Die andere Meinung

Solidarität braucht Eigenverantwortung

Karl Kardinal Lehmann Die Reform des Gesundheitssystems, die nun hoffentlich auf den Weg gebracht wird, reiht sich ein in eine ganze Abfolge von Reformen, die Gesundheitsminister unterschiedlicher Parteien angegangen sind. Ich brauche kein Prophet zu sein, um sagen zu können, dass dies auch nicht die letzte Reform sein wird. Ein komplexes System, das einen so elementaren Bereich menschlichen Lebens wie die Gesundheit betrifft, wird man nicht in einem großen Wurf reformieren können, soll diese Reform nicht übergroße Ungerechtigkeiten und Unsicherheiten produzieren.

Um so wichtiger ist es, das Wissen um den Reformbedarf mit echtem Reformwillen und Reformbereitschaft zu verbinden. Das bedeutet auch – und das ist für viele schmerzhaft –, ein Denken in Kategorien bloßer Besitzstandwahrung aufzugeben. Zudem brauchen die Reformen eine klare Ausrichtung. So wenig die „Reform auf einen Schlag“ möglich sein wird, so wenig führen kurzfristige Maßnahmen zur Bekämpfung einzelner Symptome allein weiter.

Vor wenigen Tagen hat die Deutsche Bischofskonferenz unter dem Titel „Solidarität braucht Eigenverantwortung“ Orientierungen für ein zukunftsfähiges Gesundheitssystem vorgelegt. Wir haben versucht, auf der Basis ethischer Kriterien die Richtung der Reformen deutlich zu machen, ohne dass es dabei unsere Aufgabe als Kirche sein könnte, einzelne konkrete Maßnahmen vorzuschlagen.

Wir gehen davon aus, dass wir im Zuge dieser Reformen nicht umhin kommen, eine Grundfrage unserer sozialen Sicherung neu zu stellen: Welches Maß an Gesundheitsleistungen kann und muss durch die Solidarität aller getragen werden und welches Maß an Gesundheitsförderung können und müssen die Menschen selbst tragen? Die soziale Sicherung dient dazu, dass die Gemeinschaft solche Risiken trägt, die vom Einzelnen nicht getragen werden können. Die Solidarität aller tritt dann ein, wenn der Einzelne überfordert ist. Ein jeder hat sich dann an dieser Solidarität im Rahmen seiner Möglichkeiten zu beteiligen. Niemand darf jedoch diese Solidarität über das notwendige Maß hinaus in Anspruch nehmen. Nun werden hier moralische Appelle allein nicht ausreichen. Es muss darum gehen, das Gesundheitssystem so zu verändern, dass die Anreize zum Wohl aller richtig gesetzt werden.

Nehmen wir die Prinzipien der Solidarität, der Subsidiarität oder Fragen der Gerechtigkeit ernst, dann wird bei der Ausgestaltung unseres Sozialstaates – der bisher wesentlich unter dem Gesichtspunkt der Verteilung finanzieller Ressourcen gesehen wird –, ein stärkeres Gewicht auf die Eigenverantwortung zu legen sein. Schon 1991 hat Papst Johannes Paul II. in der Enzyklika „Centesimus annus“ in Richtung eines überdehnten Wohlfahrtsstaates festgestellt: „Der Wohlfahrtsstaat, der direkt eingreift und die Gesellschaft ihrer Verantwortung beraubt, löst den Verlust an menschlicher Energie und das Aufblähen der Staatsapparate aus, die mehr von bürokratischer Logik als von dem Bemühen beherrscht werden, den Empfängern zu dienen.“ In diesem Sinn ist die Soziale Marktwirtschaft im Lauf der Jahrzehnte in unserem Land vielfach überlagert worden durch gewisse Entwicklungen, die ihre elementaren Grundprinzipien auszuhöhlen drohten: Eigeninitiative, Selbstverantwortung, Leistungsbereitschaft und Mut zum Wettbewerb.

Was so grundsätzlich von der Sozialen Marktwirtschaft gesagt werden kann, gilt auch für das Gesundheitssystem: Den Menschen muss wieder mehr Eigenverantwortung zugemutet, aber auch zugetraut werden. Dies gilt für die Notwendigkeit von Prävention, für die Art der Mitwirkung und Mitbestimmung an der Leistungserbringung oder auch für den Zuschnitt des durch die Krankenkassen bezahlten Leistungsspektrums. Angesichts knapper werdender Ressourcen und insbesondere neuer, durch die medizinische Entwicklung ermöglichter, kostenintensiver Leistungen, stellt sich auch die Frage nach der Definition des Leistungsumfangs der Gesetzlichen Krankenversicherung. Grundrisiken, wie beispielsweise lebensbedrohliche, chronische oder finanziell nicht zu bewältigende Risiken, müssen weiter abgesichert werden – nicht aber unbedingt die vielen kleinen Erkrankungen.

Es geht uns sicher nicht um ein Auflösen der Solidarität, sondern im Gegenteil: Wenn wir wollen, dass die Solidarität aller da weiter einspringen kann, wo sie nötig ist, müssen wir das Gesundheitssystem so reformieren, dass sie da nicht einspringen muss, wo sie nicht nötig ist.

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