Günter Grass und die Zähne

„Vor Jahren schon hatte sich mein Oberkiefer entvölkert“

Heftarchiv Gesellschaft
Kay Lutze
Am 16. Oktober wäre Günter Grass 90 geworden. Der Schriftsteller hatte ein spezielles Verhältnis zu seinen Zähnen, das er auch literarisch verarbeitet hat. Unser Autor ist den Bissspuren und dentalen Abdrücken im Werk des Literaturnobelpreisträgers gefolgt.

Als Günter Grass 1999 die Nachricht erreichte, dass er den Literaturnobelpreis erhält, ließ er sich nicht von einem lange vereinbarten Zahnarzttermin abbringen. Er soll gesagt haben: „Das hilft vielleicht auch bei der Beruhigung der Nerven.“

Grass scheint also keine negativen Erinnerungen an Zahnarztbesuche zu haben, was für seinen Zahnarzt, Dr. Anatol Gotfryd, spricht (siehe auch „Der Zahnarzt von Günter Grass“, zm 17/2017, S. 82–83). Vielleicht waren die Grass‘schen Zähne selbst der Auslöser seiner Probleme. Der Schriftsteller litt an einer Progenie, die Grass schließlich auch veranlasste, fortwährend Oberlippenbart zu tragen. Die Progenie führte schließlich auch zum frühen Verlust der eigenen Zähne und machte häufige Zahnarztbesuche notwendig. Daher ist es nicht verwunderlich, dass diese Thematik ihn in seinem Schaffen inspirierte und in sein Werk Eingang fand.

Fiktive Dialoge mit dem Zahnarzt

In seinem dritten Roman „örtlich betäubt“ von 1969 lässt er einen vierzigjährigen Studienrat aus West-Berlin, Eberhard Starusch, über dessen Niederlagen im Leben resümieren – und künftige fürchten. In fiktiven Dialogen mit einem Zahnarzt versucht er sich zu rechtfertigen. Der Protagonist des Romans stammt wie Grass selbst aus Danzig und leidet ebenfalls an Progenie [Vgl. Grass, Günter: örtlich betäubt, Neuwied/Berlin, 1969, S.38]. So lässt der Schriftsteller den Studienrat sagen: „Ich verlor meine Milchzähne im Hafenvorort Neufahrwasser. Die Leute dort, Stauer und Schichauarbeiter [Anm. des Autors: der Schichau-Werft Danzig], hielten es mit dem Kautabak; so sahen auch ihre Zähne aus“ [Grass, 1969].

Nicht zufällig wird die Zahnarztpraxis in der folgenden Szene zur Bühne der politischen Auseinandersetzung, spielt dieser Roman doch in der politisch aufgewühlten Zeit Ende der 1960er-Jahre: „Doch der verlangt, daß sich der Patient von seinen Aufrufen distanziert: ‚Allenfalls will ich dulden, daß Chlorophyll-Zahnpasten, die fälschlich vorgeben, ein wirksames Kariesschutzmittel zu sein, radikal abgeschafft werden. Der Studienrat zögert, schluckt, will nicht widerrufen. (Meine 12a schaute mir feixend zu.) Wahllos zitiert er Marxengels und sogar Seneca, der, was Verdammung des Überflusses betreffe, einer Meinung sei mit Marcuse … (Ich scheute mich nicht, dem späten Nietzsche das Wort zu geben: ‚Schließlich wird mit der Umwertung aller …‘).

Aber der Zahnarzt besteht auf Gewaltverzicht und droht, bei ausbleibendem Widerruf, die Anästhesie des Unterkiefers zu unterlassen. Fürsorgeentzug. Das Zeigen der Folterwerkzeuge. Die dentale Bedrohung: ‚Das heißt, mein Lieber, wenn Sie weiterhin der Gewalt das Wort reden wollen, werde ich Ihnen die Zinnkappen ohne örtliche Betäubung abnehmen, und auch die Brücken, alle beide, werde ich …‘ Da kapituliert der an sich liberale und nur uneigentlich radikale Studienrat (Meine 12a zischte mich nieder) und bittet seinen Zahnarzt, den Hinweis auf die aufräumenden Bulldozer nicht wörtlich zu nehmen, vielmehr die genannten, an sich nützlichen (ich sagte ‚lebensbejahenden‘) Fahrzeuge als Gleichnis zu werten: ‚Selbstverständlich will ich keinen Bildersturm und alleszerstörenden Anarchismus …‘ - ‚Sie widerrufen also?‘ - ‚Ich widerrufe.‘“ [Grass, 1969, S.137].

