„Wenn Bianchon jetzt hier wäre, würde er mich retten!“
Honoré de Balzac wurde am 20. Mai 1799 in Tours geboren und starb am 18. August 1850 mit nur 51 Jahren in Paris. Ein kurzes Leben in einer ereignisreichen Zeit: Bei Balzacs Geburt hatte Napoleon Bonaparte gerade per Staatstreich die Macht in der Ersten Französischen Republik übernommen, bei seinem Tod hatte die 1848er Revolution ganz Europa erschüttert.
Das 19. Jahrhundert markierte auch den Übergang zur modernen Medizin: Ignaz Semmelweis begründete die Hygiene, es fand die erste erfolgreiche Magenresektion statt, Impfstoffe gegen Milzbrand und Tollwut wurden entwickelt, die bakteriellen Auslöser von Tuberkulose und Cholera entdeckt, das Stethoskop wurde erfunden, und es gelang erstmals eine Transplantation beim Menschen. Im Zuge dieser Entwicklungen erhielt auch der Beruf des Arztes einen völlig neuen Status und gewann an Autorität wie Reputation. Von diesen Wissenschaftlern, die eben diese bahnbrechenden Fortschritte erzielten, war der französische Schriftsteller von jeher fasziniert.
Sein Vater war damit beschäftigt, 100 Jahre alt zu werden
Vielleicht hatte auch sein Vater Bernard-François Balzac einen Anteil an seiner Begeisterung für die Medizin, denn schenkt man der Biografie von Johannes Willms aus dem Jahr 2007 Glauben, war jener ausschließlich damit beschäftigt, 100 Jahre alt zu werden. Oder seine Großmutter Sallambier, die angeblich über nichts lieber redete, als über ihre eingebildeten Krankheiten.
Bis 1814 war sein Vater Verwaltungschef eines Krankenhauses in Tours, dann zog die Familie nach Paris, wo der junge Honoré 1816 die Schule beendete und mit seinem Jurastudium an der École de Droit begann. Statt fleißig Gesetzestexte zu büffeln, fing er jedoch mit dem Schreiben an.
Die Comédie Humaine sollte sein Lebenswerk werden, das er aber nicht vollenden konnte. „Nur“ 91 der geplanten 137 Romane und Erzählungen wurden fertiggestellt. Darin wimmelt es von fiktiven Ärzten, aber auch von Medizinern, die er nach lebenden Persönlichkeiten schuf. Schließlich kannte der Schriftsteller die berühmten Ärzte und Naturwissenschaftler seiner Epoche. So war er in Kontakt mit dem Pathologen François Joseph Victor Broussais (1772-1838), der erst Militärarzt und schließlich Oberarzt am Vâl-de-Grace wurde und an der Universität Paris ab 1832 Pathologie lehrte.
Befreundet war er auch mit dem Naturforscher Georges Cuvier und mit dem Zoologen Geoffroy Saint-Hilaire, dem er den Roman „Le père Goriot“ und das Vorwort in „La comédie humaine“ widmete.
Oder mit Guillaume Dupuytren (1777-1835), den er 1836 unter dem Pseudonym Dr. Desplein in der Novelle „Die Messe des Gottlosen“ als großartigen Chirurgen skizzierte: „Desplein hatte ein göttliches Auge; er sah den Leidenden und seine Krankheit mit einer natürlichen oder erworbenen Intuition, die es ihm ermöglichte, die dem Individuum spezifische Diagnostik zu erfassen, den genauen Zeitpunkt, die Stunde, die Minute zu bestimmen, wann eine Operation durchgeführt werden sollte, wobei er die atmosphärischen Besonderheiten des individuellen Temperaments angemessen berücksichtigte."
Der echte Dupuytren ging 1802 als Chirurg an das Hôtel-Dieu in Paris, das unter seiner Leitung zu einem der besten europäischen Hospitäler wurde. Aufgrund seiner Reputation wurde Dupuytren Leibarzt der beiden Bourbonenkönige Ludwig XVIII. und Karl X. in der Zeit der Restauration nach 1815. Dupuytren stammte wie Desplein aus armen Verhältnissen. Wegen Geldmangel musste er fast sein Medizinstudium in Paris abbrechen.
Horace Bianchon tritt in 24 Romanen auf
Auch der Wunderdoktor Horace Bianchon in der „Comédie humaine“ hat einen echten Mediziner zum Vorbild: Dr. Émile Regnault (1811-1863), den der Schriftsteller 1831 in Paris kennengelernt hatte.
Bianchon ist ein Wohltäter der Menschheit, Verteidiger einer wissenschaftlichen Medizin, die sensibel bleibt für die Belange des Patienten. Der Arzt tritt in 24 Romanen der „Menschlichen Komödie“ auf: Bianchon besucht in dem gleichnamigen Roman den todkranken „Vater Goriot„, versorgt in „Glanz und Elend der Kurtisanen“ den Aufsteiger Lucien de Rubempré nach einem Duell und tröstet die Schauspielerin Coralie in „Verlorene Illusionen“ in ihrer letzten Stunde.
Neben dem Arztberuf schildert Balzac auch spezielle Krankheiten. In seinem Roman „Pierrette“ thematisiert er beispielsweise den Verlauf eines chronischen subduralen Hämatoms. Die junge Frau stirbt schließlich an einer Blutung zwischen Schädel und Gehirn, die sie sich selbst durch einen Stoß zugefügt hatte. Und in der Novelle „Louis Lambert“ von 1832 hat der Schriftsteller möglicherweise erstmals einen Fall von Schizophrenie beschrieben, lange, bevor es der deutsche Psychiater Emil Kraepelin (1856-1926) tat.
"Alles war tot, bis auf die Augen"
"Und eisige Kälte befiel ihn, als er ans Bett getreten war und ein vom Winde angefachter greller Lichtschein den Kopf seines Vaters beleuchtete: Die Züge waren verfallen, die Haut, die in zahllosen Runzeln die Knochen bedeckte, hatte einen grünlichen Schimmer, der sich grauenhaft von dem weißen Kissen abhob, auf dem der Greis ruhte. Der schmerzlich verzogene, halboffene Mund, der die Zähne bloßlegte, stieß klägliche Seufzer aus, in die der heulende Sturmwind mit ein stimmte. Trotz dieser Zeichen des Verfalls erstrahlte der Kopf in einem Ausdruck unerhörten Machtbewusstseins. Ein überlegener Geist kämpfte hier gegen den Tod. Die von der Krankheit eingefallenen Augen bewahrten eine eigentümliche Schärfe. Es schien, als suche Bartholomeo mit seinem sterbenden Blick einen Feind zu töten, der am Fuße des Bettes saß. Dieser starre und kalte Blick war um so entsetzlicher, als der Kopf dabei unbeweglich blieb wie der Totenschädel auf dem Tisch des Mediziners. Der Körper, der sich unter den Leintüchern deutlich abhob, zeigte, dass die Gliedmaßen des Greises ganz ebenso erstarrt waren. Alles war tot, bis auf die Augen. Selbst die Töne, die seinem Munde entflohen, kamen so regelmäßig und monoton wie von einem Uhrwerk. Don Juan empfand ein wenig Schamgefühl, ans Sterbebett seines Vaters zu treten mit dem Strauß einer Kurtisane an der Brust und einem Duft von Festlichkeit und Wein behaftet.“
aus: L’Élixir de longue vie („Das Elixier des Lebens“). Die Kurzgeschichte erschien 1830 und ist eine der Études philosophiques der Comédie humaine. Sie spielt im 16. Jahrhundert im italienischen Staat Ferrara, wo der junge Adlige Don Juan Belvidero während eines Essen mit Freunden erfährt, dass sein Vater im Sterben liegt.
In seinem Roman der „Landarzt“ ist der Held des Stücks ein Mediziner, der seine Patienten am Ende der 1820er Jahre in Grande-Chartreuse bei Grenoble in Savoyen behandelt. Dr. Benassis sagt zu einem alten Soldaten: „Ich will weder Ruhm noch Vermögen, ich verlange von meinen Kranken weder Lobsprüche noch Dankbarkeit. Das Geld, das Sie mir geben, wird zu den Apotheken nach Grenoble wandern, um die für die Armen unerläßlichen Medikamente zu bezahlen." Benassis flieht, nachdem er einen schwerwiegenden Fehler begangen hat, aus Paris aufs Land und betreut dort die Kranken und Armen.
Acht Tage Fieber! In der Zeit hätte er ein Buch schreiben können!
Balzac wird das Zitat zugeschrieben: „Acht Tage Fieber! Da hätte ich Zeit gehabt, ein Buch zu schreiben!" Sein infernalisches Arbeitspensum (oft 15 bis 17 Stunden am Tag), wobei er sich beim Schreiben in eine weiße Mönchskutte hüllte, sein ausschweifendes Leben an freien Tagen (Eine Mahlzeit soll seinem Verleger zufolge aus 100 Ostender Austern, zwölf Hammelkotelettes, einer Ente und mehreren Rebhühnern bestanden haben) und sein enormer Kaffeeverbrauch (bis zu 50 Tassen in der Arbeitszeit) forderten ihren Tribut: Ab 1843 verstärkten sich seine Gesundheitsprobleme.
Am 14. März 1850 heiratete Balzac seine langjährige Verlobte Ewelina Hańska in Berditschew, einer Stadt in der heutigen Ukraine – zwischen ihrer ersten Begegnung und ihrer Heirat lagen 18 Jahre. Die polnische Gräfin war lange Zeit eine anonyme Bewunderin Balzacs, bevor sie sich ihm zu erkennen gab.
Nach mehrwöchiger und offenbar strapaziöser Rückreise nach Paris stirbt Balzac dort am 18. August 1850. Anwesend ist sein Arzt und Freund, der Mediziner Dr. Jean-Baptiste Nacquart (1780-1854). Nacquart promovierte 1803 an der medizinischen Fakultät von Paris, war Militärchirurg und wurde 1854 Präsident der Académie de médecine. Ihm widmete Honoré Balzac den Roman „Die Lilie im Tal“.
Balzac wurde auf dem Pariser Friedhof Père-Lachaise beigesetzt. Victor Hugo hielt die Trauerrede. Auf seinem Sterbebett soll Balzac übrigens nach Horace Bianchon gerufen haben: „Wenn Bianchon jetzt hier wäre, würde er mich retten!"