Ein Fall für die bariatrische Zahnmedizin

So kreativ wurde eine Zahnärztin für ihren schwersten Patienten

Im April 2021 konnte die Zahnärztin Claudia Lüdecke mit ihrem Team einem 260 Kilo schweren Patienten durch ihr Improvisationstalent helfen, seine andauernden Zahnschmerzen zu lindern. Statt eines Behandlungsstuhls nutzte sie zwei Wartezimmerstühle ohne Lehne, eine Fußbank und eine menschliche Kopfstütze, um die Behandlung durchführen zu können.

Der Patient hat sich erstmals im März 2021 in unserer Praxis vorgestellt“, erzählt Lüdecke, die gemeinsam mit ihrem Mann seit 1992 eine Gemeinschaftspraxis im Magdeburger Stadtteil Neue Neustadt führt. Der 33-Jährige sei jahrelang nicht beim Zahnarzt gewesen. Daher habe massiver Behandlungsbedarf bestanden, um seine Mundgesundheit wiederherzustellen. „Er litt an starken Schmerzen, die vor allem durch nicht erhaltungswürdige Zähne hervorgerufen wurden“, berichtet die Zahnärztin. 

Alle Behandlungsstühle in der Zahnarztpraxis sind nur für eine maximale Belastung bis 150 Kilo ausgelegt. Da der Patient 260 Kilo wog, habe sie ihn allerdings zunächst nicht angemessen behandeln können. Lüdecke: „Meine Idee war, ihn stattdessen an die Universitätsklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie Magdeburg zu überweisen. Ich ging davon aus, dass man ihm dort helfen kann, weil Behandlungsstühle mit höherer Belastungsgrenze sowie OP-Tische mit einer größeren Traglast vorhanden sind.“

Gespräch mit dem Patienten

1. Wie lange sind Sie bei Frau Lüdecke in Behandlung?

Ich bin erst seit diesem Jahr bei Frau Lüdecke. Mir war die Anfahrt zum anderen Zahnarzt zu weit. Daher habe ich mich für einen Zahnarztwechsel entschieden. Aufgesucht habe ich die Zahnarztpraxis wegen andauernder Beschwerden und starker Schmerzen. Frau Lüdecke hat dann festgestellt, dass bei mir zwei Weisheitszähne gezogen werden müssen. Einer der beiden Zähne war bereits entzündet.

2. Was ist im Uniklinikum passiert?

Frau Lüdecke hatte mir einen Termin in der Uniklinik vermittelt. Ich war am entsprechenden Tag dort. Der Arzt in der Kieferchirurgie hat meine betroffenen Zähne angeschaut und festgestellt, dass sie nicht geschwollen sind. Daher befand er meinen Fall als nicht akut und bot mir den nächsten freien Termin im Juni an. Da ich nach wie vor starke Schmerzen hatte, rief ich wieder in der Praxis Lüdecke an. Mein Eingriff fand dann im April in der Zahnarztpraxis statt. Zwei Wochen später ging es mir wieder besser.

3. Wie haben Sie sich bei der Behandlung gefühlt?

Ich hatte keine Angst und fühlte mich auch nicht unwohl, da ich ganze Zeit gut betreut wurde. Die Zahnärztin hat mich über alle Schritte informiert und darüber aufgeklärt, was als nächstes passiert. Ich bin ihr sehr dankbar, dass sie mir geholfen und mich behandelt hat. Es ist eine Erleichterung, wieder schmerzfrei zu sein.

4. Wie beurteilen Sie die medizinische Versorgung für Menschen mit Übergewicht in Deutschland? 

Ich fühle mich nicht ausgegrenzt oder diskriminiert. Bislang habe ich noch keine negativen Erfahrungen gesammelt oder Probleme bei anderen Ärzten gehabt.

5. Was sollte aus Ihrer Sicht mehr getan werden?

Meiner Meinung nach wäre es von Vorteil, wenn es in größeren Städten oder Ballungsgebieten zentrale Anlaufstellen gäbe. Sie wären eine gute Möglichkeit für die Behandlung von Menschen mit starkem Übergewicht. Es sollte insgesamt mehr Aufklärung betrieben werden, damit jeder weiß, wo er sich hinwenden kann. Hierfür wären das Internet und die sozialen Medien eine gute Plattform.

„Leider konnte der Patient in der Klinik nicht kurzfristig behandelt werden, weil kein Notfallbefund vorlag. Nachdem man dort seine sofortige Behandlung abgelehnt hatte, meldete er sich danach am selben Tag wieder in unserer Praxis. Er berichtete von seinen Schmerzen, die nicht mehr auszuhalten gewesen seien. Trotz eines vollen Tagespensums haben wir ihn am Nachmittag in unsere Praxis bestellt.“ Die Herausforderung bestand darin, eine Behandlung durchführen, ohne den Behandlungsstuhl zu benutzen.

