Aktionsforum Telematik im Gesundheitswesen

Patient à la carte

Eine Konsensplattform sollte es sein, ein Forum für die gemeinsame Erarbeitung einer flächendeckenden Telematik-Infrastruktur im deutschen Gesundheitswesen. Aber von Harmonie ist zurzeit nicht viel zu merken beim Aktionsforum Telematik im Gesundheitswesen (ATG). Gemeinsam mit dem Apothekerverband ABDA fährt das Bundesgesundheitsministerium seinen eigenen Kurs – und marschiert gegen den Willen der übrigen Selbstverwaltung mit großen Schritten in Richtung „gläserner Patient“ . Knackpunkt ist die Diskussion um die Elektronische Gesundheitskarte. Die sorgte nämlich dafür, dass es im vergangenen Jahr wild zuging – hier ein Rück- und Ausblick.

Die Stimmung ist angespannt in diesen Tagen. Das Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (BMGS) versucht, Druck auszuüben, um so schnell wie möglich die rot-grünen Koalitionsvereinbarungen zum Thema „Telematik im Gesundheitswesen“ in die Praxis umzusetzen. Ohne sich an lästige Absprachen zu halten werden Facharbeitsgruppen gegründet, Sitzungen anberaumt und Einladungen verschickt. Das ATG wird erst gefragt, wenn Termine und Aufgabenstellungen schon feststehen. Die Reaktion darauf leuchtet ein: Die Vertreter der Selbstverwaltungen überlegen, die Vorstöße des Ministeriums zu boykottieren.

Nein, unproblematisch war die Kommunikation zwischen dem BMGS und dem Aktionsforum noch nie. So wurde die Selbstverwaltung zu spät in Planungen des Ministeriums einbezogen, interne Konzeptpapiere wurden unabgestimmt vom BMGS präsentiert – und die Vertreter der Zahnärzteschaft wurden beizeiten bewusst außen vor gelassen.

Mit seinem „Eckpunktepapier Elektronische Gesundheitskarte“ hatte das Bundesgesundheitsministerium im April vergangenen Jahres die Konsensplattform dann endgültig verlassen. Ausschlaggebend für den Vorstoß war wohl der Lipobay-Skandal, ein Thema, das sich hervorragend eignete, um Politik zu machen, die ganz klar auf einen schnellen Effekt beim Wähler zielte – Stichwort „Arzneimittelnebenwirkungen“.

Die Elektronische Gesundheitskarte sollte demnach als eine Krankenversichertenkarte der zweiten Generation gestaltet werden. Neben den zur Abrechnung benötigten Versichertendaten sollten hierauf Informationen gespeichert werden wie Arzneimitteldokumentationen, Notfall- und Gesundheitsinformationen sowie Medikationen und Überweisungen (siehe Kasten „Elektronische Gesundheitskarte“). Sie sollte flächendeckend ausgegeben werden, ihre Nutzung sollte dabei für den Patienten allerdings freiwillig sein.

In der kommenden Legislaturperiode will das BMGS für eine schrittweise Einführung der Gesundheitskarte sorgen. Zunächst sind allerdings „Modellversuche“ und „Erprobungsphasen“ vorgesehen, wobei das Ministerium sich hierbei an bereits laufende Projekte anhängen will.

Strukturdaten gewinnen

„Zum Wohle des Patienten“ sei die Elektronische Gesundheitskarte konzipiert worden, so Dr. Stefan Bales, Vertreter des Bundesgesundheitsministeriums im Aktionsforum. Sie sollte der Überprüfung von Arzneimittelwechselwirkungen dienen und als „Qualitätssicherungsinstrument“ von Arzt und Zahnarzt eingesetzt werden. Außerdem, so Bales, könne sie als „Instrument zur Gewinnung von Strukturdaten“ fungieren, welche anonymisiert zur Auswertung an eine zentrale Stelle weitergeleitet werden könnten. Was das Ministerium allerdings nicht näher ausgeführt und spezifiziert hatte, war, um welche Daten es sich hierbei handeln würde – und zu welchem Zweck sie gesammelt werden sollen.