In der Literaturkritik des Spiegel zum Roman war dann zu lesen: „Gewiß wäre es falsch, den vom ‚radikalen Aufrührer‘ zum ‚gemäßigten Studienrat‘ gereiften-reduzierten Starusch seinem Autor gleichzusetzen. Schon der Verfasser der ‚Blechtrommel‘ ist kein ‚literarischer Jakobiner‘ gewesen, wie Enzensberger gleich damals erkannt hat.

Graßens Ansichten, seine Ablehnung politischer Radikalität und ‚übermenschlicher‘ Ideologie sind dieselben geblieben“ [Der Spiegel 33/1969, S.102]. Als dramatisches Konzentrat eines Teils von „örtlich betäubt“ entstand 1968 das Theaterstück „Davor“, das seine Uraufführung im Februar 1969 am Schiller-Theater Berlin unter der Regie von Hans Lietzau hatte.

Höllengelächter mit dem Letztzahn

Grass griff in seinem Werk immer wieder nach den Zähnen:

Etwa in einem Hörspiel aus dem Jahr 1958, das den Titel „Zweiunddreißig Zähne“ trug. „Anhand der absurden Handlung – der Gegenspieler verfolgt den Helden fünf Akte lang und versucht ihn zum gemeinsamen Benutzen einer Zahnbürste zu überreden – wird die Verstrickung des Menschen in Zwänge und eigene Schwächen verdeutlicht, sowie seine Unfähigkeit, diese zu überwinden und wirklich frei zu sein.“

Das Hörspiel wurde 1959 im Süddeutschen Rundfunk ausgestrahlt. „Die heiteren Zähne und das aufgeräumte Herz“ war der Titel einer Festrede, die Grass 1998 zur Vernissage „Wörtliche Bilder“ von Prof. Dr. Volker Neuhaus in Hürth bei Köln hielt.

„Ach, wie unschuldig perlten sie. Und als ihre Zeit vorbei war, sie alle ausgewandert waren, glaubte ich voreilig – kaum wuchsen die zweiten nach –, erwachsen zu sein. Es sind, wie nach Vorschrift, zweiunddreißig gewesen. Eine einprägsame Zahl, wenngleich mein mit der Pubertät zutage tretender Unterbiss – fachärztlich Progenie genannt – die vorzeitige Minderung des Bestands ankündigte.“

Günter Grass in dem Gedicht „Abschied von restlichen Zähnen“

In seinem letzten Buch, erst nach seinem Tod 2015 veröffentlicht, ist dem Dichter die Geschichte seines Zahnstatus einen ganzen Abschnitt wert. In „Vonne Endlichkait“ beschreibt Grass den „Abschied von restlichen Zähnen“: „Vor Jahren schon hatte sich mein Oberkiefer entvölkert. Und im Unterkiefer gab nur kümmerlicher Bestand dem künstlichen Gebiß Halt […] Nie verriet Klappern meinen dentalen Zustand […] Und nun ist es nur noch ein einziger, mithin lediger Zahn, der mir Standfestigkeit beweisen möchte […] Einzahn, Letztzahn, nur tauglich, mit ihm meine jüngsten Enkelkinder zu schrecken, indem ich offenen Mundes Höllengelächter mime“ [Grass, Günter: Vonne Endlichkait, Göttingen, 2015, S. 30].

Die Zähne thematisiert Grass auch in seiner Lyrik. So dichtet er im Gedicht „Frost und Gebiss“ humorvoll: „Ein Schwein, nun auferstanden in Sülze, zittert klappert, weil noch zwei Zähne einander finden, tief im Gelee.“ Und „In eigener Sache“ heißt es: „Das alles ist üble Nachrede, und Wahrheit schreibt so: Manchmal quält mich Zahnschmerz, dann geht es mir wieder besser“ [Grass, Günter: Werkausgabe, Bd. 1, Gedichte und Kurzprosa, Göttingen, 1997, S. 102, 106].

In seinem Gedicht „Wegzehrung“ wird noch einmal der Wunsch nach guten Zähnen deutlich. Für einen Menschen, der an Progenie leidet, ist das Beißen von Nüssen nicht so einfach – und daher ein schöner, jenseitiger Wunsch, es noch einmal richtig zu können: „Mit einem Sack Nüsse will ich begraben sein und mit neuesten Zähnen. Wenn es dann kracht, wo ich liege, kann vermutet werden: Er ist das, immer noch er“ [Freipass, Schriften der Günter und Ute Grass Stiftung, Bd.1, Hg. Volker Neuhaus, Per Øhrgaard, Jörg-Philipp Thomsa, 1. Auflage, Berlin, 2015, S. 134].

Kay Lutze,
Historiker und Fachjournalist

Kay Lutze

Historiker, M.A.

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