Aus der Implantologie

Wie sinnvoll ist die Sofortbelastung von Implantaten wirklich

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In den letzten Jahrzehnten hat sich die orale Implantologie von einer „Randerscheinung“ zu einem zentralen essentiellen Bestandteil der modernen Zahnmedizin entwickelt. Durch massive Werbekampagnen und Veröffentlichungen in allgemein zugänglichen, populärwissenschaftlichen Medien wird dem mündigen Patienten suggeriert, dass innerhalb weniger Stunden „neue“ und „feste“ Zähne inseriert werden können. Natürlich können diese pauschalisierten Aussagen keiner fundierten wissenschaftlichen Diskussion standhalten, wir werden aber immer häufiger seitens unserer Patienten damit konfrontiert. Hier der Bericht aus dem Praxisalltag.

Schon 1977 publizierte Ledermann Arbeiten zur erfolgreichen Sofortbelastung von vier Steg-verblockten TPS-Schrauben im interforaminalen Unterkieferbereich [Ledermann 1977]. Aber erst in neuester Zeit gelangte die Sofortbelastung in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses. Zahlreiche Autoren, wie Hohn [2000], Nagel et al. [2001], Masur [2001] und andere, veröffentlichten Arbeiten zu diesem Thema mit teilweise kontroversen Auffassungen. Im Folgenden wollen wir unser seit vielen Jahren bewährtes Konzept vorstellen.

Sofortimplantation versus Spätimplantation

Die Versorgung von Patienten mit oralen Implantaten kann grundsätzlich in drei Abschnitte gegliedert werden:

• Entfernung von nicht erhaltungswürdigen Zähnen und Schaffung eines geeigneten Implantatbettes

• Implantation (sofort, verzögert, spät)

• Versorgung des Implantates mit Zahnersatz

Über die zwischen den einzelnen Abschnitten notwendigen Heilungszeiten bestehen zurzeit noch unterschiedliche Auffassungen, da fast alle Publikationen auf empirischen Erhebungen, kaum aber auf randomisierten Doppelblindstudien aufbauen.

Sofort- und verzögerte Sofortimplantation

Als Sofortimplantation wird das einzeitige Einbringen eines Implantates in die frische Extraktionsalveole verstanden, eine verzögerte Sofortimplantation liegt bei einem zeitlichen Abstand post operationem zwischen zwei und sechs Wochen vor. Sofortimplantationen sind grundsätzlich in allen Kieferregionen möglich. Momentan hat sicherlich das Einzelzahnsofortimplantat im Frontbereich die größte Bedeutung. Dies hat verschiedene Ursachen.

Zum einen schaffen anatomische Gegebenheiten (gerade, einwurzelig) günstige Voraussetzungen für ein relativ formkongruentes Implantatbett. Zum anderen treten natürlich vor allem im Oberkieferfrontbereich recht häufig traumatisch bedingte Zahn- oder Zahnwurzelfrakturen sowie Luxationen als klassische Indikation einer Sofortimplantation auf.

Absolute lokale Kontraindikationen für Sofortimplantationen sind infizierte Extraktionsalveolen, größere apikale Ostitiden sowie massive Knochendefekte im betroffenen Bereich. Daneben sind natürlich die absoluten und relativen Kontraindikationen für Implantationen im Allgemeinen zu beachten.

Nach schonender Zahnentfernung unter Erhalt des krestalen Alveolenrandes und Entfernung von Granulationsgewebe wird das Implantatbett innerhalb der Extraktionsalveole mittels rotierender Fräsen geschaffen. Das Implantat wird eingebracht und bis zur vorgesehenen Position versenkt. Auf Grund von Forminkongruenzen vor allem im zervikalen Bereich sind häufig augmentative Maßnahmen notwendig. Wir verwenden routinemäßig lokal gewonnene autologe Knochenspäne und gegebenenfalls „Cerasorb“ als Knochenaufbaumaterial nach den Kriterien der GBR-Technik.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Sofortimplantation eine große Bereicherung des therapeutischen Spektrums mit einer sehr hohen Erfolgswahrscheinlichkeit darstellt und nur selten Implantatverluste zu beobachten sind.

Spätimplantation

Nach Entfernung von nicht erhaltungswürdigen Zähnen warten wir etwa drei Monate bis zur Implantation. Dies ist vor allem nach der Entfernung von Ober und Unterkiefermolaren empfehlenswert. Sind augmentative Maßnahmen, welche nicht simultan mit der Implantation durchgeführt werden können [Kreusser, Jacobs 1995], notwendig, rechnen wir bei lateralen Kieferkammaugmentationen mit vier, bei Sinusbodenaugmentationen mit mindestens neun Monaten Einheilzeit des Knochens oder Augmentates bis zur Implantation. Bei Patienten im fortgeschrittenen Alter und multimorbiden Patienten warten wir stets etwas länger.

