Am Lehr- und Forschungsgebiet Orale Mikrobiologie und Immunologie in Aachen untersuchen wir die Veränderungen im oralen Mikrobiom unter verschiedensten Bedingungen (zum Beispiel gesund versus Parodontitis beziehungsweise Karies; auf verschiedenen Substraten wie Dentin, Schmelz, Kompositen; nach Zugabe von Antibiotika oder Probiotika) und mit Kultur-basierten wie auch molekularen Methoden. Meist erschließt sich das Resultat nicht auf den ersten Blick, sondern es sind aufwendige statistische Berechnungen nötig, bevor ein Zusammenhang deutlich wird. Untersucht man hingegen den Einfluss von Zucker (Saccharose) auf die Entwicklung des Speichelmikrobioms, so fällt das Ergebnis so eindeutig aus, dass auch ein Laie das Resultat sofort begreift. Diesen Versuch möchte ich als Einleitung zum Thema kurz präsentieren.
Das Saccharose-Experiment
Für ein vom Bundesforschungsministerium gefördertes Verbundprojekt hatten wir in Aachen die Aufgabe, das Speichelmikrobiom außerhalb der Mundhöhle in vitro für mindestens 18 Stunden möglichst unverändert zu bewahren, um neue antimikrobielle Substanzen in ihrer Wirkung auf das Mikrobiom ex vivo zu testen [Conrads et al., 2019a]. Wir haben dazu unter anderem Mikrobiom-Proben auf verschiedenen Nährmedien mit und ohne Zuckerzusatz (0,5 Prozent Saccharose) getestet. Hintergrund: Prinzipiell gibt es 700 bis 800 verschiedene orale Bakterienarten, wovon jedoch nur die Hälfte kultivierbar ist [Dewhirst et al., 2010]. Die Gründe dafür liegen in den unbekannten Nährstoffansprüchen vieler Keime und auch in fehlenden Möglichkeiten, die Keime nach Überführung auf eine Agarplatte von obligatorischen, symbiontischen Begleitorganismen zu trennen.
Alle Menschen haben ein gemeinsames Kern-Mikrobiom aus besonders erfolgreichen „essenziellen“ Spezies. Daneben existiert in jedem oralen Mikrobiom eine individuell-spezifische Auswahl zusätzlicher Keime im Sinne eines personalisierten mikrobiellen Fingerabdrucks. Neben den individuellen gibt es auch standortspezifische und zeitliche Unterschiede in der Zusammensetzung des Mikrobioms. Letztere sind zum Beispiel vom Rhythmus der Nahrungsaufnahme abhängig. Von mir persönlich weiß ich, dass ich 280 Bakterienarten im Biofilm und 215 Bakterienarten im Speichel besitze, davon etwas weniger als die Hälfte (geschätzt 100) prinzipiell kultivierbar. Mit nährstoffreichen Standard-Agarplatten lassen sich davon ungefähr 60 Arten anzüchten.
Abbildung 1 gibt einen exemplarischen Überblick über ein normales Speichelmikrobiom. Es ist hier dargestellt nach Bestrahlung mit UV-Licht. Dadurch fluoreszieren einige Bakterienarten charakteristisch, zum Beispiel Fusobakterien gelb-grünlich, pigmentierte Prevotellen rot-orange oder Veillonellen violett.
Abbildung 2 zeigt das Mikrobiom nochmals auf einem Blutagar ohne Fluoreszenz, dafür aber im Vergleich ohne (links) und mit Zugabe von 0,5 Prozent Saccharose (rechts). Aus ungefähr 60 verschiedenen Bakterienarten, die vorher in der Kultur sichtbar waren, blieben bei dem skizzierten Versuch nach Zugabe des Zuckers nur zwei bis drei Arten übrig. Die nähere Analyse ergab, dass es sich um Laktobazillen, Bifidobakterien und einige wenige, besonders säuretolerante Streptokokken handelte.
Abb. 2: Reduktion der kultivierbaren Speichelflora nach Zugabe von 0,5 Prozent Saccharose über vier Stunden: Im rechten Ausschnitt (nach Zuckerzugabe) ist die Vielfalt deutlich reduziert und beschränkt sich auf azidophile Streptokokken, Laktobazillen und Bifidobakterien. | Conrads
Das gesunde Mikrobiom ist nach der Zugabe von Zucker also binnen weniger Stunden kollabiert und geschrumpft auf wenige saccharolytische, azidogene, azidophile Arten. Die gute Nachricht: Während in der Labor-Kultur nach Absterben der Begleitkeime eine Rekonstitution des gesunden Mikrobioms nicht mehr möglich ist und tatsächlich nur wenige azidurische Keime übrig bleiben, kann sich in der menschlichen Mundhöhle ein gesundes Mikrobiom schnell wieder regenerieren, beispielsweise wenn man die schädlichen niedermolekularen Kohlenhydrate eine Zeit lang weglässt und sich ausgewogen ernährt.
