Mit dem Dentalmuseum durch 2025 – Teil 12

Der Schädel der Schande

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Die Geschichte der Zahnheilkunde im Dentalmuseum bietet mehr als alte Instrumente oder die x-te Apollonia. Museumsleiter Andreas Haesler will umfassend erzählen, auch disziplinüberschreitend und kulturhistorisch. In seiner diesjährigen Sonderausstellung hat er den Zahnhalteapparat – wörtlich – zerlegt in „Zahn I Halte I Apparate“ und diverse „Apparate“ ausgepackt und neu arrangiert, die die Zähne halten oder die von Zähnen gehalten werden.

Manchmal muss eine zwölf Jahre alte Geschichte noch einmal erzählt werden: Shena Hardin hatte es eilig. Da hielt sie es für eine gute Idee, einen vor ihr haltenden Schulbus rechts auf dem Gehweg zu überholen, direkt vor dem Eingang einer Kindertagesstätte. Videoaufnahmen belegten das Manöver, also ging es vor Gericht. Neben dem erwartbaren Führerscheinentzug und einer Geldstrafe verurteilte das Gericht sie dazu, an zwei Tagen öffentlich Buße zu tun. Sie musste morgens für jeweils eine Stunde an einer Straßenecke stehend in der Öffentlichkeit ein Schild um den Hals tragen mit der Aufschrift „Only an idiot would drive on the sidewalk to avoid the school bus.” („Nur ein Idiot würde auf dem Gehsteig einen Schulbus überholen.") Natürlich übertrug ein Fernsehsender live (aber das ist eine andere Geschichte). Das war anno 2012 in Cleveland, Ohio.

Und wirkt selbst beim Wiederlesen unfassbar anachronistisch. Denn es erinnert an die Rechtsprechung im dunklen Mittelalter, als Verurteilte an den (berüchtigten) Pranger – auf die Schandbühne – gestellt wurden. Wesentlich für die Wiederherstellung von Recht und Ordnung war damals die öffentliche Schande, der Ehrenraub coram publico. Und wer die Demütigung und Erniedrigung über den Tod hinaus verlängern wollte, hängte die abgeschlagenen Köpfe der Verbrecher und Feinde eben öffentlich auf. Der „Schandschädel“ übertrug die Ehrlosigkeit auf die Familie bis in die nächste Generation oder zementierte die Erbfeindschaft nach außen.

Der Ahnenschädel der Asmat liegt neben der Navajo-Kette

Die Nomenklatur hat Haesler erdacht, es ist kein standardisierter Fachbegriff, Wikipedia liefert keine Treffer. Dieser Kniff ermöglicht es ihm, in der Ausstellung verschiedene „Schädel-Arten“ nebeneinander zu sortieren. Ausgestellt sind ein Vampir-Schädel, bei dem die Alveolen präpariert wurden, indem Elfenbeinspitzen die Eckzähne ersetzen; ein Kupfersulfit-Schädel, der vom Grünspan einer Totenkrone verfärbt wurde; und ein Schwurschädel aus dem 18. Jahrhundert, auf den Angeklagte ihren Eid ablegen mussten.

Doch man findet auch den positiv konnotierten Ahnenschädel der Asmat aus Neuguinea. Als Initiationsritus ins Erwachsenenalter modelliert jeder Junge solch einen Schädel seiner Vorfahren – schmückt ihn auch mit fremden Zähnen – und besinnt sich so seiner Herkunft. Der Schädel als identitätsstiftende Ahnenverehrung.

Neben die Zahnhalteapparate-Schädel hat Haesler Exponate gestellt, die zeigen, was Zähne halten – im doppelten Sinn von festhalten und versprechen. Das frühmittelalterliche Amulett eines Wikingerkönigs, hier kombiniert mit einem Haifischzahn, stand für die Furchtlosigkeit gegenüber der stürmischen See. Die Navajo-Halskette mit den Bärenzähnen dokumentierte die Sonderstellung der Medizinmänner. Und das von Warzenschweinzähnen gehaltene Tablett „made in italy“ um 1920 liegt neben einem religiös verehrten, über 20 Millionen Jahre alten Megalodon-Zahn.

Ein abenteuerlicher Streifzug durch die Disziplinen und die Geschichte.

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