"Das Robert Koch-Institut skizzierte auf Grundlage der Erfahrungen mit den Coronaviren SARS und MERS bereits 2012 ein Pandemie-Szenario. Es ist nun praktisch genau so eingetreten. Deutschland hätte genügend Zeit gehabt, sich darauf vorzubereiten." Mit diesen Worten beginnt Ende vergangener Woche eine Nachricht auf dem reichweitenstarken Internetportal web.de – dutzende Publikationen stimmen in den Tenor ein. "Krise verpennt?" oder "Virus-Planspiel endete in echtem Seuchen-Gau" heißt es in der Folge.
Seit 2009 gibt es diese Risikoanalysen
Richtig ist: Seit 2009 gehört es zu den Aufgaben des 2004 gegründeten Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), jedes Jahr ressortübergreifende Risikoanalysen zu erarbeiten. Seit 2012 wurden sieben davon in Form von den Bundestagsberichten veröffentlicht. Und gleich die erste Risikoanalyse 2012 ist aus heutiger Sicht ein Volltreffer. Denn sie beschäftigt sich neben dem Szenario von extremen Schmelzhochwassern in den Mittelgebirgen Deutschlands mit einer Pandemie durch ein mutiertes SARS-Virus.
Richtig ist auch, dass der zweite Teil dieser Risikoanalyse unter fachlicher Federführung des RKI und Mitwirkung weiterer Bundesbehörden entstand und als "Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz" 2012 in Form einer öffentlich zugänglichen Bundesdrucksache im Januar 2013 dem Bundestag vorgelegt wurde.
Es geht um eine hypothetischen Pandemie mit ausgedachtem Virus
Das stiftungsfinanzierte Rechercheportal Correctiv.org als Faktenchecker in der Corona-Krise (zm berichtete) hält diese Risikoanalyse nicht für ein Geheimpapier oder eine Vorhersage der aktuellen Pandemie, sondern für "eine Analyse einer hypothetischen Pandemie mit einem ausgedachten Virus namens ,Modi-SARS'".
Abbildung 1: So sieht der 2012 prognostizierte Verlauf der Pandemie mit einem mutierten SARS-Virus über die Zeit aus. Angegeben wird die Anzahl Erkrankter je nach Schweregrad gemessen an der Gesamtbevölkerung zu einem bestimmten Zeitpunkt in Prozent. | Bundes-Drucksache 17/12051
In Abbildung 2 werden absolute Zahlen angegeben. So geht man vor Einsetzen der Pandemie davon aus, dass die Gesamtbevölkerung suszeptibel ist, weil keine Grundimmunität gegeben ist. Diese Kurve bewegt sich wellenförmig, da suszeptibele Personen trotz durchgemachter Infektion durch eine Virusmutation wieder suszeptibel werden, also re-infiziert werden können.* | Bundes-Drucksache 17/12051
Tatsächlich sind die Parallelen zum aktuellen Geschehen groß. Das Szenario beschreibt eine von Asien ausgehende, weltweite Verbreitung des Virus "Modi-SARS".
Das Szenario ähnelt frappant dem aktuellen Geschehen
Zwei Infizierte reisen nach Deutschland ein, bevor den Behörden die erste offizielle Warnung durch die WHO zugeht. Die beiden Infizierten tragen durch die Kombination aus einer großen Anzahl von Kontaktpersonen und der hohen Infektiosität stark zur initialen Verbreitung bei. Obwohl die laut Infektionsschutzgesetz und Pandemieplänen vorgesehenen Maßnahmen durch die Behörden und das Gesundheitssystem schnell umgesetzt werden, kann die rasche Verbreitung des Virus nicht effektiv aufgehalten werden.
Die weitere Zusammenfassung: Bis nach drei Jahren ein zugelassener Impfstoff in ausreichender Menge vorliegt, gibt es drei Erkrankungswellen:
- nach 300 Tagen: rund 6 Millionen Erkrankte, rund 4,1 Millionen "krankenhauspflichtige" (bzw. 1,1 Millionen "intensivpflichtige") Patienten
- nach 520 Tagen: rund 3 Millionen Erkrankte, rund 2 Millionen "krankenhauspflichtige" (bzw. 0,6 Millionen "intensivpflichtige") Patienten
- nach 880 Tagen: rund 2,3 Millionen Erkrankte, rund 1,6 Millionen "krankenhauspflichtige" (bzw. 0,4 Millionen "intensivpflichtige") Patienten
Ältere Erkrankte sterben, Kinder stecken das Virus weg
Die enorme Anzahl hospitalisierter Patienten übersteigt die vorhandenen Kapazitäten um ein Vielfaches, was eine Triage und Entscheidungen erfordert, wer noch in eine Klinik aufgenommen und dort behandelt werden kann und bei wem dies nicht mehr möglich ist. Als Konsequenz werden viele Erkrankte sterben.
