Der besondere Fall

Zahnarzt war schuld an Selenvergiftung

Im November 2000 wurde der Arzneimittelkommission ein schwerer Fall einer unerwünschten Arzneimittelwirkung durch den leitenden Arzt einer internistischen Klinik gemeldet, den wir auf Grund des Schweregrades der Patientenschädigung hier im Detail vorstellen.

Ein Zahnarzt hatte einer Patientin folgende Rezeptur erstellt:

Ein Zahnarzt, der im Bereich der ganzheitlichen Zahnheilkunde seit vielen Jahren tätig ist und nach eigenen Angaben über die Qualifikation der von der Internationalen Gesellschaft für Ganzheitliche Zahnmedizin e.V. (GZM) verliehenen, zertifizierten Zusatzausbildung Ganzheitliche Zahnmedizin verfügt und in dieser Vereinigung auch als Referent tätig ist, hatte bei einer Patientin mittels Vega-Decoder, Kirlian-Fotografie und vegetativen Funktionstests eine Schwermetallbelastung durch Amalgamfüllungen festgestellt. 

Nach Entfernung der vorhandenen Amalgamfüllungen sollte bei der Patientin nun eine „Entgiftung“ der Schwermetalle erfolgen. Der Kollege stellte mit seinen ganzheitlichen Methoden fest, dass das „übliche Selen Enzym“ nicht anzuwenden sei, die Patientin aber auf Natriumselenit- Pentahydrat bei den Testmethoden sehr gut ansprach. Der Zahnarzt beschrieb das mit: „dass sie bezüglich Selen gut testete“.  

Aus diesem Grunde verordnete er die Reinsubstanz auf einem Rezept (siehe oben), das von der Apotheke auch ohne weitere Nachfrage geliefert wurde.

Monografie: Natriumselenit

Laut Monografie des BfArm, veröffentlicht im Bundesanzeiger Nr. 143 vom 4. 8. 1992, werden für Natriumselenit folgende

Anwendungsgebiete

genannt: „Nachgewiesener Selenmangel, der ernährungsmäßig nicht behoben werden kann. Ein Selenmangel kann auftreten bei Maldigestion- und Malabsorptionszuständen, Fehl- und Mangelernährung.“  

Die

Dosierung

ist vorgegeben mit oral oder parenteral 100 Mikrogramm Selen pro Tag, kurzfristig bis 300 Mikrogramm Selen pro Tag, das entspricht 0,999 Milligramm Natriumselenit.

Massiv überdosiert

Der Kollege hatte demnach der Patientin ein Rezept über 25 000 Tageshöchstdosen ausgehändigt, ausreichend für mindestens 68 Jahre, wenn die in der Monografie vorgegebenen Mengen Anwendung gefunden hätten.  

Eine mündliche Anweisung an die Patienten bezüglich der Dosierung des Medikaments wurde von dieser nicht verstanden beziehungsweise nicht behalten. Das Rezept enthielt keinerlei Anwendungsvorschriften, so dass sie der Apotheker hätte auf die Packung übertragen können.  

Aus dieser Unsicherheit heraus wandte sich die Patientin mehrfach telefonisch und schließlich auch persönlich an die Praxis, um Auskunft über die Modalitäten der Einnahme zu erhalten. Der Zahnarzt war entweder nicht anwesend oder nicht zu sprechen. Sie nahm daher das Medikament vorerst nicht ein. 

Bei einem weiteren Kontrolltermin, der jedoch Monate nach der Rezeptierung erfolgte, gab der Zahnarzt folgende schriftliche Anweisung: „zwei Teelöffel morgens, zwei Teelöffel abends mit Volvic oder Evian Wasser“. 

Der Patientin erschien diese Menge – zwei Teelöffel – als sehr viel, und so nahm sie aus eigener Entscheidung nur einen Teelöffel in einem der Wässer ein.

Notfallsymptome

Innerhalb von 30 Minuten setzte heftige Übelkeit ein, nach weiteren zehn Minuten Erbrechen und danach heftiger Durchfall. Bei einem Anruf in der Giftzentrale in Göttingen durch den anwesenden Freund wurde der Rat erteilt, wegen möglicher Herzstörungen sofort ein Krankenhaus aufzusuchen, was auch sofort erfolgte.