Sofortbelastung versus belastungsfreies Einheilen

Auch post implantationem muss der Patient mit nicht unerheblichen Wartezeiten rechnen, bis das Implantat funktionell belastet werden kann. Routinemäßig rechnen wir im Bereich der Mandibula mit etwa acht Wochen, im nicht augmentierten Oberkieferbereich mit etwa drei Monaten. Im distalen Bereich der Maxilla bei größeren augmentativen Maßnahmen sind zirka neun bis zwölf Monate Einheilzeit einzuplanen. Die Einheilzeiten steigen mit zunehmendem Alter und Morbidität des Patienten an.

Nachdem in den vergangenen Jahren die Erhöhung der Funktionsdauer des implantatgetragenen Ersatzes und die optimale prothetische Lage des Implantates Hauptaugenmerk der Forschungen waren, gelangt zunehmend die Verkürzung der Versorgungszeiten in den Fokus des wissenschaftlichen Interesses.

Dafür gibt es zurzeit noch einige konkurrierende Konzepte [Schuppan et al. 2001]:

1.Sofortbelastung mit provisorischer oder definitiver prothetischer Versorgung

2.Frühbelastung mit provisorischer oder definitiver prothetischer Versorgung

3.Auf Interimsimplantaten abgestützte provisorische Versorgungen

1. Sofortbelastung

Bei ausreichender Primärstabilität können inserierte Implantate sofort belastet werden, wenn ein ausreichendes Knochenangebot vorhanden ist und die durch Belastung auftretenden Mikrobewegungen den Wert von 100 Mikrometern nicht überschreiten [Tarnow et al. 1997]. Dafür werden verschiedene prothetische Konzepte angewendet. Allen ist eine provisorische Immediatversorgung und eine definitive Versorgung nach Einheilung und abgeschlossenem Weichgewebemanagement gemeinsam. Eine Ausnahme ist die interforaminale Unterkieferstegversorgung, welche häufig auch direkt prothetisch versorgt wird [Brachwitz 2001].

Auf Grund der geringeren auftretenden Kräfte und der größeren ästhetischen Bedeutung ist der Frontzahnbereich zurzeit das Hauptforschungsgebiet für sofortbelastete Implantate. Dabei steht die schnelle ästhetische Rehabilitation im Vordergrund, kaufunktionelle Aspekte treten in den Hintergrund.

Die inserierten Implantate werden mit einem konfektionierten, eventuell individualisierten provisorischen Aufbau versehen, worauf ein Langzeitprovisorium gefertigt wird. Natürlich müssen dabei alle Kontakte bei Mastikation sowie Pro- und Laterotrusion vermieden werden, um osseointegrationshemmende Makrobewegungen des Implantates bei der Einheilung zu vermeiden. Da aber eine genaue klinische Abschätzung der auftretenden Kräfte nicht möglich ist, sollte diese Indikation zurzeit nur bei ausreichendem Knochenangebot und höchster Primärstabilität angewendet werden.

Im Seitenzahnbereich, wo die mastikatorische Funktion überwiegt und größere kaufunktionelle Kräfte auftreten sowie schwierigere anatomische Gegebenheiten berücksichtigt werden müssen, ist eine Sofortbelastung aus derzeitigem Erkenntnisstand äußerst kritisch zu hinterfragen.

Einem im Regelfall geringerem Knochenangebot, bedingt durch die anatomischen Gegebenheiten des Sinus maxillaris und des Nervus alveolaris inferior, stehen große mastikatorische Kräfte mit dem Risiko unkontrollierter Makrobewegungen des Implantates gegenüber. Auch ist der Patient im Regelfall eher bereit, auf eine sofortprothetische Versorgung zu verzichten.

Sofortbelastung bei Freiendsituationen

Auf Grund des in Freiendsituationen im Regelfall stark reduzierten Knochenangebotes wie auch der zunehmenden okklusalen Belastung durch verloren gegangene kaufunktionelle Einheiten sollte in diesen Fällen auf eine Sofort- oder Frühbelastung verzichtet werden.

