Was Napoléons Armee wirklich vernichtete
Der von Napoléon Bonaparte angeführte Russlandfeldzug im Jahr 1812 endete mit einer militärischen Niederlage, die einen verheerenden Rückzug der Grande Armée zur Folge hatte: Von den 500.000 bis 600.000 Soldaten kehrte nur ein Bruchteil zurück: Allein im Herbst und Winter 1812/13 starben rund 300.000 Mann – nicht in der Schlacht, sondern durch Kälte, Hunger und vor allem Krankheiten.
Ein Massengrab mit über 3.000 hastig bestatteten Leichen
Ein Armeearzt schrieb, die Soldaten hätten massenhaft an „Typhus, Dysenterie und Diarrhö“ gelitten. Doch diese Begrifflichkeiten waren damals nicht klar abgegrenzt: Jede fiebrige Krankheit konnte als „Typhus“ gelten. Dennoch hielt sich 200 Jahre lang die Vorstellung, dass vor allem Typhus, übertragen durch Läuse, Napoléons Soldaten beim Rückzug aus Russland im Winter 1812 dahingerafft habe.
Französische und estnische Forschende haben nun unter der Leitung des Institut Pasteur untersucht, welche Krankheitserreger die schweren Ausbrüche von Infektionskrankheiten verursacht haben könnten, die zu dieser Verwüstung beitrugen.
Der Russlandfeldzug 1812
Im Juni 1812 versammelte der französische Kaiser Napoléon I. eine multinationale Streitmacht von etwa 500.000 bis 600.000 Soldaten, um in Russland einzumarschieren. Nachdem sie in Moskau angekommen waren, ohne das russische Heer entscheidend besiegen zu können, beschlossen die napoleonischen Truppen, da sie sich in einer zerstörten Stadt isoliert sahen, den Rückzug anzutreten und im Oktober ihr Winterlager entlang der Grenze zu Polen aufzuschlagen. Der Rückzug aus Russland dauerte vom 19. Oktober bis zum 14. Dezember 1812 und führte zum Verlust fast der gesamten napoleonischen Armee. Historikern zufolge waren es nicht die kriegerischen Kämpfe, die das Leben von etwa 300.000 Männern kosteten, sondern die bittere Kälte des russischen Winters, gepaart mit Hunger und Krankheiten.
JRL de Kirckhoff, ein Arzt aus dem Russlandfeldzug, verfasste ein Buch, in dem er detailliert die Krankheiten beschrieb, die die Soldaten im Jahr 1812 befielen. Insbesondere dokumentierte er die Häufigkeit von Typhus, Durchfall, Ruhr, Fieber, Lungenentzündung und Gelbsucht. Andere Ärzte und auch Offiziere machten ähnliche Beobachtungen. Infektionskrankheiten wie Typhus wurden bereits vor Beginn des Russlandfeldzugs in französischen Regimentern beschrieben.
Insbesondere Typhus, der aufgrund seines häufigen Ausbruchs in Armeen gemeinhin als Lagerfieber bezeichnet wird, wurde lange als die wichtigste infektiöse Ursache für den Untergang der Grande Armée im Jahr 1812 vermutet. Diese Annahme wurde durch die Entdeckung von Kleiderläusen, dem Hauptüberträger von Typhus, unter den sterblichen Überresten napoleonischer Soldaten genährt, die während des Großen Rückzugs aus Russland im Dezember 1812 in Vilnius, Litauen, umkamen, sowie durch die angebliche Identifizierung von R. prowazekii- und B. quintana-Sequenzen, die bei einigen dieser Personen amplifiziert wurden.
Rémi Barbieri et al. 2025
Für ihre Studie analysierten sie die Zähne von 13 Soldaten aus Napoléons Armee, die 2002 bei Ausgrabungen im litauischen Vilnius exhumiert worden waren. Das 2001 entdeckte Massengrab enthielt über 3.000 hastig bestattete Leichen – viele noch in Stiefeln, manche im eiskalten Winter in ihrer Todesposition erstarrt.
Paratyphus und Rückfallfieber gaben den Soldaten den Rest
Das Team extrahierte mikrobielles Erbgut aus der Zahnpulpa, weil sich dort bei systemischen Infektionen Erregerspuren über Jahrtausende ablagern. Anschließend setzten die Wissenschaftler Sequenzierungstechniken der nächsten Generation auf alte DNA ein, um mögliche Infektionserreger zu identifizieren.
Entdeckt wurden zwei Infektionserreger, die mit den in historischen Berichten beschriebenen Symptomen korrelieren: Salmonella enterica subsp. enterica (Serovar Paratyphi C), der für Paratyphus verantwortlich ist; und Borrelia recurrentis, der Rückfallfieber auslöst, eine durch Läuse übertragene Krankheit, die durch Fieberschübe gefolgt von Phasen der Remission gekennzeichnet ist.
Vom Typhuserreger keine Spur
Obwohl diese beiden Krankheiten unterschiedlich sind, können sie ähnliche Symptome wie hohes Fieber, Müdigkeit und Verdauungsprobleme auslösen. Ihr gleichzeitiges Auftreten könnte zur Verschlechterung des Zustands der Soldaten beigetragen haben, zumal sie bereits durch Kälte, Hunger und mangelnde Hygiene geschwächt waren.
Den Typhuserreger Rickettsia prowazekii und den Erreger des Schützengrabenfiebers Bartonella quintana konnten die Forschenden nicht nachweisen. Diese Erreger wurden aufgrund historischer Berichte lange Zeit mit dem Sterben in Verbindung gebracht.
Angesichts der geringen Zahl der analysierten Proben im Vergleich zu den Tausenden gefundenen Leichen sei es aber unmöglich zu bestimmen, in welchem Ausmaß diese Krankheitserreger zu der beobachteten extrem hohen Sterblichkeit beigetragen haben.
„Diese neue Studie zeigt einen Zusammenhang zwischen historischen Beschreibungen der Krankheiten, unter denen Napoléons Armee litt, und den typischen Symptomen von Paratyphus und Rückfallfieber“, resümieren die Autoren. „Sie liefert neue Belege für die Theorie, dass Infektionskrankheiten neben zahlreichen anderen Faktoren wie Erschöpfung, extremer Kälte und harten Bedingungen eine Ursache für das Scheitern des Feldzugs von 1812 waren.“
Rémi Barbieri, Julien Fumey, Helja Kabral, Christiana Lyn Scheib, Michel Signoli, Caroline Costedoat, Nicolás Rascovan. Paratyphoid fever and relapsing fever in 1812 Napoléon\'s devastated army. Current Biology, 2025; DOI: 10.1016/j.cub.2025.09.047



