Wegbereiter der Zahnheilkunde – Teil 18

Karl Schuchardt – der wirkmächtigste Nachkriegs-Chirurg

Dominik Groß
Karl Schuchardt (1901–1985) war der wohl einflussreichste Kieferchirurg in der Generation unmittelbar nach Georg Axhausen (1877–1960), Wolfgang Rosenthal (1882–1971) und Martin Waßmund (1892–1956), die dem Fach Mund-Kiefer-Gesichts-Chirurgie den Weg bereitet hatten. Schuchardts prägende Wirkung erschließt sich bereits beim Blick auf seine Schüler: 13 seiner Mitarbeiter konnten sich unter seiner Ägide habilitieren, acht wurden Ordinarien und zehn weitere leiteten entsprechende Fachabteilungen.

Karl Schuchardt (1901–1985) war der wohl einflussreichste Kieferchirurg in der Generation unmittelbar nach Georg Axhausen (1877–1960), Wolfgang Rosenthal (1882–1971) und Martin Waßmund (1892–1956), die dem Fach Mund-Kiefer-Gesichts-Chirurgie den Weg bereitet hatten. Schuchardts prägende Wirkung erschließt sich bereits beim Blick auf seine Schüler: 13 seiner Mitarbeiter konnten sich unter seiner Ägide habilitieren, acht wurden Ordinarien und zehn weitere leiteten entsprechende Fachabteilungen. 

Schuchardt wurde am 24. Dezember 1901 als Sohn des Dentisten Johannes Schuchardt in Itzehoe geboren. Nach dem Abitur schrieb er sich 1921/1922 für das Studium der Zahnheilkunde in Freiburg ein. 1922 wechselte er nach Kiel, wo er zusätzlich das Fach Medizin belegte. 1925 erlangte er die Approbation als Zahnarzt. Nach einem kurzen Studienaufenthalt in München kehrte er 1926 nach Kiel zurück, schloss dort 1928 das Medizinstudium ab, erhielt die ärztliche Approbation und wurde zum Dr. med. promoviert [Riemer, 2005]. Im selben Jahr begann er als Volontärassistent bei Waßmund auf der Kieferstation des Rudolf-Virchow-Krankenhauses in Berlin. 1929 heiratete er seine jüdische Kollegin Dr. med. Eva Ries. Das Paar zog nach Norddeutschland, wo Schuchardt sich als Zahnarzt in Itzehoe niederließ. 1930 schloss er im 70 Kilometer entfernten Kiel die zahnärztliche Promotion ab und erlangte den Dr. med. dent. [Riemer, 2005]. 

1930 wurde die gemeinsame Tochter Carola geboren, zudem gab er die Praxis auf und trat eine Assistentenstelle an der Kieferklinik des Berliner Zahnärztlichen Universitätsinstituts bei Axhausen an. Schon nach einem Jahr zog es Schuchardt jedoch zu dem Chirurgen Gustav Dencks: Von 1931 bis 1932 war er Assistent an der Chirurgischen Abteilung des Krankenhauses Berlin-Neukölln und vertiefte hier seine allgemeinen operativen Kenntnisse [Naujoks, 1966; Pfeifer, 1977, 1985; Riemer, 2005]. 

Von 1932 bis 1934 war er erneut – nun als Oberarzt – bei Waßmund tätig. In diese Zeitphase fielen die Geburt des Sohns Andreas sowie die Scheidung von seiner Ehefrau (1933). Inwieweit diese Trennung durch die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten forciert wurde, bleibt offen. Riemer [2005] erwähnt „die sehr unterschiedlichen Temperamente der Eheleute“. Fest steht aber, dass Schuchardt seiner ehemaligen Frau auch nach 1933 eng verbunden blieb und dass beide nach dem Ende des „Dritten Reiches“ erneut heirateten [Riemer, 2005].