Szenariotechnik
Die Szenariotechnik ist eine Prognosetechnik, die in Politik, Wissenschaft und Wirtschaft zum Einsatz kommt. Ziel ist, mögliche Entwicklungen der Zukunft zu analysieren und zusammenhängend darzustellen. Typisch ist die Analyse von Extremszenarien (positives Extrem-Szenario/Best Case Szenario, negatives Extrem-Szenario/Worst Case Szenario) oder besonders relevanter oder typischer Szenarien (Trendszenario). In den 1970er Jahren. Damals hatten Konzerne wie Shell damit die Ölpreiskrise erfolgreich prognostiziert und Maßnahmen zur Bewältigung vorab entwickelt. Etwa zur selben Zeit warnte der Club of Rome in seinen Studien vor den Folgen grenzenlosen Wachstums für den Planeten. Auch diese Ergebnisse gingen auf die Szenariotechnik zurück.
Für den gesamten zugrunde gelegten Zeitraum von drei Jahren hatten die Autoren mit "mindestens 7,5 Millionen Toten als direkte Folge der Infektion" gerechnet, die Letalität in den verschiedenen Altersgruppen jedoch als stark schwankend angegeben. Während Kinder und Jugendliche in der Regel leichtere Krankheitsverläufe mit Letalität von rund 1 Prozent hätten, läge diese bei den über 65-Jährigen bei 50 Prozent.
Ein Abgleich zeigt: Das Szenario hat das Virus nicht vorhergesagt
Hier können Sie die hypothetischen Annahmen in dem Szenario mit den Einschätzungen und Angaben des RKI (Stand 3. April 2020) zur aktuellen Pandemie abgleichen:
Hypothetische Annahmen versus Realität
Annahme der Risikoanalyse: 3 Tage
Angabe des RKI: im Mittel (Median) bei 5 bis 6 Tage
Annahme der Risikoanalyse: Patienten können sofort mit Beginn der Symptome Viren ausscheiden.
Angabe des RKI: Es wird geschätzt, dass Patienten bereits 2,5 Tage vor Symptombeginn infektiös sind.
Annahme der Risikoanalyse: Fieber (100 Prozent), trockener Husten (100 Prozent), Atemnot (80 Prozent), radiologische Veränderungen, Schüttelfrost (73 Prozent), Übelkeit (70 Prozent), Myalgien (60 Prozent)
Angabe des RKI: Husten (53 Prozent), Fieber (42 Prozent), Schnupfen (23 Prozent), Pneumonie (2 Prozent)
Annahme der Risikoanalyse: rund 10 Prozent (1 bis 50 Prozent, abhängig von Alter und Sekundärerkrankungen)
Angabe des RKI: Dazu liegen keine verlässlichen Daten vor, weil die tatsächliche Anzahl erkrankter Menschen unbekannt ist. Zur Orientierung verweist das RKI auf den Fall-Verstorbenen-Anteil (Case Fatality Rate, CFR). Dafür wird die Zahl der gemeldeten verstorbenen Fälle durch die Zahl der gemeldeten Fälle in einer Population geteilt. Für Deutschland ergibt sich ein Wert von 1,5 Prozent (bei 1.434 gemeldeten Todesfällen und 95.391 gemeldeten Infizierten, Stand vom 6. April 2020, 8:05 Uhr).
Annahme der Risikoanalyse: Zwischen 20 und 30 Prozent der Erkrankten müssen intensivmedizinisch betreut werden (Anm. d. Red.: Unklar ist, ob sich der Anteil auf die Infizierten oder Hospitalisierten bezieht).
Angabe des RKI: Hierzu liegen keine verlässlichen Informationen vor. In einer chinesischen Fallserie wurden 26 Prozent (36 / 138) der Hospitalisierten intensivmedizinisch behandelt, in einer anderen (n = 99) waren es 23 Prozent. In einer Fallserie außerhalb Hubeis wurde dagegen ein Anteil von 2 Prozent (1 / 62) auf einer Intensivstation behandelt.
Annahme der Risikoanalyse: Rund 14 Prozent der Erkrankten werden beatmungspflichtig
Angabe des RKI: Es gibt verschiedene Quellen mit einer weiten Spannweite bezüglich der Häufigkeit einer maschinellen Beatmungspflichtigkeit, dabei scheint der Anteil innerhalb Hubeis mit etwa 20 bis 25 Prozent deutlich höher zu sein als für ganz China (2 bis 6 Prozent).
