Der besondere Fall aus CIRS dent – Jeder Zahn zählt!

Notfall in der Zahnarztpraxis

Im vorliegenden Fall kam es nach einer schmerzhaften Intervention zur hypertonen Blutdruckentgleisung und Hyperventilation. Ängstliche Patienten sollten daher vorab identifiziert werden, Hypertoniker idealerweise vor Behandlungsbeginn gut eingestellt sein. Im Zweifel kann es nützlich sein, den Hausarzt vor Beginn der zahnärztlichen Behandlung zu konsultieren, um eine optimale Ausgangssituation zu gewährleisten.

Was war passiert?

Der Patient kam zur Eingliederung von drei Kronen 15, 36, 46. Anästhesiert wurde ein Lokalanästhetikum mit den Wirkstoffen Articainhydrochlorid und Epinephrinhydrochlorid (Adrenalinhydrochlorid). An Zahn 15 erfolgte eine Infiltrationsanästhesie, an den Zähnen 36 und 46 eine intraligamentäre Anästhesie (STA). Die Kronen an den Zähnen 15 und 36 wurden nach entsprechender Einprobe komplikationslos definitiv zementiert. 

Beim Einsetzen der Krone an 46 bemerkte der Patient eine leichte Schmerzsensation, die er aber aushalten könne. Die Eingliederung der Krone wurde fortgesetzt. Kurze Zeit später gab er an, im Kiefer einen stechenden Schmerz zu spüren. Der Blutdruck stieg auf RR 180/110, der Patient begann zu hyperventilieren, war aber klar ansprechbar. Der angeforderte Notarzt legte in der Zahnarztpraxis einen Zugang und verabreichte dem Patienten ein Sedativum. Nach insgesamt 1,5 Stunden konnte der Patient die Praxis mit dem Notarzt verlassen und wurde zur weiteren Untersuchung in ein Krankenhaus eingewiesen. Die dort durchgeführten Untersuchungen blieben ohne Befund, das EKG war unauffällig. Nach dem Wochenende stellte sich der Patient erneut in der zahnärztlichen Praxis vor und hatte keinerlei Symptome und Beschwerden.

Welche Gründe gab es für das Ereignis?

Hypertonie und Hyperventilation während der Zahnbehandlung gehören Studien zufolge zu den häufigsten Notfällen (Tabelle 1). Die Ätiologie in diesem Fall lässt sich im Einzelnen nicht eruieren, wobei ein Zusammenhang zu dem beschriebenen Schmerzereignis auffällig ist.

Hätte man das Ereignis verhindern können?

Patienten, die eine leichte bis mittelgradige Hypertonie ohne sekundäre Organschäden aufweisen, können in der Regel ohne Verzug behandelt werden (Abbildung 1) [Howell, 2004]. Schlecht eingestellte Hypertoniker, die sich einer elektiven Behandlung unterziehen, sollten – sofern nicht bereits geschehen – vor der Behandlung hausärztlich beziehungsweise internistisch abgeklärt werden [Sear, 2008]. Ängstliche Patienten, die möglicherweise während der Behandlung psychisch dekompensieren könnten, sollten vorab identifiziert werden [Nunn, 2000]. Neben einer optimalen Lokalanästhesie und ruhiger verbaler Führung können beide Komplikationen – Hypertonie und Hyperventilation – durch geeignete Sedierungsmaßnahmen abgefangen werden [Matsuura, 1989]. 

Was kann man aus dem Ereignis lernen?