1934 folgte die nächste Zäsur: Schuchardt ließ sich als Kieferchirurg in Berlin nieder und blieb in dieser Funktion bis zur kriegsbedingten Zerstörung des Praxisgebäudes 1943 tätig. Zusätzlich übernahm er 1936 die Leitung der Kieferabteilung des St.-Norbert-Krankenhauses in Berlin-Schöneberg. Nach Kriegsbeginn wurde Schuchardt überdies leitender Arzt eines großen Reservelazaretts für Gesichtsverletzte in Berlin-Tempelhof; dies musste 1943 nach Görden (Brandenburg) verlegt werden. Last, but not least hatte er Versorgungsaufgaben im Hilfskrankenhaus Seebad Mariendorf wahrzunehmen [Naujoks, 1966; Pfeifer 1977, 1985; Riemer, 2005]. 

Auch privat brachten die späten 1930er-Jahre fundamentale Veränderungen mit sich: Die Lebenssituation seiner geschiedenen Frau und der gemeinsamen Kinder in Nazi-Deutschland hatte sich zugespitzt. So durfte ihre Tochter Carola als „Halbjüdin“ ab 1938 die Schule nicht weiter besuchen. Spätestens mit der „Reichspogromnacht“ (9. und 10. November 1938) war der Familie Ausweglosigkeit ihrer Lage bewusst. Die Emigration der Kinder und ihrer Mutter schien unausweichlich – sie erfolgte, von Schuchardt bestmöglich vorbereitet, im Mai 1939 in letzter Minute, Zielort war New York [Riemer, 2005]. 

Schuchardt selbst blieb in Deutschland. Ihm gelang es 1944 trotz der beruflichen Mehrfachbelastung und der privaten Sorgen, sich an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin zu habilitieren. Seine Schrift befasste sich mit dem „Rundstiellappen in der Wiederherstellungschirurgie des Gesichts-Kieferbereiches“. Grundlage bildeten umfassend dokumentierte operative Maßnahmen während Schuchardts Lazarettzeit [Naujoks, 1966; Riemer, 2005]. 

Nach Kriegsende sollten sich seine unverdächtige Haltung in der NS-Zeit und seine im Krieg abgeschlossene Habilitation auszahlen: Während viele Kollegen als politisch belastet galten und zunächst Entnazifizierungsverfahren durchliefen, wurde Schuchardt nur fünf Wochen nach Kriegsende – am 26. Juni 1945 – zum Direktor der Nordwestdeutschen Kieferklinik sowie zum kommissarischen Leiter der Hamburger Zahnärztlichen Universitätsklinik ernannt. 1946 erfolgten die Berufung zum Ordinarius und die Ernennung zum Direktor der Zahnärztlichen Universitätsklinik und Poliklinik. Wie steil Schuchardts Karriere verlief, belegen die weiteren beruflichen Eckdaten: 1948 wurde er zum Vorsitzenden der „Vereinigung der Dozenten für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde“ bestimmt, 1951 zum Dekan der Hamburger Medizinischen Fakultät gewählt und 1954 übernahm er den Vorsitz der „Deutschen Gesellschaft für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie“ [Naujoks, 1966; Riemer, 2005]. Das Arbeitspensum von Schuchardt blieb in der Folge ungebrochen: Zwölf Jahre leitete er unter widrigsten (Nachkriegs-)Bedingungen beide vorgenannten Hamburger Kliniken, bis 1957 ein moderner Neubau im Universitätskrankenhaus Eppendorf eingeweiht werden konnte.

Auch privat hatte sich zwischenzeitlich Vieles zum Guten gewandt: 1949 heirateten er und Eva Ries ein zweites Mal – diesmal in Smithtown, USA – und 1952 kehrte seine Ehefrau nach Hamburg zurück [Riemer, 2005].

Auch in den 1960er-Jahren blieb Schuchardt der Erfolg treu: 1965 erfolgte seine Wahl in den Wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer und 1969 wurde er Erster Vorsitzender der „Deutschen Gesellschaft für Plastische und Wiederherstellungschirurgie“ (DGPW). Die Laudationes zu Schuchardts 65. und 70. Geburtstag belegen seine breite fachliche Anerkennung [Naujoks, 1966; Reichenbach/Fröhlich, 1966; Müller, 1972].

1970 erfolgte Schuchardts Emeritierung; allerdings blieb er noch fünf Jahre in eigener Praxis in Hamburg (operativ) tätig (1970–1975). Schuchardt verstarb am 5. April 1985 in Hamburg [Krohn, 1985; Pfeifer, 1985].

Ein Überlebenskünstler in dunklen Zeiten

Schuchardt hatte den Ruf eines rhetorisch begabten und humorigen Referenten [Pfeifer, 1977]. Aber er war auch ein „Überlebenskünstler“: Er schaffte es, in dunkler Zeit das Leben seiner Familie zu schützen und sich selbst vor dem beruflichen Aus zu bewahren. Seine Strategien bestanden dabei in der offiziellen Distanzierung zu seiner jüdischen Ehefrau und in der Etablierung eines persönlichen Netzwerks, das sich in heiklen Situationen als tragfähig erwies: So konnte bei der Emigration seiner Familie ein Freund namens Alfred Ferber, der auf einem Schiff der Hamburg-Amerika-Linie als Erster Schiffsarzt arbeitete, weiterhelfen [Riemer, 2005]. Auch Schuchardts Habilitation gelang nur dank gewichtiger Fürsprache: Im Januar 1941 war es zum Stopp des Habilitationsverfahrens gekommen und die bereits vereinbarte Probevorlesung ausgesetzt worden: Der NS-Dozentenführer Wather M. Schering hatte es für unvertretbar gehalten, Schuchardt zum Beamten zu berufen, weil dieser mit einer „Jüdin“ verheiratet gewesen sei. In dieser Situation ergriff der Dekan Partei für Schuchardt, indem er argumentierte, dass eine Habilitation nicht mit einer Verbeamtung verknüpft sei und Schuchardt als Stabsarzt hervorragende militärische Dienste leiste. Schering lenkte ein und Schuchardt konnte die Habilitation abschließen [Riemer, 2005]. Auch ein Nationalsozialist aus der direkten Führungsriege wurde zu Schuchardts Gönnern: NS-Reichsmarschall Hermann Göring (1893–1946) zählte zu seinen Patienten – wie dessen Ehefrau Emmy (1893–1973) und Magda Goebbels (1901–1945), die Frau des NS-Propagandaministers Joseph Goebbels (1897–1945). Hoffmann-Axthelm [1990] zufolge hatte Schuchardt Göring vor der ersten Behandlung eröffnet, dass er kein Nationalsozialist sei, worauf Göring geantwortet habe, er benötige keinen Parteigänger, sondern einen guten Behandler. Dass Göring Schuchardt zugetan war, ergibt sich aus der Tatsache, dass er ihm den Professorentitel antrug. Schuchardt gelang es jedoch ihm mithilfe eines gemeinsamen Bekannten begreiflich zu machen, dass ein „geschenkter“ Professorentitel der wissenschaftlichen Laufbahn abträglich sei. 

Im Nachkriegsdeutschland trat Schuchardt bald nicht nur als Klinikchef und Hochschullehrer, sondern auch als Standespolitiker auf: Er setzte sich für die Aufhebung der dentistischen Berufsgruppe und für die Etablierung eines zahnärztlichen Einheitsstandes (1952) ein und wirkte an der Prüfungsordnung für Zahnärzte mit. 

