Fortbildung: Toxikologie und Allergologie

Zahnkunststoff-Materialien

Franz-Xaver Reichl
Immer mehr Menschen wollen zahnfarbene Materialien als Zahn-Restaurationswerkstoffe. Dabei soll natürlich gewährleistet sein, dass diese Materialien nicht nur gut aussehen und gut halten, sondern dass sie auch gut verträglich sind. Wachsendes Interesse erlangen deshalb Fragen nach der Toxikologie, Biokompatibilität und Verträglichkeit dieser Werkstoffe.

Komposite sind Kunststoffe, die direkt in die Kavität appliziert werden (Abbildung 1a). Sie bestehen aus einer organischen Matrix mit eingebetteten anorganischen Füllmaterialien (zum Beispiel Quarze) und Zusatzstoffen (Abbildung 1b).

Als Monomere werden meist Dimethacrylate verwendet, die in schwere Basismonomere (zum Beispiel Bisphenol A glycidylmethacrylat, BisGMA; Urethandimethacrylat, UDMA) und leichte Komonomere (wie Triethylenglycoldimethacrylat, TEGDMA; Hydroxyethylmethacrylat, HEMA) unterteilt werden (Abbildung 1b). (Ko)Monomerverbindungen werden in der Zahnmedizin nicht nur in Komposits sondern auch in Dentinadhäsiven, kunststoffhaltigen Zementen, Klebstoffen für Inlays, Kronen, Veneers, orthodontische Brücken, Keramiken sowie in Unterfüllungen für Amalgam- und Goldfüllungen und als Fissurenversiegler verwendet. Die Polymerisierung ist nach der Lichthärtung nie vollständig und es verbleiben unpolymerisierte Rest-(Ko)Monomere.

Hauptursache des hohen Rest-(Ko)Monomeranteils der Kompositkunststoffe ist der niedrige Grad der (Ko)Monomer-Polymer-Konversion. Er beträgt je nach Schichttiefe 20 bis 50 Prozent [Ruyter IE. , 1981; Reinhardt KJ, 1991]. Chemisch freie, nicht vernetzte (Ko)Monomere können durch Speichelzutritt aber auch wie durch Nahrung beziehungsweise Getränke (wie hochprozentige Alkohole) aus der Füllung ausgelaugt werden [Reichl FX, 2012] und dann verschluckt werden oder sogar über den Dentinliquor durch das Dentin zum Zahnnerv (Pulpa) diffundieren [Gerzina TM, 1994; Gerzina TM, Wing G.,1991; Spahl W, Budzikiewicz H, Geurtsen W., 1998].

Nach der Freisetzung in die Mundhöhle können die ausgewaschenen (Ko)Monomerverbindungen auch in unmittelbaren Kontakt mit den Zellen der hoch proliferativen Mundschleimhaut treten (wie Gingivazellen). Die durch das Dentin diffundierenden (Ko)Monomermoleküle gelangen in Kontakt mit den vitalen Zellen des Zahnmarks, unter anderem Pulpafibroblasten [Gerzina TM, 1994]. Im Weichgewebe des Zahnmarks erhalten die freigesetzten (Ko)Monomere außerdem Anschluss an die systemische Blutzirkulation. Neben Abrasion, Verschleiß und Elution werden freigesetzte (Ko)Monomere aus Kompositfüllungen nach dem Verschlucken im Darm nahezu vollständig resorbiert [Reichl FX et al., 2002; Reichl FXet al. 2002b; Reichl FX et al., 2008; Reichl FX, et al. 2001]. Abradierte Partikel mit einer Größe bis zu 100 µm können sogar inhaliert werden und so über die Lunge in die Blutbahn gelangen.

Beim Verblasen von Dentinadhäsiven ohne Kofferdam können (Ko)Monomere auf die Mundschleimhaut gelangen und dort resorbiert werden. Beträchtliche Mengen werden dabei auch inhaliert und in der Lunge resorbiert [Hume WR, Gerzina TM. , 1996]. Durch den Hautkontakt mit der unpolymerisierten Kompositpaste können Allergien ausgelöst werden [Aalto-Korte K, 2007]. Handschuhe bilden nur einen geringen Schutz [Andreasson H et al., 2003]. Sowohl die pulmonal als auch die intestinal aufgenommenen (Ko)Monomere aus den Kompositen können nach der Resorption im Organismus verstoffwechselt werden.