Die enge zeitliche Beziehung zwischen dem Schmerz, dem Bluthochdruck und der psychischen Erregung mit Hyperventilation deutet auf einen kausalen Zusammenhang zwischen den Ereignissen hin. Das wissenschaftliche Interesse an der Pathophysiologie der Hypertonie, gerade in Zusammenhang mit zahnmedizinischen Behandlungen, ist außerordentlich groß [Hatch, 1984]. Akute Schmerzen dienen der Vermeidung von Gewebeschäden und führen zu einer aufsteigenden Nozizeption und Rekrutierung segmentaler spinaler Reflexe. Abhängig von der Intensität und Dauer des Schmerzreizes werden das sympathische Nervensystem aktiviert, der periphere Widerstand, die Herzfrequenz und das Schlagvolumen erhöht. Hinzu kommt eine Aktivierung des neuroendokrinen Systems, und die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (Stressachse) wirkt dabei ebenfalls auf das sympathische Nervensystem. Diese Phänomene sind geläufig, aber der umgekehrte Einfluss einer Hypertonie auf das Schmerzempfinden ist vielen nicht bekannt. So kommt es in diesem Zusammenhang zu einer „hypertension-associated hypoalgesia“, das heißt, es kommt zu einer Dämpfung des Schmerzempfindens bei steigenden Blutdruckwerten [Dworkin, 1979].

Schmerzen und Angst regen aber nicht nur das sympathische Nervensystem an. Häufig sind sie auch Auslöser einer psychischen Erregung, die in einem Hyperventilationssyndrom mündet. In amerikanischen Studien ist das Phänomen nach der vasovagalen Synkope (60 Prozent) der zweithäufigste Notfall (7 Prozent) in der Zahnmedizin [Haas, 2006]. 

Wie sieht in dem Fall ein Notfallmanagement aus?

Die Hyperventilation kann häufig durch ruhiges Zureden abgefangen werden. Schwierigere Fälle können gelegentlich eine notärztliche Intervention erfordern, wobei intravenöse Benzodiazepine den Goldstandard darstellen. Die früher beschriebene Rückatmung mittels Plastiktüte wird, nach schwerwiegenden Komplikationen, nicht mehr empfohlen [Mathers, 2015]. NitroSpray, vielen Zahnmedizinern als Akuttherapie des Angina pectoris bekannt, wird zur Senkung des Blutdrucks im Akutfall eingesetzt. Sollten 2 x 2 Hub NitroSpray sublingual nicht zu einer adäquaten Blutdrucksenkung ausreichen, sollte der Patient umgehend internistisch abgeklärt werden. Das früher gebräuchliche sublinguale Adalat (Nifedipin) wird nicht mehr als Akutintervention empfohlen, weil es zu unkontrollierten Blutdruckabfällen führen kann [Mathers, 2015].n

Weitergehende Hilfe: 

Dr. med. Frank G. MathersGoltsteinstr. 9550968 Köln (Bayenthal)info@dr-mathers.de

CIRS dent – Jeder Zahn zählt! 

So kann ich mitmachen

„CIRS dent – Jeder Zahn zählt!“ (CIRS: Critical Incident Reporting System) ist ein Online-Berichts- und Lernsystem von Zahnärzten für Zahnärzte. Auf der Website www.cirsdent-jzz.de können dort angemeldete Kolleginnen und Kollegen auf freiwilliger Basis, anonym und sanktionsfrei über unerwünschte Ereignisse aus ihrem Praxisalltag berichten, sich informieren und austauschen. 

Ziel ist es, so aus eigenen Erfahrungen und denen anderer Zahnärzte zu lernen. Damit leistet jeder Teilnehmer einen aktiven Beitrag zur Verbesserung der Patientensicherheit. Mehr als 5.300 Zahnärzte haben sich bereits registriert und mehr als 130 Berichte eingestellt. Machen auch Sie mit – es lohnt sich!

Zur Anforderung eines neuen Registrierungsschlüssels, etwa im Fall eines Verlusts, können sich Praxisinhaber an ihre zuständige Kassenzahnärztliche Vereinigung (KZV) oder an cirsdent@kzbv.de wenden. Privatzahnärztlich tätige Kollegen und die Leiter universitärer zahnärztlicher Einrichtungen erhalten die Registrierungsschlüssel von ihrer (Landes-)Zahnärztekammer. Die Mitglieder der Bundeswehr erhalten ihre Registrierungsschlüssel von ihren Standortleitern.

