlich Versicherter - Vertragsarzt und der Entstehung des Entgeltanspruchs der Beklagten.“ Eine verbotene Zuweisung gegen Entgelt begründet das Gericht ferner damit, dass sich die Höhe des Entgeltes nach dem durch die jeweilige Videosprechstunde von dem Vertragsarzt erzielten Honorar richte. Eine Kalkulation der Gebühr anhand der bei der Plattform entstehenden Vorhaltekosten sei nicht ersichtlich; dadurch würde kein Bezug zu anderen Parametern hergestellt, die belegen könnten, dass das Entgelt nicht für die Zuweisung gezahlt würde. Die Plattform hätte das Entgelt etwa von der Dauer der Sprechstunde abhängig machen oder unabhängig von Patientenkontakten eine feste Nutzungsgebühr vereinbaren können.
„Das Urteil des SG München betrifft direkt nur die beklagte Plattform einerseits und gesetzlich Krankenversicherte mit Wohnsitz in Bayern andererseits“, ordnet die Rechtsanwaltsgesellschaft Luther das Urteil ein. „Es betrifft also weder alle Videosprechstundenanbieter noch alle Patienten in Deutschland.„ Dennoch sei die Entscheidung des Gerichts „aufsehenerregend“. Denn: „Es ist ein erstinstanzliches Urteil, gegen das sicherlich Berufung eingelegt werden wird. Aber: Die ausführlichen Erwägungen werden absehbar von anderen Behörden und Gerichten bei deren Entscheidungsfindung herangezogen werden.“
KVB sieht „wichtigen Schritt zur Rechtssicherheit“
Die Kassenärztliche Vereinigung Bayerns (KVB) sieht sich durch das Urteil bestätigt. Die Vorstände der KVB, Dres. Christian Pfeiffer, Peter Heinz und Claudia Ritter-Rupp, sehen in dem Urteil einen „wichtigen Schritt zum Erhalt der Rechtssicherheit in der Telemedizin“. Man arbeite weiter für eine „transparente und patientenorientierte“ telemedizinische Versorgung, heißt es in einer schriftlichen Stellungnahme. „Kommerzielle Telemedizinanbieter können an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmen, wenn sie die geltenden Regelungen beachten“, so der KVB-Vorstand. Sie betonen insbesondere, dass Ärzte nicht willkürlich die Behandlung von Patienten ablehnen dürfen oder Versicherte ohne Grund von der Plattform ausgeschlossen werden.
TeleClinic widerspricht – und will in Berufung gehen
Die TeleClinic selbst sieht das anders. Das Urteil sei in „mehrfacher Hinsicht unzureichend“, so das Unternehmen gegenüber der Redaktion Medscape. „Sollte das Urteil in der jetzigen Form rechtskräftig werden, hat dies keine praktischen Auswirkungen auf unser Geschäftsmodell.“ Man werde Berufung einlegen.
Sozialgerichts München
Az.: S 56 KA 325/22
Urteil vom 29. April 2025
(Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig)