Mehr Patientenschutz durch Weglassen der Patientenschutzmittel?
Auf den ersten Blick darf sich der geneigte Leser die Augen reiben und nochmal verduzt nachlesen: Die American Dental Association (ADA) möchte die Patientensicherheit stärken und empfiehlt den Verzicht auf Patientenschutzschürze und Schilddrüsenschutz. Wie passt das zusammen? So hat diese Nachricht einige Anfragen an die zm-Redaktion ausgelöst, denn neben der offensichtlichen logischen Ambivalenz stehen die Empfehlungen im Widerspruch zur gelebten Praxis in Deutschland. Die Ursache der Irritationen ist vermutlich auch in der verkürzten Berichterstattung in Dentalmedien zu suchen, denn bei näherem Hinsehen stellt sich der Verzicht auf die Patientenschutzschürze nur als die eine Seite der Medaille heraus.
In der Ausgabe vom 1. Februar 2024 veröffentlichte das „Journal of American Dental Association“ (JADA) einen umfangreichen Beitrag unter dem Titel „Optimizing radiation safety in dentistry“ („Optimierung des Strahlenschutzes in der Zahnheilkunde“). Der Beitrag beschreibt die offizielle Position der ADA und enthält in Nachfolge zu der 2012 gemeinsam mit der US-amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) veröffentlichten Stellungnahme („Dental Radiographic Examinations: Recommendations for Patient Selection and Limiting Radiation Exposure“) aktualisierte, evidenzbasierte Empfehlungen zum Strahlenschutz in der Zahnheilkunde. Die in dem Beitrag entwickelten Empfehlungen basieren auf einer umfassenden Überprüfung der Literatur zum Strahlenschutz, der Leitlinien nationaler und internationaler Institutionen und behördlichen Standards. Die Empfehlungen wurden von einem Expertengremium formuliert, das der ADA Council on Scientific Affairs zusammengestellt hatte.
Entscheidend sind die Prinzipien ALARA und ALADA
Darin heißt es, dass sowohl der Schilddrüsenschutz als auch die Patientenschutzschürze in der zahnmedizinischen Bildgebung nicht mehr empfohlen werden. Hintergrund sind neuere Forschungsergebnisse, die belegen, dass der Einfluss der Dosisreduktionen durch diese Patientenschutzmittel vergleichsweise gering gegenüber anderen Maßnahmen des Patientenschutzes ist. Die ADA folgert daraus, dass der klinische Fokus des Strahlenschutzes auf weit wirksamere andere Maßnahmen gelegt werden sollte, wie beispielsweise das Röntgen ausschließlich der Areale, die für die Beantwortung der diagnostischen Fragestellung wichtig sind und die Vermeidung von Doppelaufnahmen.
So betont das ADA-Expertengremium die nach wie vor große Bedeutung des Strahlenschutzes in der zahnärztlichen Bildgebung und empfiehlt insbesondere die konsequente Beachtung des ALARA-Prinzips (As Low As Reasonably Achievable). Danach soll die Strahlendosis „so niedrig wie vernünftigerweise erreichbar“ sein. Gerade im Bereich des dreidimensionalen Röntgens (DVT) kann die Dosis nicht beliebig ohne Qualitätsabstriche an den Aufnahmen gesenkt werden, hier verweisen die Experten auf die Forderung, dass die Auflösung/Dosis immer an den Bedarf aus der diagnostischen Fragestellung angepasst werden sollte (ALADA: As Low As Diagnostically Acceptable).
Kein Routineeinsatz der DVT
Die ADA-Empfehlung zur Digitalen Volumentomografie deckt sich dabei inhaltlich mit den Empfehlungen der deutschen DVT-Leitlinie: „Die DVT-Bildgebung sollte nicht routinemäßig eingesetzt werden. DVT-Untersuchungen dürfen nicht als primäre oder anfängliche Bildgebungsmethode verwendet werden, wenn eine Alternative mit niedrigerer Dosis für die Diagnose und Behandlungsplanung ausreichend ist.“
Digitales Röntgen ermöglicht eine Bildgebung mit weniger Strahlenexposition für den Patienten. Deshalb empfiehlt die ADA generell die Verwendung digitaler Aufnahmetechniken anstatt analoger Röntgenfilme. Dabei sollten die Patienten richtig positioniert und die geröntgten Areale auf den Bereich begrenzt werden, der diagnostisch relevant ist. Von Bedeutung ist für die ADA auch der Hinweis auf den streng am diagnostischen Bedarf orientierten Einsatz des zahnärztlichen Röntgens. Zahnärzte sollten insbesondere „alle Anstrengungen unternehmen“, Röntgenaufnahmen zu beschaffen, die bei früheren zahnärztlichen Untersuchungen gemacht wurden.
