Zahnärztetag Westfalen-Lippe

Blick in die Alltagszahnmedizin

Wie versorgt man Kreidezähne optimal und wie geht man eigentlich am besten mit persönlichen Belastungssituationen um? Der 67. Zahnärztetag Westfalen-Lippe in Gütersloh widmete sich Herausforderungen, mit denen jeder Praktiker – und Mensch – regelmäßig konfrontiert wird.

Jost Rieckesmann, Präsident der Zahnärztekammer Westfalen-Lippe, begrüßte in der Stadthalle Gütersloh rund 400 Zahnärztinnen und Zahnärzte sowie über 800 virtuell zugeschaltete Gäste zum 67. Zahnärztetag Westfalen-Lippe – erstmals im Hybridformat, nachdem er letztes Jahr als reine online-Veranstaltung verlief und im Jahr 2020 ganz ausfallen musste. 

Ein Kongress im Schatten des Krieges 

Rieckesmann betonte in seiner Eröffnungsrede, dass der tiefschwarze Schatten des Krieges in der Ukraine über allem liege und der Kongress vor diesem Hintergrund unwichtig erscheine. Dennoch hätten sich die Veranstalter für eine Durchführung entschieden, denn es gehöre auch in Krisenzeiten zur Pflicht aller Zahnärztinnen und Zahnärzte, ihren Beruf gewissenhaft auszuüben und sich auf den aktuellsten Stand zu bringen.

Am ersten Kongresstag führte Prof. Dr. Roland Frankenberger (Marburg) die Zuhörerinnen und Zuhörer durch das Programm. Schwerpunkt am Freitag war die konservierende Zahnheilkunde, mit Vorträgen zu den Themen Kreidezähne, Seiten- und Frontzahnfüllungen mit Komposit, Kariesexkavation, Kinder-Endo, Zahnunfällen und Aligner-Therapie. Ziel war, Generalisten auf den neuesten Wissensstand zu bringen und sie in ihrer täglichen Arbeit zu bereichern – sozusagen ein Blick ins Detail der Alltagszahnmedizin.

Wer regelmäßig Kinder behandelt, kommt an der Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation (MIH) unterschiedlicher klinischer Ausprägung nicht vorbei. Prof. Dr. Jan Kühnisch (München) beschrieb das Krankheitsbild, das in Industrienationen eine Prävalenz von zehn bis 20 Prozent aufweist – Tendenz steigend. Typischerweise zeigen sich bei einer MIH Opazitäten von weißer, gelblicher bis bräunlicher Farbe an bleibenden Frontzähnen und Molaren, müssen aber nicht auf diese begrenzt bleiben und können auch im Milchgebiss auftreten. Einige der Kinder haben zudem Schmelzeinbrüche. Trotz intensiver Forschungsbemühungen ist die Ätiologie der MIH Kühnisch zufolge immer noch offen. 

Kooperationsfähigkeit ist entscheidend bei MIH

Beobachtet werden diese Hypersensitivitäten demnach vorwiegend bei Kindern unter acht Jahren, wobei vorwiegend die Seitenzähne betroffen sind. Diese Überempfindlichkeiten regulierten sich aber nach der Versorgung, erklärte Kühnisch. Lassen kleinere Kinder diese noch nicht zu, könne man mit kariespräventiven Agentien wie Tooth Mousse oder Elmex sensitive (Arginin-haltig) vorübergehend positive Effekte erzielen. Auch Fissurenversiegelungen könnten die Schmerzempfindlichkeit verbessern.

Die meisten MIH-Zähne seien mit klassischen Methoden restaurierbar, entscheidend dabei sei aber immer die Kooperationsfähigkeit der Kinder. Deshalb empfahl Kühnisch zunächst ein vereinfachtes klinisches Management in Abhängigkeit von der Compliance, wie non-invasive, direkte adhäsive Restaurationen mit flowable Komposit. Versorgungen mit Glasionomerzement funktionierten lediglich bei natürlichen Kavitäten. Bei kooperativen Kindern könne eine klassische, direkte Restauration mit defektorientiertem Kavitätendesign mittels Adhäsivauftrag und Kompositrestauration erfolgen. Die Überlebenswahrscheinlichkeiten von Füllungen bei MIH-Zähnen seien indes deutlich geringer als bei einer klassischen Füllungstherapie. Deshalb rät Kühnisch zu indirekten adhäsiven Restaurationen (CAD/CAM) als langfristige Versorgungsform.