Gemeinsam mit dem Praxisteam suchte Lüdecke nach einer Lösung. Einer langjährigen Mitarbeiterin kam schlussendlich die zündende Idee. 

Die Auszubildende musste die Kopfstütze ersetzen

„Der Patient saß auf zwei Wartezimmerstühlen ohne Armlehne, die wir neben den eigentlichen Behandlungsstuhl platziert haben. Eine Auszubildende fungierte als Kopfstütze und hielt während der gesamten Behandlung, seinen Kopf. Mir assistierte eine ZFA und ich stellte mich auf eine Fußbank, während ich die Behandlung durchführte“, erinnert sich die Zahnärztin.

Lesen Sie auch unsere Titelgeschichte aus der zm 7/2021 zu „XXL-Patienten in der Praxis

Die nächste Schwierigkeit ließ nicht lange auf sich warten: Wie sieht die richtige Dosierung des Lokalanästhetikums aus? „Während ein Patient mit einem durchschnittlichen Gewicht zwischen 70 und 80 Kilo eine Ampulle benötigt, entschied ich mich dafür, ihm vier Ampullen zu verabreichen“, führt sie weiter aus. „Auch der große Kopf, die dickere Wange und die große Zunge erforderten Umdenken und Behandlungsgeschick.“ Anschließend extrahierte sie ihm zwei schmerzende, nicht erhaltungswürdige Zähne. Aktuell sei der Patient schmerzfrei, jedoch sei noch viel zu tun, um eine orale Rehabilitation zu realisieren.

Die Zahnärztin behandelt zusammen mit den drei anderen Behandlern noch etwa zehn andere übergewichtige Patienten in ihrer Praxis, deren Körpergewicht zwischen 150 und 160 Kilogramm liegt. Vor der Behandlung werden alle nach ihrem Gewicht gefragt, um die Belastungsgrenze des Behandlungsstuhls nicht auszureizen.

Für die Zukunft wünscht sich die Zahnärztin, dass Fachkliniken die Behandlung von stark übergewichtigen Patienten übernehmen, da diese besser ausgestattet sind. „Die Zahl stark übergewichtiger Patienten wird sicherlich noch zunehmen,“ prophezeit sie. Lüdecke hat sich für ihren Beruf entschieden, weil sie als Zahnärztin ihre handwerkliche Kreativität ausleben und ihrem Interesse für Ästhetik nachgehen kann. Vor allem die Arbeit mit und am Menschen zeichnet für sie diesen Beruf aus. „Auch heute – nach fast 30 Jahren – kann ich sagen, dass mich meine Tätigkeit als Zahnärztin erfüllt und mir Freude bereitet.“

Erfahrungsbericht Dr. M.-C. Müller

Das Hochfahren ist der Kritische Moment für den Motor

„Wir hatten einen Patienten, der eine Zeit lang so richtig XXL war – und den wir trotzdem mutig wider besseres Wissen erst mal auf einen normalen Behandlungsstuhl gesetzt haben. Dies ging einige Termine lang gut, aber dann hat der Hubmotor aufgegeben, sich in einer Stellung verhakt, wo es nicht mehr vor- oder zurückging. Ob es letztlich allerdings der gewichtige Patient oder das Alter des Stuhls war, ist ja immer schwer zu sagen. Wir haben damals einfach einen neuen Stuhl gekauft und unsere Techniker gefragt, wie wir für die Zukunft solche Risiken besser ausschließen können.

Deren Praxistipp: Das Hochfahren ist der kritischste Moment in puncto Motorbelastung. Bei solchen Patienten sei es am besten, den Stuhl erstmal leer in die gewünschte Position zu fahren, erst dann soll sich der Patient setzen. Die Rückenlehne herunterzufahren sei weniger kritisch als den gesamten Stuhl hoch- beziehungsweise herunterzufahen.

Beim oben genannten XXL-Patienten haben wir allerdings kein Risiko mehr eingehen wollen: Wir haben ihm vorsichtig unsere Sorgen erklärt und gesagt, dass wir – bis das Gewicht unkritischer ist – ihn lieber nur auf einen Holzstuhl aus dem Wartezimmer setzen für die Behandlung, was für ihn okay war.“

Dr. Michal-Constanze Müller, M.A. „Integrated Practice in Dentistry“ Heidornstr. 2, 30171 Hannover

ak

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