Die Macht der Börsen-Analysten

Weisheit oder Willkür

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Joachim Kirchmann Ihre Kauf- oder Verkaufsignale vermehren oder verbrennen an einem einzigen Börsentag nicht selten Milliarden. Haben nämlich Börsen-Analysten ein Urteil gesprochen, horchen nahezu alle auf und viele handeln danach. Oft aber stellt sich heraus: Der Analysten-Rat war falsch. Soll man ihn überhaupt beachten?

Wer amerikanische oder britische Wirtschaftspublikation liest, findet den trockenen Stoff zumeist reichlich garniert mit flotten Zitaten. Was die Zitatspender so von sich geben, ist in der Regel knallharte Meinung. Die Autoren solcher Berichte lassen diese Meinungsmacher gerne aufmarschieren, weil sie selber um ihren Job bangen oder aber Schadensersatzklagen befürchten müssten, würden sie selber etwa folgende Aussage zu Papier bringen: „Das Unternehmen XY ist ein notorischer Minusmacher, seine Aktien sind ein klarer Verkauf.“

Umgekehrt würde kein ehrenwerter Wirtschaftsjournalist die Erkenntnis publizieren: „Das Unternehmen XY ist eine Perle mit hervorragendem Potential, unbedingt jetzt zu jedem Preis kaufen!“ Es könnte ja auch ganz anders kommen. Die Leserschaft würde sich wegen eines verlustreichen Aktientipps beschweren, Ressortleiter und Chefredakteur würden einen Schreiber, der sich in Phantasiegefilde vergaloppiert hat, zur Rechenschaft ziehen. Aber die in den Medien vorgeführten Zitatspender genießen gleichsam Narrenfreiheit.

Immerhin: Die Narrenzunft, die nicht selten Ihr Publikum über den Unterhaltungswert ihrer Aussagen hinaus tatsächlich zum Narren hält, nennt sich Analysten. Diese Berufsbezeichnung suggeriert Sachkunde, Neutralität und Objektivität. Und richtig bedeutsam wird ein Analyst, wenn das Investmenthaus, in dessen Namen er auftritt, weithin bekannt oder sogar renommiert ist. Wenn beispielsweise das Kompetenzticket eines Analysten auf den Namen Merrill Lynch, Goldman Sachs, Lehman Brothers oder Salomon Smith Barney ausgestellt ist, hört das Börsenpublikum besonders aufmerksam hin.

Gelenkte Kurse

Solch respektable Häuser können in der Tat Aktienkurse nachhaltig nach oben oder unten bewegen. Davon ist in der Regel auszugehen, weil das breite Publikum glaubt, die Investmentbanker selber würden sich an die Analysen ihrer Arbeitgeber halten und ihre Kunden entsprechend dirigieren. Wohl gar nicht selten, aber nie eindeutig nachweisbar ist die Absicht von Anlageberatern und Depotverwaltern, durch den Mund ihrer Analysten die Aktienkurse bestimmter Unternehmen gewollt in eine gewünschte Richtung zu lenken.

Sie wollen ganz einfach mit dem Lockmittel einer vermeintlich unbestechlichen und neutralen Analyse Aktienkurse bewegen, um daraus einen geschäftlichen Nutzen zu ziehen. Der Analysten-Zirkus, der sich in der amerikanischen Börsenwelt wie ein Ritual etabliert hat, schwappt jetzt zunehmend nach Europa.

Auch hier präsentieren schon viele Geldinstitute, von den halbstaatlichen Landesbanken über das deutsche Großbankenquartett bis hin zu den Privatbanken und den Sparkassenorganisationen „Analysten“ als Börsenorakel. Und die Medien, allen voran der stark auf Geldanlage ausgerichtete Privatfernsehsender n-tv, lassen gerne Analysten aufmarschieren, damit nicht die Moderatoren selber, sondern ein Vertreter der rein sachlichen, auf Objektivität ausgerichteten Analyse – gern auch „Research“ genannt – die vom Publikum ersehnten Handlungsanweisungen erteilt.

