Bestandsaufnahme zu Covid-19

Sachverständigenrat: "Datenschutz darf nicht zum Tatenschutz werden"

mg/pm
Der Sachverständigenrat Gesundheit fordert einen Digitalisierungsschub für das Gesundheitswesen: Die Pandemie zeige fatale Strukturprobleme auf, sagt Prof. Dr. Beate Jochimsen und benennt Lösungsansätze.

Sie haben zusammen mit den anderen Mitgliedern des ExpertInnengremiums außerplanmäßig eine aktuelle Bestandsaufnahme des deutschen Gesundheitswesens veröffentlicht. Weshalb?

Prof. Dr. Beate Jochimsen:

Die weltweite Corona-Krise, die wir gerade erleben und mit allen Mitteln versuchen so gut es geht einzudämmen, bringt einige Probleme auch im deutschen Gesundheitswesen deutlich ans Licht. Viele dieser Probleme, wie der mancherorts bestehende Pflegekräftemangel, ungeklärte Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern oder eine in vielen Bereichen noch auf dem Austausch von Faxen bestehende Kommunikation, sind keineswegs neu, aber sie erfahren im Moment eine nie dagewesene Aufmerksamkeit. Das ist eine große Chance, um unseren Änderungsvorschlägen Nachdruck und Gehör zu verschaffen.

Liegen Fehler im System und wenn ja, wo?

Ursachen sehe ich beispielsweise im nicht immer gut aufeinander abgestimmten Nebeneinander von Bund- und Länderkompetenzen im Gesundheitswesen und im fehlenden digitalen Register- und Meldesystem. Ein deutschlandweites Register für freie und belegte Intensivbetten musste beispielsweise erst angelegt werden.

Deutlich wird dies zudem an den Meldewegen von COVID-19-Infektionen und Genesungen und Maßnahmen zur Verhinderung der Ausbreitung. Die Datenübermittlung zwischen Gesundheitsämtern und Robert Koch-Institut könnte viel sicherer und schneller erfolgen, die Auswertung und Diagnostik zielgenauer sein, wäre alles klarer geregelt und digitalisiert.

Zur Person

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Wie? Könnten Sie ein konkretes Beispiel nennen?

Mit einer sektorenübergreifenden elektronischen Patientenakte könnte man die Risikogruppen besser identifizieren sowie verlässlicher und einfacher auswerten, welche Vorerkrankungen im Zusammenhang mit dem Coronavirus besonders fatal sind. Die elektronischen Patientenakte kommt aber erst 2021. Diagnostik und Behandlung wären auf der Basis digital verfügbarer Informationen effizienter abzustimmen und zu koordinieren zwischen Hausarzt, Facharzt und Krankenhaus.

Im aktuellen Papier des Sachverständigenrats ist die Rede von einer strukturellen Abschottung zwischen Kliniken und Praxen. Warum gibt es diese?

Das ist vor allem der rückständigen Digitalisierung geschuldet. Sie ist in den letzten Jahrzehnten nicht konsequent genug vorangetrieben worden. Es kam immer wieder zu Verzögerungen bei der Umsetzung. Hierfür gibt es technische, rechtliche, psychologische und organisatorische Ursachen. Im Probebetrieb tauchen Probleme bei der Softwareinstallation in den Arztpraxen und Sicherheitslücken auf.

Das wirkt sich auch negativ auf die Bewältigung der gegenwärtigen Pandemie aus. In der Corona-Krise wird einmal mehr deutlich, dass durch Patientenverwaltung auf Papierkarteikarten und der Kommunikation zwischen Ärzten per Fax das deutsche Gesundheitswesen in einer Koordinationskrise steckt. Davon profitiert niemand, es lähmt. Wichtig ist jedoch, alle Beteiligten auf dem Weg der Digitalisierung mitzunehmen, Vorbehalte und Ängste zu überwinden – und zwar sowohl auf Seiten der Ärztinnen und Ärzte, als auch bei den Patientinnen und Patienten.

Welche Rolle spielt der Datenschutz?

Der Schutz von Patientendaten ist enorm wichtig, um Diskriminierung und Benachteiligung zu verhindern. Doch die Nutzung von Gesundheitsdaten, deren digitale Erfassung und Auswertung, sind auch wichtig, um besser forschen zu können und damit weltweit eine bessere Patientenversorgung zu ermöglichen.

Datenschutz darf nicht zum Tatenschutz werden und Menschenleben kosten. In einer Solidargemeinschaft halte ich es – gerade auch aus ethischer Sicht – sogar für geboten, die Daten, die durch solidarisch finanzierte Gesundheitsversorgung zustande kommen, auch dem Gesundheitssystem zur Verfügung zu stellen. Damit kommen sie dem Wohl aller Patienten und Patientinnen zugute, der heutigen und der zukünftigen.

Sie sprechen vom „solidarisch finanzierten Gesundheitssystem“. Gelten Ihre Forderungen auch für privat Versicherte?

Gesellschaftliche Solidarität ist und sollte an die rechtliche Form der Krankenversicherung geknüpft sein. Da privat Versicherte vom medizinischen Fortschritt, der unter anderem aus der Auswertung großer Datenmengen vorangetrieben werden kann, ja genauso profitieren wie gesetzlich Versicherte, ist es für sie ebenso geboten, ihre Daten zur Verfügung zu stellen. Ich sehe da keinen Unterschied. Kann die Digitalisierung auch dazu beitragen, die Engpässe im Pflegebereich zu überwinden? Überwinden würde ich nicht sagen, aber eine digitale Vernetzung ist sicher eine Stellschraube zur Entlastung des Personals.

Haben Sie ein praktisches Beispiel dafür?

Durch die digital unterstützte Überwachung von Patientinnen und Patienten, indem Vitalparameter wie Körpertemperatur, Blutdruck oder Herzschlagfrequenz telemedizinisch erfasst werden, können Arztpraxen und Krankenhäuser entlastet werden. Das Personal wird frei für andere Aufgaben und in solchen Situationen wie der COVID-19-Pandemie auch vor Infektion geschützt.

Was bleibt von der Corona-Krise?

Wird die Politik Lehren ziehen aus dem Digitalisierungsnotstand?

Mit der Einrichtung eines Registers für Intensivbetten sowie einigen jüngst verabschiedeten Gesetzen, zum Beispiel zu Apps auf Rezept, hat die Politik ja bereits begonnen. Ich hoffe nun allerdings, dass sie auf dem eingeschlagenen Weg weiter mutig und zügig voranschreitet.

Das Interview führte Sylke Schumann, Pressesprecherin der Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) Berlin.

Die HWR Berlin ist mit mehr als 11.500 Studierenden eine der großen Hochschulen für angewandte Wissenschaften. Das Studiengangsportfolio umfasst Wirtschafts-, Verwaltungs-, Rechts- und Sicherheitsmanagement sowie Ingenieurwissenschaften in mehr als 60 Studiengängen auf Bachelor-, Master- und MBA-Ebene. 

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