EuGH-Urteil zur Bereitschaftszeit bei Ärzten

Schluss mit den Marathon-Schichten

Ein Rauschen strich durch den Blätterwald, und der Marburger Bund sprach von einem „historischen Sieg“. Grund: Der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg hat in seinem Urteil vom 9. September 2003 entschieden, dass die Bereitschaftszeit von Klinikärzten künftig als Arbeitszeit anerkannt werden muss. Das hat nicht nur Konsequenzen für das deutsche Gesundheitswesen, sondern wird langfristig auch andere Bereiche treffen.

„Endlich sind die mörderischen Bereitschaftsdienste abgeschafft“, freute sich der Vorsitzende des Krankenhausärzteverbandes Marburger Bund (mb), Dr. Frank Ulrich Montgomery. Von einem „Ende der Ausbeutung“ sprach der Präsident der Bundesärztekammer, Prof. Dr. Jörg-Dietrich Hoppe. 30-Stunden-Dauerdienste gehörten endgültig der Vergangenheit an.

Nach dem EuGH-Urteil (Aktenzeichen: C-151/02) ist der Bereitschaftsdienst von Ärzten in Krankenhäusern vollständig als Arbeitszeit anzuerkennen. Das gelte auch, wenn während der Bereitschaft die Möglichkeit zum Schlafen gegeben sei. Entscheidend sei, dass sich der Arbeitnehmer an einem vom Arbeitgeber bestimmten Ort zur Verfügung halten müsse. Damit könne er weniger frei über die Zeit verfügen, in der er nicht in Anspruch genommen werde. Er bleibe außerhalb seines familiären und sozialen Umfeldes. Die Möglichkeit, die arbeitsfreie Zeit während der Bereitschaft in einem Ruheraum zu verbringen und dort sogar zu schlafen, ändere daran nichts. Das Urteil gilt zunächst nur für Beschäftigte mit öffentlich-rechtlichen Arbeitsverträgen, weil europäische Richtlinien bei Verträgen zwischen Privatpersonen nicht unmittelbar greifen.

Den Stein ins Rollen gebracht hatte der Kieler Arzt Dr. Norbert Jaeger mit einer entsprechenden Klage vor dem Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein. Das Gericht hatte seine Klage nach Luxemburg weitergeleitet. Das jetzige Urteil kam nicht ganz überraschend, denn der EuGH hatte bereits im Oktober 2000 in einem spanischen Verfahren ähnlich entschieden.

Der Spruch der EU-Richter hat Auswirkungen auf das deutsche Recht, denn mit Hinweis auf eine EU-Richtlinie verwarfen die Richter das deutsche Gesetz, wonach nur die tatsächlich während des Bereitschaftsdienstes geleistete Arbeit durch Geld oder Freizeitausgleich vergütet wird. Erst im Februar hatte das Bundesarbeitsgericht ein Urteil gefällt und Bereitschaftsdienste als Arbeitszeit anerkannt (siehe zm 6/2003, Seite 26), wohl aber hatte man dort auf die Diskrepanz zwischen deutschem und europäischem Recht hingewiesen.

Regierung unter Zugzwang

Jetzt ist die Bundesregierung unter Zugzwang geraten. Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) kündigte an, das EuGH-Urteil schnellstmöglich umzusetzen, damit in den Kliniken Rechtssicherheit einkehre. Er erklärte, er wolle die erforderlichen Änderungen in den bereits vorliegenden Gesetzesentwurf zur Arbeitsmarktreform einbauen.

Gesundheitsministerin Ulla Schmidt und CSU-Sozialexperte Horst Seehofer verwiesen auf bereits vereinbarte Verbesserungen. Schmidt warf ein, dass den Kliniken für Arbeitszeitmodelle in den Jahren 2003 und 2004 zusätzlich bis zu 200 Millionen Euro zur Verfügung stünden. Bis 2009 würden sie um jährlich weitere 100 Millionen aufgestockt. Zusätzlich müssten die Kliniken laut Seehofer dieselbe Summe aufbringen. Eine Reihe von Kliniken habe die Arbeitszeit bereits reformiert. Auch Schmidt verwies darauf, dass 40 Prozent der deutschen Krankenhäuser die Umstellung bereits geschafft hätten. Sie setze darauf, dass die übrigen 60 Prozent dies auch schafften. Es müssten Modelle für Schichtarbeit von Ärzten entwickelt werden, die sich nicht nur nach der Arbeitszeit von Chefärzten richteten, erklärte sie.

Auch die Krankenkassen meldeten sich zu Wort. Wenn die Kliniken ihre Arbeitsabläufe wirtschaftlich organisierten, müsse das Urteil nicht zu Mehrkosten führen, meinte VdAK-Chef Herbert Rebscher. Dann seien auch keine Beitragserhöhungen notwendig. Auch die Spitzenverbände der Krankenkassen sind der Auffassung, dass das Urteil nicht automatisch zu Mehrausgaben führen müsse. Durch Neuorganisation, Abbau von Überkapazitäten und bereits zugesagte Mittel könnten die Vorgaben kostenneutral umgesetzt werden.

Reiner Blödsinn

„Reiner Blödsinn“, findet mb-Chef Montgomery. Nach Berechnungen seines Verbandes müssten rund 15 000 zusätzliche Ärzte in den Krankenhäusern eingestellt werden. Hierzu müsste das Klinikbudget um rund eine Milliarde Euro erhöht werden. Die Deutsche Krankenhaus-Gesellschaft (DKG) rechnet gar mit 27 000 notwendigen Neueinstellungen.

Die Zentralstelle für Arbeitsvermittlung (ZAV) wies auf die angespannte inländische Arbeitsmarktsituation hin und schlug vor, auf das Potential des EU-Arbeitsmarktes zurückzugreifen. In Österreich und Spanien gebe es einen Ärzteüberschuss.

Ob so viele neue Stellen geschaffen werden müssten, Deutsche Gewerkschaftsbund warntevor eistellte der Hartmannbund in Frage. „Es ist unstrittig, dass Ärzte, die 24 Stunden, 36 Stunden und länger arbeiten müssen, sicherlich übermüdet und damit überfordert sind“, sagte Verbandssprecher Peter Orthen-Rahner. Er verwies aber auch darauf, dass viele Ärzte die durch die Bereitschaftszeit zusätzliche Vergütung fest in ihrem Budget eingeplant hätten.

Der Deutsche Gewerkschaftsbund warnte vor einer unzureichenden Umsetzung des Urteils. Die Bundesregierung dürfe sich nicht darauf beschränken, eine Minimalregelung zu treffen, die nur für Kliniken gelte, erklärte die stellvertretende DGB-Vorsitzende Ursula Engelen-Kefer. Bereitschaftsdienste stünden woanders auf der Tagesordnung.

Auch darüber hatten sich schon andere detaillierte Gedanken gemacht. Nach Einschätzungen des Arbeitsministeriums und der Gewerkschaft ver.di dürfte der Spruch der EU-Richter Einfluss auf weitere Bereiche nehmen. Dazu gehören Feuerwehren, das Rettungswesen oder Wachdienste.

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