Doch wie verwirrend für den Privatanleger eine Aktienanalyse sein kann, zeigt die jüngste Beurteilung der Bayer-Aktie. Bedingt durch den Verkaufsstop des Cholesterinsenkers Lipobay verzeichnete der deutsche Chemieund Pharmakonzern für das abgelaufene Geschäftsjahr 2001 einen Gewinneinbruch um 47 Prozent. Doch der Leverkusener Konzern hat mit Gegenmaßnahmen reagiert und prognostizierte auf der Bilanzpressekonferenz im März dieses Jahres für das Geschäftsjahr 2002 eine „deutliche Verbesserung des Konzerngewinns.“ Die Bayer-Aktie ist also ein Kauf, denkt sich der Laien-Investor, als zu diesem Zeitpunkt der Titel bei unter 30 Euro notierte.

Doch der Bayer-Analyst des Privatbankhauses Metzler senkte den Daumen und sagte „verkaufen“ bei 34 Euro. Kurs heute: um die 40 Euro. Ein womöglich grundverkehrter Rat. Laut einer Analyse der US-Investmentbank Lehman Brothers steht Bayer bei einem Kurs von 42 Euro auf der Verkaufsliste. Salomon Smith Barney hingegen stuft Bayer als starken Kaufkandidaten ein und rät erst bei einem Kurs von über 50 Euro zum Verkauf. Kluge Wirtschaftsmedien wie etwa „Business Week“ oder „Börse Online“ helfen ihre Leserschaft aus der Verwirrung, indem sie publizieren, wie viele Analysten für einen Kauf und wie viele für einen Verkauf votieren. Der Privatinvestor kann dann eine Mehrheitsentscheidung treffen.

Verwirrte Leser

Aber er könnte genauso gut würfeln. Denn die Kriterien, nach denen die Analysten eine halbwegs objektiv begründete Kauf- oder Verkaufsempfehlung abgeben, sind dehnbar, schillernd und auf jeden Fall stark interpretationsbedürftig. Die folgenden Bewertungsparameter stehen dabei im Mittelpunkt.

Das Kurs-/Gewinnverhältnis (KGV):Hier wird der Aktienkurs durch den Gewinn pro Aktie geteilt. Je niedriger ein KGV ausfällt, um so preiswerter ist die Aktie. Denn wenn der Unternehmensgewinn mit zehn Euro pro Aktie bezahlt werden muss, ist das weitaus günstiger, als wenn in einem Aktienkurs der 30-fache Gewinn steckt. Doch was die Wirtschaftsprüfer nach welcher Rechnungslegungsvorschrift (deutsches HGB, USGAAP oder IAS) und nicht zuletzt auch auf Anweisung des Prüflings als Gewinn definieren, ist oftmals mehr Wunsch als Wirklichkeit. Sodann ist der Gewinn pro Aktie auch stark branchenabhängig. Deshalb vergleichen die Analysten das KGV innerhalb einer Branchengruppe. Weisen etwa die führenden US-Softwareunternehmen Microsoft, Oracle oder Siebel ein KGV von um die 70 aus, so ist im Vergleich dazu die deutsche Softwareperle SAP bei einem KGV von rund 50 geradezu ein Schnäppchen. Der aktuelle SAPKurs von rund 150 Euro müsste auf bis über 200 Euro steigen, wenn die Deutschen mit den Amerikanern im Preisniveau ihrer Aktien gleichziehen wollen.

Doch ein anderer Branchenvergleich zeigt, wie irrelevant ein KGV sein kann: Mit einem KGV von derzeit 18 ist der Automobilhersteller BMW zwar wesentlich tiefer bewertet als die genannten Softwareunternehmen, aber doppelt so teuer wie VW mit einem KGV von neun. Ist VW, die im Vergleich mit BMW statt aktuell rund 50 eigentlich 100 Euro kosten müssten, deshalb ein klarer Kauf? Nicht unbedingt, würde so mancher Analyst und Kenner der VW-Kostenstrukturen sagen.

Das Kurs-/Buchverhältnis (KBV)gibt an, mit welchem Faktor der Buchwert im Aktienkurs enthalten ist. Ist also das KBV gering, ist der Buchwert mit dem Aktienkurs niedrig bezahlt. Ist er hoch, steht auch das Unternehmen hoch im Kurs. Der Buchwert errechnet sich aus dem Analagevermögen minus Schulden. Doch was bedeutet Buchwert? Ein Industrieunternehmen oder eine Brauerei mit wertvollen, aber abgeschriebenen Immobilien ist in den Büchern weitaus weniger wert als am Markt. Sodann gibt es Unternehmen, etwa Banken, deren Beteiligungen einen höheren Wert haben als das Mutterunternehmen selbst. Dessen Buchwert gäbe es an der Börse gleichsam geschenkt. Aber das KBV teilt einer Aktiengesellschaft auch dann noch einen relativ fairen Wert zu, wenn sie temporär Verluste schreibt, also gar kein KGV vorweisen kann. Doch ein Unternehmen beschert einem Aktionär im allgemeinen nur dann steigende Kurse, wenn aus steigenden Umsätzen für die Zukunft steigende Gewinne zu erwarten sind.

