Familie F., ein Akademikerpaar mit zwei Kindern im Teenager-Alter und einem sechsjährigen Sohn, zieht in eine deutsche Großstadt und begibt sich in der Zahnarztpraxis Dr. M. in (familien-)zahnärztliche Betreuung. Lediglich der sechsjährige Sohn A. wird von der in der Stadt ansässigen „Kinderzahnarztpraxis“ Dr. K. betreut, da die etwas ängstliche und fast schon überfürsorgliche Mutter bei allem Vertrauen zur Hauszahnärztin ihren Sohn dennoch bei diesem Spezialisten in qualifizierteren Händen sieht. Eines Tages kommt Frau F. nun aufgeregt und nervös mit der Bitte um eine Zweitmeinung zu Frau Dr. M.: Ihr Sohn solle in der Kinderzahnarztpraxis eine Cerec-Krone am kariösen Zahn 84 erhalten – und dies in Narkose. Frau Dr. M. untersucht den Jungen, ein altersentsprechend entwickeltes, aufgewecktes und kooperationsbereites Kind. Entgegen der bestehenden Planung ist sie der Auffassung, dass der kariöse Defekt nicht zwingend mit einer Krone versorgt werden muss, sondern durchaus noch mit einer (wenn auch ausgedehnteren und in der Kinderbehandlung deutlich zeitaufwendigeren) Füllung zu therapieren ist.
Dr. M. erläutert das der Mutter, die sie bittet, über die diskrepanten Behandlungsalternativen mit Kinderzahnarzt Dr. K. zu sprechen. In einem ausnehmend kollegialen Telefonat schildert Dr. M. ihre fachlichen Bedenken und die Vorbehalte der Mutter, während Dr. K. seinen fachlichen wie auch wirtschaftlichen Standpunkt und damit auch seine Motivation für die Indikationsstellung deutlich macht.
So erfordere die Kinderbehandlung sehr viel Zeit: Zum einen müsse in der „Anbahnung“ das notwendige Vertrauen zum Kind-Patienten aufgebaut werden; zum anderen dürften die kleinen Patienten mit einer wie bei den meisten Erwachsenen üblichen zügigen Arbeitsweise nicht überfordert werden. Eine wirtschaftliche Praxisführung sei daher bei seiner Spezialisierung nicht einfach und sowohl die großzügige Indikationsstellung für eine Cerec-Krone als auch die Anwendung der Narkose seien das Ergebnis einer „ausgewogenen“ Interessenabwägung: In Narkose ließen sich beide Prozesse, also die Vertrauensbildung wie auch die eigentliche Behandlung, abkürzen und die Patienten würden auch weniger traumatisiert, weil sie von der eigentlichen Behandlung nichts mitbekämen. Mit der Indikationsstellung „Krone“ werde darüber hinaus der Gefahr eines Füllungsverlusts und einer Sekundärkaries und damit auch einer möglicherweise notwendigen Wiederholung der Behandlung vorgebeugt. Ferner sei die Behandlung auch für den behandelnden Zahnarzt entspannter und weniger anstrengend.
Die Prinzipienethik
Ethische Dilemmata, also Situationen, in denen der Zahnarzt zwischen zwei konkurrierenden, nicht miteinander zu vereinbarenden Handlungsoptionen zu entscheiden oder den Patienten zu beraten hat, lassen sich mit den Instrumenten der Medizinethik lösen. Viele der geläufigen Ethik-Konzeptionen (wie die Tugendethik, die Pflichtenethik, der Konsequentialismus oder die Fürsorge-Ethik) sind jedoch stark theoretisch hinterlegt und aufgrund ihrer Komplexität in der Praxis nur schwer zu handhaben.
Eine methodische Möglichkeit von hoher praktischer Relevanz besteht hingegen in der Anwendung der sogenannten Prinzipienethik nach Tom L. Beauchamp und James F. Childress: Hierbei werden vier Prinzipien „mittlerer Reichweite“, die unabhängig von weltanschaulichen oder religiösen Überzeugungen als allgemein gültige ethisch-moralische Eckpunkte angesehen werden können, bewertet und gegeneinander abgewogen.
Drei dieser Prinzipien – die Patientenautonomie, das Nichtschadensgebot (Non-Malefizienz) und das Wohltunsgebot (Benefizienz) – fokussieren ausschließlich auf den Patienten, während das vierte Prinzip Gerechtigkeit weiter greift und sich auch auf andere betroffene Personen oder Personengruppen, etwa den (Zahn-)Arzt, die Familie oder die Solidargemeinschaft, bezieht.
Für ethische Dilemmata gibt es in den meisten Fällen keine allgemein verbindliche Lösung, sondern vielfach können differierende Bewertungen und Handlungen resultieren. Die Prinzipienethik ermöglicht aufgrund der Gewichtung und Abwägung der einzelnen Faktoren und Argumente subjektive, aber dennoch nachvollziehbare und begründete Gesamtbeurteilungen und Entscheidungen. Deshalb werden bei klinisch-ethischen Falldiskussionen in den zm immer wenigstens zwei Kommentatoren zu Wort kommen.
Oberstarzt Prof. Dr. Ralf Vollmuth
Wie ist diese Argumentation zu beurteilen? Ist es legitim, das Behandlungskonzept nicht nur an fachlichen Standards, sondern auch an den wirtschaftlichen Interessen einer (spezialisierten) Praxis auszurichten? Welcher Stellenwert ist bei der Frage nach der Narkose etwa dem „Stressfaktor“ des Zahnarztes beizumessen? Oder wird möglicherweise eine normale zahnärztliche Maßnahme durch die Narkose für den kleinen Patienten in der Bedeutung auf ein Niveau gehoben, das letztlich per se kontraproduktiv ist?
Dr. Katrin Pothe
Darmstädter Str. 50, 63303 Dreieich
info@dr-pothe.de
Oberstarzt Prof. Dr. Ralf Vollmuth
Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr
Zeppelinstr. 127/128, 14471 Potsdam
vollmuth@ak-ethik.de
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