Toxizität von Kunststoff-Materialien für Zähne

Um die Toxikologie/Biokompatibiltät von Zahnwerkstoffen ermitteln und vergleichen zu können, müssen bestimmte Testverfahren eingesetzt werden. Man unterscheidet hier In-vitro- und In-vivo-Methoden, sowie Tests, zum Beispiel auf Cytotoxizität, Mutagenität, Cancerogenität, Embryotoxizität oder Teratogenität. Ein wichtiger Aspekt bei der Bewertung der Toxikologie ist die Aufklärung der Resorption, Distribution, Metabolismus und Elimination einer Substanz im Organismus. Nur resorbierte Substanzen können Schadwirkungen auslösen.

Ein wichtiger Punkt ist die Aufdeckung des Metabolismus der zu untersuchenden Substanz. In Tierstudien konnte gezeigt werden, dass die aus Komposits freigesetzten und verschluckten (Ko)Monomere HEMA, TEGDMA und BisGMA vollständig resorbiert und im Körper zu Kohlendioxyd abgebaut werden [Reichl FX et al., 2002; Reichl FXet al. 2002b; Reichl FX et al., 2008; Reichl FX, et al. 2001]. Es konnte ferner gezeigt werden, dass bei dieser Verstoffwechselung Intermediate gebildet werden können, die ihrerseits wieder starke toxische Wirkungen zeigen können – also „gegiftet“ – werden.

Beim Abbau von HEMA und TEGDMA konnte in menschlichen Lebermikrosomen sogar die Bildung des Epoxy- Intermediats 2,3-Epoxymethacrylsäure nachgewiesen werden [Seiss M et al., 2007; Schwengberg S et al., 2005; Reichl FX et al., 2002]. Epoxy-Verbindungen gelten als cancerogene und mutagene Verbindungen [Durner J et al., 2010]. Auch für mehrere (Ko)Monomerverbindungen zahnärztlicher Füllungswerkstoffe, beispielsweise für TEGDMA, BisGMA und Glycidylmethacrylat (GMA) waren in mehreren In-vitro-Studien Veränderungen der Erbsubstanz zu beobachten [Schweikl H, Schmalz G., 1999; Feldman D, Krishnan A, 1995].

Nach den Ergebnissen anderer Studien wurde postuliert, dass den mutagenen Effekten von TEGDMA möglicherweise die Deletion größerer DNA-Sequenzen sowie deren Transposition auf benachbarte DNA- Regionen zu Grunde liegen [Schweikl H, Schmalz G. , 1999]. Auch für die hochmolekularen Methacrylate BisGMA und Urethan-dimethacrylat (UDMA) konnten an HeLa-Zellkulturen genotoxische Effekte gezeigt werden [Heil J et al., 1996].

Für eine wissenschaftlich fundierte Risikoabschätzung muss jedoch bekannt sein, wie viel von einer Substanz aus den Materialien freigesetzt wird, wie viel tatsächlich vom Organismus resorbiert wird und ab wann mit gesundheitlichen Problemen bei Betroffenen zu rechnen ist.

(Ko)Monomere erreichen im Speichel des Menschen nach der Elution aus Komposit-Füllungen maximal ‚nur’ mikromolare Konzentrationen. Toxische Wirkungen dieser Stoffe treten jedoch erst im millimolaren Bereich auf. Signifikante mutagene Effekte in Zellen treten erst bei (Ko)Monomer- Konzentrationen in vitro auf, die um den Faktor 5000 höher liegen, im Vergleich zur physiologischen Situation bei Komposit- Trägern.

Deshalb gelten Komposits aus toxikologischer Sicht als sichere Zahnmaterialien und der Leitsatz von Paracelsus gilt natürlich auch hier: „Die Dosis macht den Stoff zum Gift“. Dennoch ist zu beobachten, dass bei einer steigenden Anzahl von Patienten nach der Zahnrestauration, zum Beispiel mit Kunststoff-Zahnfüllungen, Nebenwirkungen auftreten.

###more### ###title### Nebenwirkungen bei Patient und Zahnarztteam ###title### ###more###

Nebenwirkungen bei Patient und Zahnarztteam

Zunehmend treten Atemwegserkrankungen, allergischen Reaktionen und Überempfindlichkeitsreaktionen bei zahnärztlichem Personal und den Patienten auf.

Denn Methacrylate gelten als potente Allergene. Die Nebenwirkungen können von unangenehmen lichenoiden Reaktionen bis hin zu schwerwiegenden allergischen Symptomen (wie Asthma) reichen [Lindstrom M et al., 2002; Piirila P et al., 2002; Kanerva L. ,2001; Hamann CP, Rodgers PA, Sullivan KM., 2004] (Abbildungen 2 und 3).

Mittlerweile konnten als Auslöser solcher Reaktionen die in der Zahnmedizin häufig verwendeten Methacrylate, wie zum Beispiel HEMA und TEGDMA, eindeutig identifiziert werden.