Sofortbelastung im zahnlosen Unterkiefer

Die längsten klinischen Studien liegen zur Sofortbelastung von interforaminalen Implantaten im Unterkiefer vor. Wie einleitend ausgeführt, hatte schon Ledermann in den siebziger Jahren erfolgreich interforaminale Implantate sofortprothetisch versorgt. Dies hat den Vorteil, dass dem Patienten frühzeitig optimaler Kaukomfort gegeben werden kann. Durch die mittels Stegen erreichbare dreidimensionale Abstützung von vier oder fünf Unterkieferimplantaten können die auf die einzelnen Implantate wirkenden Mikrobewegungen reduziert werden, trotzdem kann eine Überlastung und damit einhergehende bindegewebige Einheilung nicht ausgeschlossen werden.

Sofortbelastung im zahnlosen Oberkiefer

Im Oberkiefer beurteilen wir sofortbelastete Implantate zurzeit noch recht kritisch, da auf Grund der in diesem Bereich reduzierten Knochendichte eine ausreichende Primärstabilität nur schwer erreichbar erscheint, und Mikrobewegungen über 100 Mikrometer zu einer stark erhöhten Verlustrate führen.

2. Frühbelastung

Diese Versorgungsform stellt ähnliche Anforderungen an das Knochenangebot und das prothetische Versorgungskonzept wie die Sofortbelastung, auf Grund der schon zurückgegangenen Weichteilschwellung ist die rote Ästhetik eventuell optimaler zu gestalten.

3. Interimsimplantate

(Temporary fixture restoration)

Im Gegensatz zur Sofortbelastung werden bei der Anwendung von Interimsimplantaten unerwünschte Kaukräfte komplett von den definitiven Implantaten ferngehalten. Eine durch Makrobewegungen eventuell verhinderte Osseointegration kann zuverlässig verhindert werden und rechtfertigt den geringen therapeutischen Mehraufwand.

Interimsimplantate stellen eine hervorragende Erweiterung unseres therapeutischen Spektrums dar und werden in unserer Praxis bevorzugt zur vorübergehenden Rehabilitation bei längeren Einheilzeiten, wie nach Sinusbodenaugmentationen, eingesetzt. Dadurch ist es möglich, fast alle osseointegrationshemmenden Mikrobewegungen von den definitiven Implantaten fern zu halten, was mit herausnehmbaren schleimhautgetragenen provisorischen Lösungen häufig nur bedingt möglich ist.

Zusammenfassung

Abschließend lässt sich sagen, dass die Sofortbelastung zurzeit noch sehr zurückhaltend bewertet werden muss. Einer durch moderne Implantatbeschichtungen ohnehin verringerten Einheilzeit steht ein in einigen Indikationsgebieten nicht kalkulierbares Verlustrisiko gegenüber. Wobei dieses Risiko stets bei den implantologisch tätigen Kollegen und nicht bei den mit Schalmeienklängen werbenden Implantatherstellern liegt.

Unserer Meinung nach bieten vor allem die Gesetze der Natur, wie ausreichende Implantatoberfläche (Länge, Durchmesser), ausreichende Implantatanzahl und ausreichende, belastungsfreie Einheilzeit, die größtmögliche Sicherheit und geringste Verlustrate im implantatchirurgischen Bereich.

Unser Konzept vermeidet durch die Anwendung von herausnehmbarem oder auf Interimsimplantaten verankertem festsitzenden provisorischen Zahnersatz konsequent mechanische Belastungen während der Einheilzeit und bietet dadurch dem Patienten die bestmögliche Kosten-Nutzen-Relation.

Alle Einflussfaktoren, welche die Verlustraten erhöhen können, wie Rauchen, Nichtbeachtung der biofunktionellen und natürlichen Einheilungskriterien (zum Beispiel extensiver Einsatz der Sofortbelastung), aber auch Allgemeinerkrankungen, führen zu unnötigen Gesundheits- und Kostenrisiken. Die zurzeit besonders aus marketingtechnischen Gründen häufig publizierte Sofortbelastung von Implantaten in möglichst allen Bereichen und Indikationen muss dem Patienten gegenüber teilweise bedenklich erscheinen.

Eine strenge Indikationsstellung bei sofortbelasteten Implantaten nutzt, verantwortungsbewusst und solide angewendet, der Seriosität der implantologisch tätigen Kollegen eher als spektakuläre Versprechungen, die noch allzu häufig in einer „Bruchlandung“ enden können.

Dr. Dr. Bernd KreusserDr. Joachim KreusserDr. Klaus Reinhardt und KollegenFriedrichstraße 1963739 Aschaffenburg

Dr. Dr. Wolfgang JacobsBahnhofstraße 6454662 Speicher

Korrespondenzadresse:Dr. Jörg TöpferFriedrichstr. 1963739 AschaffenburgE-Mail:joerg@drtoepfer.de

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