Schuchardt hinterließ fünf Monografien, 52 Buch- und 108 Zeitschriftenbeiträge. Mehr als 20 Jahre lang gab er die viel beachtete Jahrbuchreihe „Fortschritte der Kiefer- und Gesichtschirurgie“ heraus. Sein bedeutendstes Werk ist jedoch seine Habilitationsschrift, in der er Weiterentwicklungen der Augenhöhlen- und Nasenplastik nach Ganzer und der Ohrmuschelplastik nach Pierce skizzierte. Schuchardt prägte die Bezeichnung „Rundstiellappen“ und widmete der „Rundstiellappenplastik“ regelmäßig Veröffentlichungen [Riemer, 2005]. Für die vollständige Mobilisation des Oberkiefers in der Le-Fort-I-Ebene beschrieb er die Abtrennung der Flügelfortsätze (1942); diese stellte eine Weiterentwicklung der Technik von Axhausen dar; 1954 verbesserte er die Technik der Frontzahnblockosteotomie. Als Schuchardts wichtigste Leistung auf dem Gebiet der kieferorthopädischen Chirurgie gilt seine 1955 etablierte Seitenzahnblockosteotomie [Riemer, 2005]. Viele weitere Operationsmethoden der MKG-Chirurgie wurden von ihm modifiziert. Bekanntheit erlangte auch der nach ihm benannte Drahtschienenverband, der nach dem Anpassen und Einbinden mit selbsthärtendem Kunststoff verklebt wird [Hoffmann-Axthelm, 1983]. 

Die Liste der Schuchardt angetragenen Würden ist lang: Neben den erwähnten Ämtern war er Ehrenvorsitzender der DGPW, die zudem die „Karl-Schuchardt-Medaille“ ins Leben rief. Acht ausländische Gesellschaften der Fachdisziplinen Zahnheilkunde, MKG-Chirurgie beziehungsweise Plastische und Wiederherstellungschirurgie ernannten ihn zum Ehrenmitglied. Bereits 1955 war er in die Leopoldina aufgenommen und 1968 ebenda zum Senator ernannt worden. Die Universität Helsinki verlieh ihm 1966 einen Ehrendoktor, 1971 wurde ihm die Silberne Ehrennadel der deutschen Zahnärzteschaft zuerkannt und 1972 die Paracelsus-Medaille, die höchste Auszeichnung der deutschen Ärzteschaft [Pfeifer, 1977; Riemer, 2005].

Univ.-Prof. Dr. mult. Dominik GroßInstitut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Medizinische FakultätRWTH Aachen University, MTI IIWendlingweg 2, 52074 Aachendgross@ukaachen.de

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Literaturliste


1.

Hoffmann-Axthelm (1983): Walter Hoffmann-Axthelm, Lexikon der Zahnmedizin, 3. Auflage Berlin 1983.
2.

Hoffmann-Axthelm (1990): Walter Hoffmann-Axthelm, Chronik zwischen Ost und West zugleich der Bericht vom eigenen Leben 1908-1989, Freiburg im Breisgau 1990.
3.

Krohn (1985): Max Krohn, Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Dr. hc. Karl Schuchardt, Norddeutsche Rundschau Nr. 101 (1.5. 1985), S. 11.
4.

Müller (1972): Erich Müller, Prof. Dr. Dr. K. Schuchardt 70 Jahre, Zahnärztliche Mitteilungen 61 (1972), S. 47.
5.

Naujoks (1966): Rudolf Naujoks, Prof. Dr. Dr. Karl Schuchardt zum 65. Geburtstag, Deutsche Zahnärztliche Zeitschrift 21 (1966), S. 1381-1383.
6.

Pfeifer (1977): Gerhard Pfeifer, Karl Schuchardt zum Geburtstag, Deutsches Ärzteblatt 74/3 (1977), S. A179-A180.
7.

Pfeifer (1985): Gerhard Pfeifer, Karl Albert Schuchardt, Uni HH 16 Nr. 3 (1985), S. 65-66.
8.

Riemer (2005): Silke Katharine Riemer, Karl Schuchardt – Leben und Werk. Diss. med. dent. Hamburg 2005.
9.

Reichenbach/Fröhlich (1966): Erwin Reichenbach, Eugen Fröhlich, Karl Schuchardt zum 65. Geburtstag am 24.12.1966, Deutsche Zahn- Mund- und Kieferheilkunde 47 (1966), S. 384.

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