Das Kurs-/Cash-Flow-Verhältnis (KCV):Der Cash-Flow bezeichnet (im Groben) den Nettozufluss an flüssigen Mitteln. Dazu zählt vor allem, was nach Abzug etwa der Umsatzsteuer in die Kasse fließt und von hier aus zur Schuldentilgung, zur Selbstfinanzierung oder zur Ausschüttung an die Aktionäre verwendet werden kann. Das KCV ist eine relativ objektive Große, beispielsweise nicht durch Abschreibungs- oder Risikorückstellungstricks zu beeinflussen. Auch hier gilt: Je niedriger ein KCV, um so preiswerter ist eine Aktie im Branchenvergleich. Aber das KCV ist nur ein Bewertungsmassstab von vielen.

Das Ebitdaist die englische Abkürzung für Gewinn vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen. Es erlaubt einen halbwegs objektiven Vergleich internationaler Unternehmen im Hinblick auf ihre wahre Wirtschaftsstärke und Wertschöpfungskraft. Denn sowohl Steuern als auch Abschreibungssätze und -möglichkeiten fallen von Staat zu Staat höchst unterschiedlich aus. Sie können vom Management nicht beeinflusst werden. Doch was nützt ein günstiger Ebitda-Wert pro Aktie, wenn – wie etwa derzeit in der Telekombranche – ein Unternehmen hoch verschuldet ist und ein Großteil des Cash-Flows für Zinszahlungen und Kredittilgung abfließt?

Höchst subjektiv

Neben den aufgelisteten gibt es noch viele andere Parameter, die den Kurswert von Aktiengesellschaften beurteilen. Alle werden von den Analysten höchst subjektiv gewichtet und interpretiert. Da die Analysten in aller Regel Angestellte von Finanzdienstleistern sind und diese mit der Ausgabe von oder dem Handel mit Aktien (nicht wenig) Geld verdienen, liegt zuweilen der Verdacht nahe, diese Halbgötter des Geldes könnten versucht sein, einen Aktienkurs zu manipulieren. Wie ist es sonst zu erklären, dass Analysten bisweilen Unternehmen zum „strong buy“ (unbedingter Kauf) ausrufen, die dann wenig später Insolvenz anmelden. Entweder wollten sich Aktionäre, denen gegenüber sich eine Investmentbank verpflichtet fühlt, zu noch günstigen Kursen von einem Pleitekandidaten trennen. Oder aber der Analyst namens Schlaumeier war wieder einmal, wie so oft in seiner Zunft der Fall, mit der Realität nicht sonderlich vertraut.

Fazit: Am verlässlichsten für die Bewertung einer Aktie ist nach wie vor das gute alte Kurs-/Gewinnverhältnis (KGV), wenn es im Branchenkontext angewendet wird. Voraussetzung ist jedoch, der Wirtschaftsprüfer hat ein reelles Rechenwerk abgeliefert und das Management der betreffenden Gesellschaft war so ehrenwert, den Prüfer wie auch die Aktionäre nicht hinters Licht zu führen. Wer sich als anspruchsvoller Laieninvestor nicht mit Sparbuchzinsen, Sparbriefen oder auch den Renditen von Bundesschatzbriefen begnügen, sich aber auch nicht mit KGV, KBV, KCV oder Ebitda beschäftigen möchte, ist in einem konservativen, langjährig erfolgreichen Aktienfonds bestens aufgehoben. Hier kümmern sich gut bezahlte Börsenprofis um die richtige und richtig dosierte Titelauswahl wie auch um die Optimierung von Renditechance und Wertrisiko. Selbst wenn einige Aktientitel in einem Fonds aus dem Ruder laufen oder gar in Konkurs gehen, gleichen andere Kursgewinner diese Schlappe auf einen guten Durchschnitt wieder aus.

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