Zahnschmelzhypoplasien bei Erwachsenen – der Patientenfall

Die Karies macht einen Bogen um die Hypoplasie

Tomas Lang
,
Peter Gängler

Die Behandlung der Hypoplasien von Schmelz und Dentin wird meist im Kontext der Kinderzahnheilkunde diskutiert. Wie aber verhalten sich Zähne mit entwicklungsbedingten Strukturanomalien im fortgeschrittenen Lebensalter? Dieser Patientenfall schildert Befund und Therapie eines betroffenen Molaren im ansonsten auch kariesaktiven Gebiss eines Erwachsenen. Dabei zeigten sich die hypoplastischen Areale in hohem Maß kariesresistent.

Ein 34-jähriger Patient stellte sich im August 2020 zur Wurzelkanalbehandlung an 25 und 36 und zur Versorgung kariöser Läsionen an mehreren Zähnen in der Praxis vor. Die Anamnese und der bisherige Therapieverlauf offenbarten eine hohe Kariesaktivität ab dem 25. Lebensjahr. An Molar 26 wurde klinisch und radiografisch eine profunde Karies mit deutlicher Progression mesial und distal diagnostiziert (Abbildungen 1 und 4). Gleichzeitig war der Zahn durch eine frühkindliche, metabolisch ausgelöste Hypoplasie von Schmelz und Dentin geprägt. Die Inzisivi und die unteren Molaren waren von der Anomalie nicht betroffen, stattdessen zeigten sich hypoplastische weiße Flecken an 31, 32 und 33 (Abbildung 1). Der Zahn 16 war im Alter von 21 Jahren alio loco extrahiert worden.

Nach Eröffnung der distalen Läsion an 26 wurde im vollständig kariesfreien hypoplastischen Dentin aus der präeruptiven Zahnentwicklung eine typische ausgedehnte hypermineralisierte Transparenzzone freigelegt. Die Dentinkaries wurde konventionell mit einer Unterfüllung als Pulpaschutz („Dentinersatz“) versorgt und mit Composite-Material („Schmelzersatz“) aufgebaut. Weil die Hypoplasie-Areale auch nach knapp zehn Jahren hoher Kariesaktivität nicht befallen waren, blieben diese Areale selbst an den Kavitätenrändern unversorgt (Abbildung 2).

Trotz freiliegender hypoplastischer Dentinareale okklusal-palatinal erinnerte sich der Patient, auch als Kind niemals eine „Hypersensibilität“ des betroffenen Zahns verspürt zu haben.

Diskussion

Strukturanomalien der Zähne als seltene hereditäre Dysplasien (Amelogenesis et Dentinogenesis imperfecta, Dentin-Dysplasie, ICD-10-WHO-Version 2019/2021, K00.5) und viel häufigere Hypoplasien (meist symmetrische metabolische Hypoplasie, ICD-10-WHO-Version 2019/2021, K00.4) lassen sich seit Berten [1895], Black [1914], Schour und Massler [1940], Tucker und Sharpe [2004] sowie Gängler und Arnold [2007] sehr genau aus der Zahnentwicklung ableiten. Dabei werden die symmetrischen Hypoplasien durch eine metabolische Schädigung der Ameloblasten aus dem inneren Schmelzepithel im Glockenstadium ausgelöst [Ida-Yonemochi et al., 2020]. Wenn diese Funktionsstörung zum Ausfall kleiner – wie im vorliegenden Fall – oder ausgedehnter aplastischer Kronenareale führt, ist die vor der Schmelzentwicklung induzierte Dentinentwicklung besonders betroffen. Das demonstrierte Berten bereits 1895 sehr überzeugend, als er die gleichzeitig an den Wachstumslinien im Schmelz und im Dentin entstandene „Hypoplasie des Schmelzes (congenitale Schmelzdefecte; Erosionen)“, so der Titel, zeigte.

Diese Dentin-Hypoplasie reagiert durch überlebende Odontoblasten mit einer heftigen Hypermineralisation als Dentinsklerose, die sich während der Eruption, in der eine kurzzeitige Hypersensibilität entstehen kann, weiter ausbreitet und parallel zur früheren Schmelz-Dentin-Grenze verläuft [Berten, 1895] (Abbildung 2b). Entsprechend dem Invaginationskonzept im Glockenstadium [Gängler, 1986] entstehen dann runde hypoplastische Schmelzwülste an den Rändern der Aplasie [Ida-Yonemochi et al., 2020], wie in diesem Fall bei dem Molaren. Diese bleiben ebenso kariesresistent wie das Dentin und können in jedem Lebensalter minimal-invasiv an Restaurationen erhalten bleiben (Abbildung 2c).

