Beobachtungsstudie zu Composite-Füllungen über 29 Jahre

Wieviel Randspalt verträgt eine Restauration?

Bernd W. Sigusch
,
Karl Weich
,
Sandor Nietzsche
,
Tomas Lang
,
Wolfram Dietz
,
Regina Montag
,
Peter Gängler
„A permanent filling should practically last a lifetime“ [Black, 1908]. Auch nach über 110 Jahren hat das Thema Haltbarkeit von Füllungsmaterialien nicht an Aktualität verloren. Die hier vorgestellten Studienergebnisse beleuchten neben dem klinischen Bild insbesondere dynamische Veränderungen auf mikroskopisch sichtbarer Ebene über einen Zeitraum von fast drei Jahrzehnten.

Um das Kariesrisiko an Füllungsrändern, gepaart mit Füllungsfrakturen und postoperativen Pulpitisfällen, nach einer Composite-Versorgung im Seitenzahnbereich zu bestimmen, wurden 1987 an der Medizinischen Akademie Erfurt 115 Klasse-I- und 79 Klasse-II-Composite-Restaurationen an Molaren und Prämolaren unter Kofferdam gelegt und jährlich bis zum 15. Jahr und abschließend nach 29 Jahren von einer interdisziplinären Forschungsgruppe der Universitäten Jena und Witten/Herdecke klinisch (USPHS-kompatibler CPM-Index) und rasterelektronenmikroskopisch kontrolliert [Montag et al., 2018]. Die Testgruppe bestand aus 73 Erwachsenen. Alle Füllungen waren Primärversorgungen von Dentinkaries mit Ketac-Bond als Unterfüllung, Universalbond nach Schmelzätzung und mit inkrementalem Aufbau des Hybrid-Composites Visio-Molar X (alle Materialien ESPE, Seefeld).

Funktionszeit und jährliche Verlustraten

Neben der Ausfallrate von 60,3 Prozent der Probanden, verteilt über 29 Jahre, hauptsächlich wegen Umzugs, verblieben bis zum Abschluss 29 Füllungen. 26 Restaurationen fielen aus der Bewertung wegen prothetischer Versorgung (14) oder Neukaries an einer füllungsfernen Fläche (12) heraus. Nur 21 Füllungen waren tatsächlich Misserfolge mit sekundärer Randkaries (7), Füllungsfrakturen (5), partiellem Füllungsverlust (8) oder totalem Verlust (1). Postoperative Pulpitisfälle nach Tagen bis vier Wochen traten viermal auf.

Die kumulative Überlebensrate nach Kaplan-Meier war 91,7 Prozent nach sechs Jahren, 81,6 Prozent nach zwölf Jahren und 71,7 Prozent nach 29 Jahren. Die mittlere jährliche Verlustrate war 1,92 Prozent (Tabelle 1). Diese Verlustrate pro Jahr ist vergleichbar mit der von Amalgam-Füllungen mit 1,71 Prozent [Moraschini et al., 2015]. Für direkte Gold-Restaurationen werden Verlustraten von 1,40 Prozent, bei Keramik-Restaurationen von 1,90 Prozent angegeben [Manhart et al., 2004].

Klinische Ergebnisse

Der CPM-Index deckte substanzielle funktionelle Verschlechterungen durch Füllungsabrasion innerhalb der ersten fünf Jahre auf. Lokaler Substanzverlust begann im dritten Jahr. Davon waren nach fünf Jahren alle Restaurationen betroffen. Trotzdem zeigten nach 29 Jahren nur sechs Füllungen starken Substanzverlust. Zu Studienbeginn hatten alle 197 Restaurationen klinisch scheinbar perfekte Ränder. Das fiel nach zehn Jahren auf 65,5 Prozent (Abbildungen 1 und 2). Die sieben Randkariesfälle entwickelten sich nach sieben Jahren (4), nach neun Jahren (1) und nach 15 Jahren (2). Alle Kariesfälle entwickelten sich innerhalb eines Jahres bei ansonsten kariesinaktiven Probanden. Eine Korrelation zu Plaque-Retentionsarealen war nicht nachweisbar.

Semiquantitative mikro-morphologische Ergebnisse

Zu Studienbeginn zeigten alle Füllungen mäßige bis erhebliche Composite-Überschüsse von weniger als einem Drittel bis mehr als zwei Drittel der Zirkumferenz. Damit waren bereits im ersten Jahr marginale Füllungsfrakturen verbunden, die bis zum zehnten Jahr anstiegen und später fast ganz verschwanden. Konsequenterweise waren damit Randspalten zwischen 5 bis 60 μm verbunden. Sie traten an einem einzigen Zahn mit einer frisch gelegten Füllung auf, umfassten nach einem Jahr 45 Prozent aller Füllungen und blieben weitgehend konstant, auch an wechselnden Lokalisationen. Lediglich eine Füllung zeigte nach 29 Jahren Spalten an mehr als zwei Dritteln des Randes (Abbildungen 3 und 4).