Konfektionierte Kronen sollten nur non-Präp verwendet werden. Da diese jedoch sehr auftragen und dadurch den Durchbruch des Siebeners stören könnten, stellen sie für Kühnisch eine Ausnahme Versorgung dar. Eine Extraktion sei nur bei sehr stark destruierten, nicht mehr restaurierbaren Molaren indiziert.

Am zweiten Tag ging es schwerpunktmäßig um die zahnärztliche Chirurgie. Dabei führte Prof. Dr. Michael Stimmelmayr (Cham) durch das Programm und machte auch gleich den Auftakt mit seinem Vortrag über synoptische implantatprothetische Therapiekonzepte. Weitere Vorträge zu Rezessionsdeckung, Keramikimplantaten und Periimplantitisbehandlung folgten.

Für den Festvortrag wird beim Zahnärztetag Westfalen-Lippe traditionsgemäß ein nicht-zahnmedizinisches Thema ausgewählt. Dieses Jahr referierte der Kriminal-psychologe Dr. Thomas Müller (Lichtenstein) über das Verhalten und die Reaktionen von Menschen in Belastungssituationen. Dieses Thema ist nicht nur im Angesicht globaler Krisen aktuell, sondern grundsätzlich für Menschen in medizinischen Berufen relevant. Die Kernfrage lautet hier: Warum wachsen manche Menschen unter starker Belastung über sich hinaus, während andere daran zerbrechen? 

Angst als das Gefühl unserer Zeit

Müller beschreibt Angst als vorherrschendes Gefühl unserer Zeit. Generell glaube er, dass die Menschen verlernt hätten, mit Krisen umzugehen. Bezeichnend sei in diesem Kontext, dass Benzodiazepine zu den am dritthäufigsten verkauften Medikamenten weltweit gehören. Menschen versuchten nicht nur mit Medikamenten Angstgefühle zu unterdrücken, sondern grundsätzlich Situationen zu vermeiden, die ihnen Angst machen. Müller riet, sich diesen dennoch zu stellen. „Gehen Sie Ängsten nicht aus dem Weg, sonst wachsen Sie nicht.“ Die Angst werde bei Vermeidung größer und irgendwann die Schwelle, an der Angstgefühle ausgelöst werden, immer niedriger.

Was beeinflusst also maßgeblich unser Verhalten in Belastungssituationen? Abhängig sei dies von der Resilienz, also der psychischen Widerstandskraft des Einzelnen. Die gute Nachricht laute: Man könne Resilienz erlernen. Dabei gelte es zu beachten, dass niemand bei ständigem Erfolg weise werde. Weise würde nur derjenige, der lerne, an seinen Niederlagen zu wachsen.

Müller beschreibt vier Säulen der Resilienz, die sich aus den folgenden Punkten zusammensetzt:

1. Bereitschaft, sich selbst weiterzuentwickeln. 

2. Bereitschaft dafür zu entwickeln, einen Perspektivwechsel vorzunehmen. 

3. Kenntnis darüber haben, wie das eigene Selbstwertgefühl verteilt ist.

4. Offene, ehrliche und zeitnahe Kommunikation zu kultivieren. (damit ist nicht digitale Kommunikation gemeint)

In Belastungssituationen helfe es, einen Perspektivwechsel vorzunehmen. Sich ständig als Opfer einer Situation zu sehen sei nicht nur kraftraubend, sondern ein Werkzeug, um Aufmerksamkeit zu erlangen. Hier sei es gut, sich zunächst Gedanken über die Beschaffenheit seines eigenen Selbstwertgefühls zu machen. Dabei sollten die drei Bereiche berufliche Tätigkeit, Interaktion mit Menschen außerhalb des Jobs und Selbstfürsorge idealerweise ausgewogen verteilt sein. Kritisch werde es, wenn ein Bereich mehr Raum einnehme als die beiden anderen zusammen. Wenn ausgerechnet der für das Selbstwertgefühl wichtigste Bereich wegfalle, könne dies der Beginn einer persönlichen Krise sein, deren Kompensationsversuch in Drogenmissbrauch oder der Entwicklung einer anderen Sucht endet. Deshalb sei die Kenntnis der Verteilung des eigenen Selbstwertgefühls so wichtig, um sich selbst, aber auch seine Mitmenschen besser lesen zu können – insbesondere in Belastungssituationen. Was überdies helfen kann, schwierige Zeiten etwas leichter zu machen: Humor!

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