Bei ausgedehnten Schmelz-Aplasien können die Schmelzränder auch abbrechen – nicht weil der Schmelz hypoplastisch ist, sondern weil das hypoplastische Dentin den Schmelz nur ungenügend abstützen kann. Jedenfalls sind metabolisch entstandene Hypoplasie-Zähne mit anpassungsfähigen Restaurationen aus Composite-Materialien, Goldlegierungen und indirekten Hybrid-Composite-Materialien lebenslang erhaltungsfähig, weil die Karies einen Bogen um die Hypoplasie macht, aber vor dem normalen Schmelz und Dentin des Zahns nicht Halt machen muss.

Dr. Tomas Lang

ORMED, Institute for Oral Medicine at the

University of Witten/Herdecke

Alfred-Herrhausen-Str. 45, 58455 Witten

Prof. Dr. Dr. h. c. Peter Gängler

ORMED, Institute for Oral Medicine at the

University of Witten/Herdecke

Alfred-Herrhausen-Str. 45, 58455 Witten E-mail:

Fazit für die Praxis

  • Hypoplastische Schmelzläsionen und die dabei betroffenen Dentinläsionen sind in der Regel – so die bestätigte Studienlage – (möglicherweise sogar immer?) kariesresistent.

  • Durch die tubuläre Struktur hypoplastischen Dentins wird bei Bedarf eine optimale Speichelremineralisation erreicht.

  • Die hypoplastischen Schmelzareale erweisen sich ebenfalls in der Regel widerstandsfähig bei der Mastikation und halten länger als manche zahnärztliche Restauration.

  • Auch ausgedehnte Dentinläsionen sind in der Regel – so die bestätigte Studienlage – (möglicherweise sogar immer?) auf exogene Reize schmerzsymptomlos („Hypersensibilität“), weil parallel zu den Invaginationen im Glockenstadium der Zahnentwicklung ausgeprägte hypermineralisierte Zonen (Dentinsklerose) verlaufen, die jeden Reiz abblocken können. Es sei denn, dass Kältereize („Eisessen“) während der Eruption auf noch nicht genügend hypermineralisiertes Dentin treffen: Temporäre konventionelle Glasionomer-Zemente können schützen und Abwarten hilft.

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Literaturliste:

International Classification of Diseases ICD-10-WHO Version 2019 und ICD-10-GM Vorabfassung 2021, Kapitel XI Krankheiten des Verdauungssystems K00 – K93, K00.5 Hereditäre Störungen, K00.4 Störungen der Zahnbildung: Zahnschmelzhypoplasie (neonatal) (postnatal) (pränatal).

Black GV.: Konservierende Zahnheilkunde. Band I, Die Pathologie der harten Zahngewebe. Die Atrophie der Zähne (S. 6 – 46), Hermann Meusser, Berlin 1914

Schour I, Massler M. Studies in tooth development. The growth patterns of human teeth.

J Am Dent Assoc 27 (1940), 1778 – 1793, 1918 – 1931.

Tucker A, Sharpe P.: The cutting-edge of mammalian development; how the embryo makes teeth. Nat Rev Genet 5 (2004), 499-508.

Gängler P, Arnold WH.: Clinical Aspects of Tooth Diseases and their Treatment. In Epple M, Bäuerlein E (ed). Handbook of Biomineralization -  Medical and Clinical Aspects. Wiley-VCH Verlag, Weinheim.

Berten J.: Hypoplasie des Schmelzes (congenitale Schmelzdefekte; Erosionen). Dt Mschr Zahnheilkd 13 (1895), 425-439, 483-498, 533-548, 587-600.

Ida-Yonemochi H, Otsu K, Harada H, Ohshima H.: Functional expression of sodium-dependent glucose transporter in amelogenesis. J Dent Res. 99 (2020), 977-986 DOI: 10.1177/0022034520916130 .

Gängler P.: Klinische und experimentelle Aspekte der vergleichenden Odontologie und Periodontotlogie. Nova Acta Leopoldina NF 58, 262 (1986), 525-537.

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