Hätte die Bundesregierung vorgewarnt gewesen sein müssen? Nun, die Risikoanalyse klassifiziert die Eintrittswahrscheinlichkeit der Pandemie mit einem mutierten SARS-Erreger auf einer Skala von A ("sehr wahrscheinlich") bis E ("sehr unwahrscheinlich") als Klasse C und damit als "bedingt wahrscheinliches" Ereignis – das statistisch in der Regel einmal in einem Zeitraum von 100 bis 1.000 Jahren eintritt.
In einem der ersten Berichte zur Risikoanalyse 2011, der Hintergründe zur politischen Absicht und wissenschaftlichen Methodik beschreibt, heißt es, die "im Rahmen der Risikoanalyse gewonnenen Erkenntnisse müssen den Ausgangspunkt für ein ganzheitliches Risiko- und Krisenmanagement und eine entsprechende gesamtgesellschaftliche Diskussion bilden".
Die Risikoanalyse sei als Daueraufgabe und als Prozess zu verstehen, bei der erst durch das Miteinander von Bürgern, Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Behörden auf Bundes- und Landesebene möglich werde, "die Verwundbarkeit Deutschlands durch Gefahren und mögliche Katastrophen auf ein gemeinsam getragenes Maß (Restrisiko) zu reduzieren".
Ein fiktiver Ereignisverlauf eines denkbaren Extremereignisses
Angesichts der Berichterstattung zur alten Risikoanalyse gab das BBK am 26. März 2020 eine Stellungnahme ab: Die Szenarien stellten keine Prognose oder Vorhersage eines Ereignisses dar, sondern beschrieben einen möglichen fiktiven Ereignisverlauf eines denkbaren Extremereignisses, heißt es darin.
"Bei dem analysierten Pandemieszenario aus 2012 handelt es sich um ein solches hypothetisches Szenario, das einen hypothetischen Verlauf einer Pandemie in Deutschland beschreibt." Ob und welche Maßnahmen in den Ländern auf Grundlage dieser Risikoanalyse getroffen wurden, entziehe sich der Kenntnis des BBK. Die Fortschreibung, Übung und Bereitstellung der nötigen Ressourcen liege in der Verantwortung jeder einzelnen Behörde und jedes einzelnen Unternehmens.
Ergebnisse sollen Entscheidungshilfe der Politik sein
Auf Wunsch der Bundesländer entwickelte das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) ab 2009 eine Methode für die Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz. Methode sowie Aufbau der Risikoanalyse wurden in den Bundestagsberichten 2010 und 2011 publiziert. Die Methode wird im Arbeitsprozess kontinuierlich überprüft und fortentwickelt. Mit der Methode können auf allen administrativen Ebenen Risikoanalysen im jeweiligen Zuständigkeitsbereich durchgeführt werden, deren Ergebnisse den Verantwortlichen als Entscheidungsgrundlage im Risiko- und Krisenmanagement dienen. Das Bundesministerium des Innern berichtet seit 2010 jährlich den Deutschen Bundestag über die Ergebnisse der Risikoanalysen in Form eines Berichts. Die vollständige Risikoanalyse wird dabei als Anhang dem jeweiligen Bericht beigefügt, die wiederum auf den Seiten des Deutschen Bundestages als Bundesdrucksache publiziert werden.
*Die Modellierung des Verlaufs geht von folgenden Annahmen aus: Die Gesamtbevölkerung beträgt 80 Millionen Einwohner. Durchschnittlich beträgt die Latenzzeit 3 Tage, die Zeit vom Einsetzen der Infektiosität bis zur Ausprägung von Symptomen 0,1 Tage, die Länge der infektiösen Phase 13,1 Tage, die Krankheitsdauer 13,5 Tage; bei Personen, die hospitalisiert werden müssen, liegt die Dauer bei 19 Tagen, die durchschnittliche intensivmedizinische Betreuung dauert 13,5 Tage. Es wird angenommen, dass eine Person nach Durchleben der Infektion mit Modi-SARS für 360 Tage immun ist, danach kann sie durch eine mutierte Version des Virus wieder infiziert werden. Die Modellierung erfolgt anhand der Bevölkerungsdichte, sie bezieht Faktoren wie unterschiedliche Krankheitsverläufe oder Mortalität in verschiedenen Altersgruppen bzw. Regionen nicht ein.
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