Quantitative mikro-morphologische Ergebnisse

Die 3-D-REM-Profilometrie bestätigte die klinischen Ergebnisse und dokumentierte eine unikale dynamische Veränderung der Zahn-Füllung-Grenzbeziehung, die bisher unbekannt war (Abbildungen 4 und 5).

Alle Restaurationen ermöglichten einen guten okklusalen Kontakt mit einem mehr oder weniger klinisch unvermeidbaren Überschuss an Composite-Material, gefolgt von marginalen Frakturen, der Freilegung von Schmelz und tiefen Randstufen. Dabei entstanden sukzessiv erstbeschriebene Furchen zwischen dem bereits abradierten Füllungskörper und dem Kavitätenrand, schmelznah oder in der Bonding-Zone, die durch starke Abrasion bis zum fünften Jahr zunahmen, um zehn Jahre später teilweise zu verschwinden und in einem glatten Übergang zu münden. Die funktionelle Abrasion sowohl des Schmelzes als auch des Composite-Materials führte zu einer Verbesserung der Restauration mit glatteren Übergängen, ohne jedoch die Spaltbildung in die Tiefe zu eliminieren

Drei klinische Schlussfolgerungen

G. V. Black hat 1908 in seinem klassischen Lehrbuch „A Work on Operative Dentistry in Two Volumes“, an die Studenten gerichtet, postuliert: „I should say a permanent filling should practically last a lifetime“ („Eine definitive Füllung sollte praktisch ein Leben lang halten”). Auf eine Frage nach dem Heilungseffekt meinte Black: „Fillings cure purely and simply by shutting out everything from contact with dentin“ [Vol. I S. 193–196]. Er meinte das auch so hemdsärmelig, wie er es schrieb. Hans Pichler [1914] übersetzte das (autorisiert) etwas vornehmer: „Füllungen heilen einfach dadurch, dass sie das Zahnbein gegen außen absolut abschließen.“ Für Black waren Gold und Amalgam mundbeständige Füllungsmaterialien, was sie ja bis heute noch sind. Nun schließen seit den Hybrid-Formulierungen die Composite-Materialien dazu auf. Ob sie ein Leben lang halten, wissen wir noch nicht. Wenn man von unserer Studienlage in der Altersgruppe der 18- bis 52-Jährigen bei Primärversorgung ausgeht, ist aber eine kumulative Überlebensrate von 71,4 Prozent nach 29 Jahren ein sehr guter Wert.

Die zweite Schlussfolgerung ist, dass eine obligate Unterfüllung mit einem biokompatiblen Zement, wie Ketac-Bond, ganz offensichtlich die Auslösung einer irreversiblen akuten Pulpitis in der absoluten Mehrheit der kontrollierten Fälle (vier Fälle nach wenigen Tagen bis vier Wochen von 194 Füllungen) verhüten kann. Jede noch so schonende Kavitätenpräparation bei Caries media als Primärversorgung löst klinisch eine akute Pulpitis aus, die reversibel ist und als Schmerz empfunden werden kann. Die postoperative Pulpitisauslösung in Composite-Studien ohne Unterfüllung bewegt sich zwischen zwei und 24 Prozent.

Die dritte Schlussfolgerung ist, dass okklusionstragende Restaurationen mit einem klinisch unvermeidlichen Composite-Überschuss ihre Funktionszeit beginnen, danach der Abrasion und Attrition unterliegen und schließlich nach 15 Jahren mit Furchen im Randbereich und negativen Stufen zunehmend eingeebnet werden, woraus optimale Okklusionsverhältnisse resultieren. Aber die Randspalten nach dem ersten Funktionsjahr bleiben über den gesamten Zeitraum nahezu konstant. Und es gibt keine Korrelation zu den wenigen Fällen sekundärer Randkaries.

Dieses funktionelle Äquilibrium zwischen Zahn und Füllungskörper führt trotz aller Verschlechterung von Restaurationen während der ersten fünf Jahre zu einer Optimierung der Okklusion mit Eröffnung und Einebnung der Fissuren (wozu sie bei omnivoren Säugetieren allein da sind!). Die vorliegenden Ergebnisse bestätigen den Lehrbuchsatz, dass die Restauration von Okklusionsflächen stets das Alter, das Kaumuster und insbesondere die individuelle Abrasion und Attrition berücksichtigen sollte und danach das adäquate abrasionsfähige Biomaterial gewählt werden kann.