Der Standort Mundhöhle
Die menschliche Mundhöhle ist reich an Mikroorganismen. Im Unterschied zu anderen Standorten wie Haut, Darm oder Genitale bietet der Mund verschiedenste Umweltbedingungen nebeneinander. Allein die Temperatur ist mit 36,3 bis 38°C festgelegt. Es gibt hingegen Gradienten von Sauerstoff, die von einem Anteil von 21 Prozent bis hinunter zu 0 Prozent reichen (entspricht Anaerobiose mit sehr niedrigem Redoxpotenzial im Bereich von -300 mV). Es gibt dazu kreuzend pH-Gradienten (von pH 4,5 bis über pH 8 [Schläfer et al., 2011]) und alle möglichen Abstufungen von Zucker-, Protein- und unzähligen Supplement-Konzentrationen. Dies erklärt die mikrobielle Vielfalt im oralen Mikrobiom.
Der Mund ist als Standort begehrt, obwohl er durch die Komponenten der Immunabwehr den Keimen das Leben nicht immer einfach macht. Neben den bereits vorgestellten Bakterien finden wir regelmäßig Archaeen (methanogene Archebakterien), humanpathogene Viren, Bakterienviren (Phagen), Schimmel- und Hefepilze und sogar einzellige Protozoen in der Mundhöhle [Bandara et al., 2019; Horz und Conrads, 2011; Lauritano et al., 2016; Motlagh et al., 2016]. Abbildung 3 gibt einen Überblick über den Stammbaum des Lebens, der aus drei Domänen besteht (Eukaryota, Bacteria und Archaea), und zeigt, welche dieser Keime bei der Karies und welche bei der Parodontitis eine Rolle spielen.
Abb. 3: Der Baum des Lebens (Eukaryota, Bacteria und Archaea) und die Zuordnung zur Ätiologie der Karies (oben), wie auch – zum Kontrast – der Parodontitis: Die wichtigsten Vertreter (etablierte und neue Erreger) der kariogenen Phyla sind rot dargestellt. | Conrads
Univ.-prof. Dr. rer. nat. Georg Conrads
| UK Aachen
- 1994: Promotion zum Dr. rer. nat. über Gensonden in der medizinischen Diagnostik (RWTH Aachen)
- 1995: Forschungsaufenthalt in London (EDI)
- 1999: Habilitation für das Fach Medizinische und Orale Mikrobiologie (RWTH)
- 2000–2002: Visiting Professor an der University of California in Los Angeles (UCLA)
- seit 12/2002: Universitätsprofessor (RWTH) für das Fach Orale Mikrobiologie und Immunologie
- Conrads ist Gutachter für zahlreiche Institutionen sowie board member beim Journal of Oral Microbiology und Anaerobe Journal. Er ist seit 2016 Träger des Walkhoff-Preises der Deutschen Gesellschaft für Zahnerhaltung.
Die gegensätzlichen Eigenschaften des mikrobiellen Einflusses auf die Entstehung von Karies (Zuckerabbau, supragingivale Lage, leicht aerob bis anaerob) und Parodontitis (Proteinabbau, subgingivale Lage, anaerob) spiegeln sich interessanterweise in der phylogenetischen Herkunft der Erreger wider: Karies ist eher mit gram-positiven Bakterien und eukaryotischen Hefen der oberen Stammbaumhälfte assoziiert, während Parodontitis eher mit gram-negativen Bakterien und methanogenen Archaeen der unteren Stammbaumhälfte assoziiert ist.
Wie Bakterien Energie gewinnen
Mikrobielle Gärung und Säureproduktion
Um Ordnung zu erhalten und erst recht um sie zu erzeugen, benötigt man bekanntermaßen Energie. Um Leben zu ermöglichen, benötigt man Stoffwechselenergie in Form von Adenosintriphosphat (ATP), die Energiewährung der Zellen. Leben erzeugt (regeneriert) sein ATP entweder über Atmung (sehr effizient), Photosynthese (effizient, wenn genügend Licht vorhanden ist) oder über die Gärung (ineffizient). Bei der Kariogenese spielen gram-positive Bakterien und saccharolytische Hefepilze eine besondere Rolle (Abbildung 3).
Die meisten Bakterien und Hefen gewinnen ihre Energie durch die mühselige Fermentation (Vergärung) von Zuckern und zuckerreichen Glykoproteinen. Karies ist also unmittelbar ein Ergebnis der pH-senkenden Wirkung von Gärungsendprodukten.