Aus Sicht der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV) erschienen die Überlegungen des Bundesgesundheitsministeriums zur Elektronischen Gesundheitskarte als „noch sehr schwammig“. Ungeklärt waren sowohl konzeptionelle Fragen als auch solche, die sich auf Finanzierung, Umsetzung und Einsatz der Karte beziehen.

Zum Beispiel das Thema „Zustimmung durch den Patienten“: Das Konzept des BMGS sah vor, dass ein Patient nicht nur ein grundsätzliches Einverständnis zur Nutzung der Gesundheitskarte abgibt, sondern auch einzelne Vorgänge autorisieren – oder eben ablehnen – kann. Gerade bei einem Punkt wie „Medikamentendokumentation“, so die KZBV, könnten auf diese Weise natürlich Lücken entstehen, welche die Prüfung von Wechselwirkungen unzuverlässig und damit unbrauchbar machen.

Bereits im März 2002 hatte Dr. Günther E. Buchholz, KZBV-Vorstandsmitglied, bei einem eHealth-Kongress in Bonn die Position der deutsche Zahnärzte vertreten. „Die Schaffung einer einheitlichen Kommunikationsplattform sollte sich“, so seine Sicht, „zunächst auf die Errichtung einer Infrastruktur für die elektronische Kommunikation aller im Gesundheitswesen Beteiligten beschränken.“ Gemeinsame Standards würden ebenso benötigt wie die Koordination einzelner, auf Länderebene vorhandener Projekte durch das ATG.

„Telematik darf“, so Buchholz, „nicht Selbstzweck sein, sondern sie muss Werkzeug bleiben.“ Datentransparenz müsse aus Sicht der Zahnärzteschaft „immer und unbedingt einhergehen mit Datenschutz und Datensicherheit“. Sammlungen personenbezogener Gesundheitsdaten oder zentrale Datenpools seien „sehr kritisch zu beobachten“. Auch wurde von ihm die Gefahr gesehen, „dass die gemeinsamen Anstrengungen der Selbstverwaltungsorganisationen zur Errichtung einer Telematik-Plattform missbraucht werden können, um umfassende Sammlungen von Behandlungs- und Verordnungsdaten aller GKV-Versicherten unabhängig von ihrer Kassenzugehörigkeit aufzubauen“. Es müsse immer kritisch hinterfragt werden, ob und zu welchem Zweck Daten erhoben werden müssen.

Gemeinsame Erklärung

Das Frühjahr 2002 blieb spannend. Im Mai einigten sich Bundesministerium und Spitzenorganisationen auf eine gemeinsame Erklärung zum Einsatz von Telematik im Gesundheitswesen. Dieses Konsenspapier stellte zunächst einmal fest, welche gemeinsamen Zielsetzungen die Beteiligten verfolgen: von einer Verbesserung der medizinischen Versorgung – unter anderem der Arzneimmittelsicherheit – und patientenorientierter Dienstleistungen über eine Stärkung der Eigenverantwortung und Mitwirkungsbereitschaft der Patienten bis hin zur Steigerung der Wirtschaftlichkeit und Leistungstransparenz im Gesundheitswesen sowie der Optimierung von Arbeitsprozessen.

In einem „Kooperationsverbund“ sollte eine neue und einheitliche Telematik-Infrastruktur entwickelt werden, die die elektronische Kommunikation verbessert oder einführt. Konkret wurden hier das elektronische Rezept („eRezept“) und der elektronische Arztbrief („eArztbrief“) genannt. Eine zur Gesundheitskarte ausgebaute Krankenversichertenkarte sollte außerdem als „Werkzeug für den datengeschützten Zugriff auf personenbezogene Gesundheitsdaten“ dienen. Auf ihr sollten der europäische Notfalldatensatz des Patienten, seine persönliche Identifikation sowie Verweise auf Arzneimitteldokumentation und Zuzahlungsmanagement enthalten sein.

Vom Bundesgesundheitsministerium wurde besonders begrüßt, dass die Selbstverwaltung plane, eine Telematik-Plattform für das Gesundheitswesen in Deutschland aufzubauen und die „modellhafte Erprobung einer weiterentwickelten Krankenversichertenkarte als Gesundheitskarte“ mittragen wolle. Hiermit würden die „Beschlüsse von Barcelona“ (siehe Kasten) ebenso aufgegriffen wie die Vorarbeiten des Aktionsforums.