Dabei sind nicht nur Patienten, sondern zunehmend auch Zahntechniker, zahnärztliches Personal und natürlich Zahnärzte betroffen, die mit diesen Stoffen während der Arbeit ständig exponiert sind. In Untersuchungen konnte festgestellt werden, dass zum Beispiel das in der Zahnmedizin sehr häufig eingesetzte Methylmethacrylat (MMA) in der Raumluft in Zahnarztpraxen Konzentrationen bis zu 30 mg/m

3

erreichen kann, was bereits einem Siebtel des Arbeitsplatzgrenz-(AGW)-Wertes entspricht [Marquardt W, Seiss M, Hickel R, Reichl, 2009]. Die maximalen Konzentrationen in der Luft beim Legen von Füllungen lagen bei 45 µg/m

3

für HEMA, 13 µg/m

3

für EGDMA und 45 µg/m

3

für TEGDMA [Marquardt W, Seiss M, Hickel R, Reichl FX, 2009]. Gutes Lüften und Aufbewahrung/Entsorgung von Zahnkunststoff-kontaminiertem Müll in gasdichten Behältnissen reduziert ganz massiv das Expositions- und Allergierisiko für Betroffene in Zahnarztpraxen und Labors.

Die Allergien bei Beschäftigten in Dentalberufen in Deutschland gegenüber Methacrylaten beträgt heute rund 45 Prozent. Die Allergien gegen zahnärztlich verwendete Methacrylate stiegen in den letzten zehn Jahren beim zahnärztlichen Personal um etwa das Doppelte an.

Es fällt auf, dass insgesamt nur sehr wenige Studien (vorwiegend aus skandinavischen Ländern) in der Literatur zur Allergie von Zahnkunststoff-Materialien verfügbar sind. Als Hauptursache für die Zunahme der allergischen Reaktionen wird in diesen Studien übereinstimmend die starke Zunahme der Verwendung zahnfarbener kunststoffbasierter Materialien angegeben [Andrews LS, Clary JJ., 1986]. Manche Autoren nehmen dies nun zum Anlass, diese Ergebnisse zusammen mit den toxischen Effekten auf Zellebene auch auf die Entstehung von anderen Krankheiten zu übertragen [Neiss J., 2012]. Hier besteht die Gefahr, dass die „Laienpresse“ dies nun zum Anlass nimmt, auch ein Gefahrenpotenzial sogar für die Auslösung schwerer Erkrankungen bei Betroffenen ‚heraufzubeschwören‘, so wie dies bereits für Amalgam damals geschehen war.

In weiteren eigenen Untersuchungen wurde von vielen kommerziell verfügbaren Komposits/Dentinadhäsiven/Prothesenwerkstoffen und Vielem mehr die Freisetzungsrate solcher Inhaltsstoffe qualitativ und quantitativ bestimmt. Durch diese Untersuchungen konnte die weltweit größte Datenbank zur Freisetzungsrate dieser Inhaltsstoffe aus Kunststoff-Zahnmaterialien aufgebaut werden.

In Zusammenarbeit mit Kliniken an der LMU München wurde ein Allergie-Testverfahren entwickelt, zum Nachweis einer eventuell bestehenden Allergie gegenüber Inhaltsstoffen aus Zahnmaterialien. Patienten mit nachgewiesener Allergie gegenüber solchen Stoffen, sollten kein Zahnersatz- material erhalten, das diese Stoffe in den Körper freisetzen kann. Unter Nutzung dieser Datenbank ist es auch möglich festzustellen, ob der Patient ein Zahnersatzmaterial im Mund trägt, das verantwortlich ist für seine bestehende Symptomatik. Heute ist es für den betroffenen Patienten möglich, nach einer Allergietestung das für ihn optimalste, das heißt verträglichste Zahnmaterial vor einer anstehenden Zahnrestauration auszuwählen.

Hilfe bietet das „Internationale Beratungszentrum für die Verträglichkeit von Zahnmaterialien (BZVZ)“ an der LMU in München ( www.dentaltox.com ).

Univ.-Prof. Dr. Dr. Franz-Xaver Reichl,Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie der LMUund Walther-Straub-Institut für Pharmakologie und Toxikologie der LMUNussbaumstr. 26, 80336 München, E-mail:Ergänzt durch den Autor am 9. Februar 2017. E-mail:

Melden Sie sich hier zum zm-Newsletter des Magazins an

Die aktuellen Nachrichten direkt in Ihren Posteingang

zm Heft-Newsletter


Sie interessieren sich für einen unserer anderen Newsletter?
Hier geht zu den Anmeldungen zm Online-Newsletter und zm starter-Newsletter.