Um die mikrobielle Kariesätiologie zu verstehen, muss man sich mit der Gärung und dort speziell mit der Milchsäuregärung befassen [Lagerweij und van Loveren, 2020; Marshall, 2019]. Viel Energie wird freigesetzt, wenn man – wie in einer Wasserstoffzelle – H2 und O2 (beziehungsweise einen anderen H2-Akzeptor wie Nitrat, Pyruvat, Acetyl-Coenzym A, Acetaldehyd) zusammenbringt. Bei der Gärung werden während der Glykolyse die Zucker so gespalten, dass molekularer H2 entsteht und gleichzeitig ein H2-Akzeptor. Dann wird abschließend H2 auf Akzeptoren wie Pyruvat (zu Milchsäure), Acetyl-CoA (zu Essigsäure) oder Acetaldehyd (zu Ethanol) übertragen und die freiwerdende Energie als ATP gespeichert. Das geht schnell, ist aber ineffizient, da der Abbau früh gestoppt wird und nur ein bis vier Moleküle ATP pro Molekül Glucose (also zwei bis acht Moleküle ATP pro Molekül Haushaltszucker, Saccharose) gebildet werden. Eine menschliche Zelle holt da locker neunmal mehr Energie heraus, indem sie über Zitratzyklus und Atmungskette die organische Materie soweit abbaut, bis nur noch CO2 und H2O als Endprodukte verbleiben.
Die Ineffizienz zwingt gärende Keime dazu, viel Substrat umzusetzen und so entstehen bereits bei normalem Zuckerkonsum 30 bis 50 mg Milch-, Essig- und andere organische Säuren sowie Ethanol und CO2 pro Tag. Der menschliche Speichel könnte die Säure prinzipiell sehr einfach puffern, aber Diffusionsbarrieren – wie der Biofilm mit teils wasserunlöslichen extrazellulären Polysacchariden (Dextrane, Mutan) – behindern die Puffersysteme und so kommt es lokal zur Demineralisation, zur Schmelz-Primärläsion und schließlich zur Kavitation.
Was das Mikrobiom Kariogen macht
Quantitativ finden wir 100 Millionen Bakterien pro Milliliter Speichel beziehungsweise Milligramm Plaque. Der quantitative Eintrag erhöht sich mit der Nahrungsaufnahme und wird gesenkt durch Mundhygienemaßnahmen. Das ist jedoch hier nicht das Thema. Betrachten wir also die qualitative Zusammensetzung der bakteriellen Mundflora, das Mikrobiom, um darin nach bedeutsamen Unterschieden bei der Anfälligkeit für Karies zu suchen.
Die Mundflora besteht aus acht häufigen (Anteil > 1 Prozent aller Spezies und Taxa) und sehr vielen seltenen Bakteriengruppen, die wir Phyla nennen. Ein Phylum besteht aus mehreren Ordnungen, die aus mehreren Familien, die aus mehreren Gattungen, die aus mehreren Arten und schließlich aus mehreren Stämmen und unzähligen Isolaten bestehen. Für die Kariogenese kann man seine Betrachtung auf zwei bis drei Phyla (Firmicutes, Proteobakterien, Aktinobakterien) beschränken, was aber zusammen genommen 500 Arten sind, die etwa 65 Prozent der Mundflora ausmachen. Hinzu kommen noch die gärenden Hefepilze, wenn wir das prinzipielle kariogene Potenzial bewerten wollen. Damit sollte klar sein, dass wir eine säurefreie Mundhöhle niemals erreichen können. Eliminiert man einige der Top-Zuckerfermenter (Saccharolyten), so werden andere schnell diese Nische besetzen.
Man kann bei Mikroben-gerichteten, kariespräventiven Maßnahmen also immer nur das Schlimmste vermeiden, niemals aber alle Erreger eliminieren. Das ginge nur mit einer sterilen Mundhöhle, wie es bei gnotobiotischen Tierversuchen in der Tat praktiziert wurde, was aber außerhalb der Laborbedingungen unmöglich ist.
Was ist also das Gefährlichste was unser Mikrobiom in Sachen Kariesrisiko hergibt? Die reine Säureproduktion (Azidogenese) führt uns nach dem oben Erwähnten wohl eher nicht zum Ziel, denn sie ist einfach zu verbreitet. Spezifischer könnte man gesteigerte Laktatproduktionen an repräsentativen Zähnen pro Zeit messen, indem man die Aktivität des mikrobiellen Schlüsselenzyms Laktatdehydrogenase (LDH) bestimmt. Die LDH ist ein Enzym, das den Wasserstoff auf Pyruvat überträgt und damit die für die Kariogenese quantitativ und qualitativ besonders bedeutsame Milchsäure produziert (niedriger pKs-Wert von 3,86). Ansätze der LDH-Messung (In-vitro-Daten) hat unsere Arbeitsgruppe kürzlich publiziert [Walther et al., 2019] und In-vivo-Studien dazu wurden abgeschlossen [Walther et al., 2020, im Druck].
LDH-Messungen als Maß für das azidogene Potenzial sind aber kompliziert, denn es gibt viele LDH-Varianten (darunter D- und L-Formen, bakterielle und humane Formen), die zu unterscheiden sind, zudem werden die Enzyme an- und abgeschaltet, je nachdem, wieviel Zucker im Speichel ankommt beziehungsweise wieviel Laktat bereits vorliegt.
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