Aus diesen Schäden wird man klug 

Überall dort, wo Menschen arbeiten, entstehen Fehler – da sind auch Zahnärzte keine Ausnahme: Abläufe funktionieren nicht immer so, wie es sein sollte, Diagnosen sind manchmal nicht einfach zu stellen, Therapien versagen aus unerwarteten Gründen, Geräte und Hilfsmittel zeigen Schwächen. Die Liste möglicher „unerwünschter Ereignisse“, die in der Praxis eintreten können, ist lang.

Aus „unerwünschten Ereignissen“ kann man jedoch lernen, es künftig besser zu machen. Hilfreich ist dabei der Erfahrungsaustausch mit Kollegen. Die Bundeszahnärztekammer und die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung haben Anfang 2016 das internetbasierte Berichts- und Lernsystem „CIRS dent – Jeder Zahn zählt!“ gestartet (CIRS = Critical Incident Reporting System). Dort können Zahnärzte Fallberichte aus der Praxis von Kollegen lesen und auch selbst vollkommen anonym eigene Berichte einstellen. Die eingesandten Berichte werden von einer Fachredaktion geprüft, gegebenenfalls bearbeitet.

Daten, die eine Rückverfolgung auf die Praxis oder den Patienten ermöglichen würden, werden entfernt, die Berichte erst danach veröffentlicht. In der Rubrik „Der besondere Fall aus CIRS dentl“ veröffentlichen wir künftig Fallschilderungen, die eine besonders weitreichende Bedeutung haben.

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Literatur

1.

Facco, E. and G. Zanette, The Odyssey of Dental Anxiety: From Prehistory to the Present. A Narrative Review. Front Psychol, 2017. 8: p. 1155.

2.

Coulthard, P., Conscious sedation guidance. Evid Based Dent, 2006. 7(4): p. 90-1.

3.

Muller, M.P., et al., A state-wide survey of medical emergency management in dental practices: incidence of emergencies and training experience. Emerg Med J, 2008. 25(5): p. 296-300.

4.

Girdler, N.M. and D.G. Smith, Prevalence of emergency events in British dental practice and emergency management skills of British dentists. Resuscitation, 1999. 41(2): p. 159-67.

5.

Arsati, F., et al., Brazilian dentists' attitudes about medical emergencies during dental treatment. J Dent Educ, 2010. 74(6): p. 661-6.

6.

Howell, S.J., J.W. Sear, and P. Foex, Hypertension, hypertensive heart disease and perioperative cardiac risk. Br J Anaesth, 2004. 92(4): p. 570-83.

7.

Sear, J.W., Perioperative control of hypertension: when will it adversely affect perioperative outcome? Curr Hypertens Rep, 2008. 10(6): p. 480-7.

8.

Nunn, P., Medical emergencies in the oral health care setting. J Dent Hyg, 2000. 74(2): p. 136-51; quiz 152-5.

9.

Matsuura, H., Systemic complications and their management during dental treatment. Int Dent J, 1989. 39(2): p. 113-21.

10.

Hatch, C.L., et al., Plasma catecholamine and hemodynamic responses to the placement of epinephrine-impregnated gingival retraction cord. Oral Surg Oral Med Oral Pathol, 1984. 58(5): p. 540-4.

11.

Dworkin, B.R., et al., Baroreceptor activation reduces reactivity to noxious stimulation: implications for hypertension. Science, 1979. 205(4412): p. 1299-301.

12.

Haas, D.A., Management of medical emergencies in the dental office: conditions in each country, the extent of treatment by the dentist. Anesth Prog, 2006. 53(1): p. 20-4.

13.

Mathers, F., Notfallmedizin für Zahnärzte: Lehrbuch für die Praxis mit Checklisten, Algorithmen, Rechtsgrundlagen. Deutscher Ärzte-Verlag; 2015.

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