Fazit

Seit der Hybrid-Formulierung von Composite-Materialien haben diese Seitenzahn-Restaurationen – in der Studie am Beispiel von Visio-Molar X dargelegt – eine lange Funktionszeit, ein sehr geringes Frakturrisiko und mit Unterfüllung einen guten Pulpaschutz. Die klinische Langzeitstudie zeigt zudem, dass die Dynamik der teils erheblichen Randspaltbildungen nicht mit dem Kariesrisiko korreliert. Dagegen „sprechen“ In-vitro- und In-situ-Studien, in denen humane und Rinderzähne aus ihrem oralbiologischen Milieu herausgenommen, also quasi „exterritorialisiert“ wurden, die dann in kürzester Zeit eine experimentelle Karies entwickelten, von der Übertragbarkeit auf klinische Situationen. So wie die Kariesauslösung nicht mit dem individuellen Zuckerkonsum, der persönlichen Mundhygiene und der Zahnstellung korreliert, so ist die sekundäre Randkaries auch von keiner Randspaltausdehnung abhängig.

Zwar kann in Randspalten zwischen 15 und 30 μm ungehindert ein Biofilm akkumulieren [Kvostenko et al., 2015], aber auch jeder andere Biofilm an beliebigen Situs der Zähne kann erst nach Überwindung der Wirtsabwehr zur Karies führen. Also entscheidet nicht die Spaltgröße nach den vorliegenden Langzeitergebnissen über das Risiko, sondern der Mensch mit seiner individuellen Wirtsabwehr. Schließlich bekommt auch der Mensch eine (oder keine) Karies und nicht das Biomaterial.

Prof. Dr. Dr. h. c. Peter Gängler

ORMED Institute for Oral Medicine at the University of Witten/Herdecke
Alfred-Herrhausen-Str. 45, 58455 Witten

Dr. Regina Montag

Poliklinik für Konservierende Zahnheilkunde und Parodontologie
Universitätsklinikum Jena
An der alten Post 4, 07743 Jena

Dr. Wolfram Dietz

Elektronenmikroskopisches Zentrum
Universitätsklinikum Jena
Ziegelmühlenweg 1, 07743 Jena

und

ORMED Institute for Oral Medicine at the University of Witten/Herdecke
Alfred-Herrhausen-Str. 45, 58455 Witten

Dr. Tomas Lang

ORMED Institute for Oral Medicine at the University of Witten/Herdecke
Alfred-Herrhausen-Str. 45, 58455 Witten

Dr. Sandor Nietzsche

Elektronenmikroskopisches Zentrum
Universitätsklinikum Jena
Ziegelmühlenweg 1, 07743 Jena

Dr. Karl Weich

ORMED Institute for Oral Medicine at the University of Witten/Herdecke
Alfred-Herrhausen-Str. 45, 58455 Witten

Prof. Dr. Dr. Bernd W. Sigusch

Poliklinik für Konservierende Zahnheilkunde und Parodontologie
Universitätsklinikum Jena
An der alten Post 4, 07743 Jena

Literaturliste

Black GV. 1908. A work on operative dentistry in two volumes. Volume one, the pathology of the hard tissues of theteeth. Chicago: Medico-Dental Publishing Company (vol. 1, pp 193-196).

Black GV. 1914. Konservierende Zahnheilkunde (Autorisierte deutsche Übersetzung von Dr. Hans Pichler in Wien), Hermann Meusser, Berlin (Band 1, S. 229-230).

 Khvostenko D, Salehi S,  Naleway SE,  Hilton TJ,  Ferracane JL, Mitchell JC,   Kruzic JJ. 2015. Cyclic mechanical loading promotes bacterial penetration along composite restoration marginal gaps. Dental Materials 31 (6), 702-710.

Manhart J, Chen H, Hamm G, Hickel R. 2004 Buonocore Memorial Lecture. Review of the clinical survival of direct and indirect restorations in posterior teeth of the permanent dentition. Operative Dentistry 29 (5), 481-508.

Montag R,  Dietz W, Nietzsche S, Lang T, Weich K,  Sigusch BW,  Gaengler P. 2018. Longitudinal Clinical and Micromorphological 29-year Results of Posterior Composite Restorations. Journal of Dental Research 97 (13), 1431-1437.

Moraschini V, Fai CK, Alto RM, Dos Santos GO. 2015. Amalgam and resin composite longevity of posterior restorations: A systematic review and meta-analysis. Journal of Dentistry 43 (9), 1043-1050.

Dr. Bernd W. Sigusch

Poliklinik für Konservierende Zahnheilkunde und Parodontologie
Universitätsklinikum Jena
An der alten Post 4
07743 Jena

Dr. Karl Weich

ORMED Institute for Oral Medicine at the University of Witten/Herdecke
Alfred-Herrhausen-Str. 45
58455 Witten

Dr. Sandor Nietzsche

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Dr. Tomas Lang

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Dr. Wolfram Dietz

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Dr. Regina Montag

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Prof. Dr. Dr. h.c. Peter Gängler

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