Der Stand in Deutschland
Nach Sachverständigen-Prüfrichtlinie (SV-RL) vom 1. Juli 2020 (Anlage III „Erforderliche Patienten- und Anwenderschutzmittel“, „III.1 Erforderliche Patientenschutzmittel bei Röntgeneinrichtungen zur Untersuchung von Menschen“, anzuwendende Norm: DIN EN 61331-3) müssen mindestens für nachfolgende Untersuchungsarten in der Zahnarztpraxis diese Patientenschutzmittel vorhanden sein:
„Untersuchungen mit intraoralem Bildempfänger (Dentaltubusaufnahme): Schilddrüsenschutzschild oder Schilddrüsenschutz oder Patientenschutzschürze (die Schilddrüse schützend)
Panoramaschicht- und Fernröntgenaufnahme: Patientenschutzschürze (am Hals anschließend und den Rücken schützend)
DVT (Cone-Beam-CT): Patientenschutzschürze (am Hals anschließend und den Rücken schützend)"
Die beim Bundesumweltministerium angesiedelte Strahlenschutzkommission (SSK) hält ähnlich wie die amerikanische ADA den Einsatz von Patientenschutzmitteln beim zahnärztlichen Röntgen nicht mehr für notwendig. Die SSK veröffentlichte im September 2022 unter dem Titel „Verwendung von Patienten-Strahlenschutzmitteln bei der diagnostischen Anwendung von Röntgenstrahlung am Menschen“ eine Stellungnahme mit Empfehlungen. In Kapitel 6.9 „Röntgenaufnahmen in der Zahnmedizin“ des Papiers heißt es:
„Die in der Zahnmedizin verwendeten Strahlenenergien und Feldgrößen erzeugen nur Streustrahlenfelder mit geringen Dosen. Patienten-Strahlenschutzmittel werden deshalb nicht benötigt. Selbst bei Untersuchungen mit Panorama-Aufnahmen und dentalen DVT zeigten sich keine signifikanten Dosiseinsparungen durch das Tragen einer Patientenschürze (Rottke et al. 2013a, Rottke et al. 2013b, Schulze et al. 2017b) und in einer Studie (Qu et al. 2012) Einsparungen von 0,015 mSv bei der Organ-Äquivalentdosis der Schilddrüse aufgrund der dorsalen 180°-Rotation. Ein Schilddrüsenschutz kann bei spezieller Begründung und extraoralen Aufnahmen (z. B. Fernröntgen-Seitbild) verwendet werden.“
Die Studienlage zum Nutzen der Strahlenschutzmittel ist uneinheitlich
In der Zahnärzteschaft treffen die Empfehlungen der SSK nicht auf ungeteilte Zustimmung. Im Ausschuss „Röntgen und Strahlenschutz“ der Bundeszahnärztekammer (BZÄK) und den Zentralen Erfahrungsaustauschen zahnärztlicher Stellen zu Patienten-Strahlenschutzmitteln wurde kritisch diskutiert, ob ein völliger Verzicht auf Strahlenschutzmittel in der Zahnheilkunde mit dem ALARA-Prinzip vereinbar sei. Im Jahr 2020 stimmen die zahnärztlichen Experten darin überein, dass die Studienlage zum Nutzen der Strahlenschutzmittel uneinheitlich ist und deshalb an dem bisherigen Vorgehen festgehalten werden solle: Das bedeutet, Strahlenschutzmittel erwachsenen Patienten auf Wunsch und vor allem Kindern weiterhin anzulegen.
In Reaktion auf die SSK-Empfehlungen aus dem September 2022 verweisen Mitglieder des Ausschusses „Röntgen und Strahlenschutz“ der BZÄK darauf, dass trotz der Empfehlungen der SSK in der Zahnheilkunde das ALARA-Prinzip zu beachten ist und für vulnerable Patientengruppen alle Schutzmaßnahmen auszuschöpfen seien. In der gleichen Sitzung berichtet ein bayerischer Vertreter, dass Sachverständige in Bayern explizit das Vorhandensein eines Schilddrüsen-Schutzschildes fordern.
Erika Benavides, Joseph R. Krecioch, Roger T. Connolly, Optimizing radiation safety in dentistryClinical recommendations and regulatory considerations, Published: February 01, 2024, DOI: https://doi.org/10.1016/j.adaj.2023.12.002