Hier konnten durch intensivmedizinische Maßnahmen weitere toxische Komplikationen vermieden werden. Die von der Patientin eingenommene Menge von einem gestrichenem Teelöffel entspricht bei Salzen etwa drei bis fünf Gramm. Bei einem angenommenen Gewicht von drei Gramm pro Teelöffel und einer angenommenen Tageshöchstdosis von einem Milligramm Natriumselenit entspricht das etwa 3000 Tageshöchstdosen.  

Eine LD 50 (Letaldosis) gibt es für den Menschen verständlicherweise nicht, im Tierversuch liegt die LD 50 bei 1,5 bis sechs Milligramm Selen pro Kilogramm Körpergewicht. In der Literatur gibt es Vermutungen über die bei Menschen tödliche Dosis, die von 0,12 bis ein Gramm reichen.  

Am 14.10.2000 ist in Österreich eine Patientin nach Injektion einer Selenlösung durch einen naturheilkundlich tätigen Arzt gestorben. Es soll eine Dosis von etwa 200 Milligramm Selen injiziert worden sein. Das strafrechtliche Verfahren ist noch nicht abgeschlossen.  

Im Nachhinein ist im Hamburger Fall festzustellen, dass es durch eine Aneinanderreihung glücklicher Umstände – die Patientin nahm nur einen Teelöffel, eine Begleitperson war gerade anwesend, um den Notanruf bei der Giftzentrale und im Krankenhaus vorzunehmen – glücklicherweise nicht zu weiteren lebensbedrohlichen Folgen gekommen ist.

Verordnungen durch den Zahnarzt

Grundsätzlich ist darauf hinzuweisen, dass der Zahnarzt bei einer „freien Rezeptur“, das heißt der Verordnung eines nicht für bestimmte Indikationen zugelassenen Fertigarzneimittels, das in diesem Fall sogar verfügbar gewesen wäre, weitreichende Pflichten und Verantwortlichkeiten hat.  

Die Informationen, die auf dem Beipackzettel eines Fertigarzneimittels vorhanden sind – Indikation, Dosierung, Risiken und Nebenwirkungen – müssen dem Patienten deutlich, unmissverständlich und risikoadäquat vermittelt werden. Zubereitungen sollten durch den Apotheker erfolgen. Eine Signatur über die Dosierung auf dem Rezept ist auf jeden Fall immer sinnvoll, der Sachverstand des Apothekers wird dadurch mit einbezogen.  

Der verordnende Zahnarzt haftet bei einer freien Rezeptur für alle möglichen negativen Folgen persönlich, während bei einem Fertigarzneimittel der Hersteller nach dem Arzneimittelgesetz haftet solange es sich um eine Verordnung innerhalb der zugelassenen Indikation handelt.

Folgen für den Zahnarzt

In diesem geschilderten Fall leitete die zuständige Kammer ein berufsgerichtliches Verfahren wegen Verstoßes gegen die Berufsordnung ein.

Das Gericht stellte während des Verfahrens fest, dass in diesem Fall berufsrechtliche Pflichten schwerwiegend verletzt wurden. Die Rezeptur und die schriftliche Anweisung führten bei der Patientin zu einer schweren Körperverletzung. Eine ordnungsgemäße Dokumentation über Rezeptur und Dosierung war nicht vorhanden, sodass bei Anfrage der Patientin in der Gemeinschaftspraxis keine Auskunft über Zubereitung und Dosierung gegeben werden konnte.

Der Zahnarzt wurde vom Berufsgericht mit einem Verweis und einer Geldstrafe von 30 000 DM belegt.

Strafmildernd wurde vom Gericht berücksichtigt, dass der Zahnarzt den Sachverhalt nicht bestritt, seine fehlerhafte Behandlung einräumte und Bedauern für die Folgen seiner Behandlung zeigte, sodass ein eventueller Entzug der Approbation nicht in Frage kam. 

Das Urteil ist rechtskräftig. Auf zivilrechtlichem Weg erfolgte ein Vergleich mit Zahlung einer Geldsumme an die Patientin durch die Haftpflichtversicherung des Zahnarztes.  

Dr. Helmut Pfeffer

Arzneimittelkommission Zahnärzte

Weidenbaumweg 6

21029 Hamburg

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