Konsens wurde in der gemeinsamen Erklärung großgeschrieben: Eine enge Zusammenarbeit zwischen Bundesministerium und Spitzenverbänden wurde ebenso angekündigt wie eine Einigung bei Themen wie Kosten, Nutzen und Akzeptanz der unterschiedlichen technischen Lösungsansätze. „Modellversuche“, so ein Schlüsselsatz des Papiers, „dürfen nur unter strenger Beachtung des Datenschutzes und des Selbstbestimmungsrechtes der Patienten durchgeführt werden.“

Wenn die Krankenversichertenkarte zu einer Gesundheitskarte ausgebaut werde, das war einhellige Meinung, müsse die Speicherung und Verarbeitung der jeweiligen Daten ein freiwilliges Angebot für die Versicherten sein. Die Datenhoheit der Patienten müsse bewahrt werden, ebenso ihre Entscheidung, welche Gesundheitsinformationen aufgenommen werden und welche zu löschen sind. Auch müssten die Patienten darüber entscheiden können, ob sie ihrem behandelnden Arzt oder Zahnarzt bestimmte Daten auf ihrer Gesundheitskarte zugänglich machen wollen oder nicht. Zentral gespeicherte Datensammlungen wurden eindeutig abgelehnt.

Als „Einstieg in die elektronische Patientenakte“ sah das Konsenspapier vor, das „eRezept“, den „eArztbrief“ und die Arzneimitteldokumentation einzuführen. Hierfür sollte eine Infrastruktur gefunden werden, die in Sachen Information und Kommunika tion ebenso ausreichend ist wie in Bezug auf die Sicherheit. Die Abstimmung mit dem Bundesdatenschutzbeauftragten wurde hierbei als ebenso wichtig angeführt wie der Dialog mit den Patienten. Auf Wunsch der KZBV fügten die Beteiligten ihrer gemeinsamen Erklärung außerdem noch hinzu, „dass sie aufgrund des erwarteten gemeinsamen Nutzens die weiteren Fragen der Ausgestaltung, Funktionalisierung, Standardisierung und Finanzierung gemeinsam lösen wollen und zu diesem Zwecke eine Steuerungsgruppe einrichten“.

Erhebliche Unterschiede

Für den Vorsitzenden des Aktionsforums Telematik im Gesundheitswesen, Dr. Manfred Zipperer, war allerdings auch nach dieser gemeinsamen Erklärung klar: „Bei aller Deckungsgleichheit der Zielsetzung bestehen zwischen dem Aktionsforum und dem Bundesgesundheitsministerium erhebliche Unterschiede in Prioritäten und Umsetzungsstrategien.“ Ganz deutlich werde das daran sichtbar, dass das ATG-Konzept nicht auf eine Gesundheitskarte angewiesen sei, auch wenn im „eRezept“ eine entsprechende Schnittstelle enthalten ist.

In seiner ersten Stufe sei zunächst eine elektronische Dokumentation und Kommunikation innerhalb der Ärzteschaft und mit den anderen „Professionals im Gesundheitswesen“ vorgesehen. Die Einbeziehung der Patienten in diese elektronische Kommunikation und ihre Ausstattung mit beispielsweise einer Gesundheitskarte solle erst Bestandteil einer weiteren Stufe sein.

Dieses Konzept, so Zipperer, würde im Prinzip auch von der Apothekerschaft mitgetragen – allerdings würde diese darauf bestehen, kurzfristig eine „patientenbezogene Arzneimitteldokumentation“ zu verwirklichen, die als Teil des „eRezepts“ auf einer neuen Krankenversichertenkarte „in Form einer Prozessor-Chip-Karte“ zu realisieren sei. Aus Sicht der KZBV – wie auch der übrigen Teilnehmer im Aktionsforum – soll das „eRezept“ anfangs aus einem Barcode bestehen, welcher auf das Rezeptformular aufgedruckt wird. In einem weiteren Schritt ist eine elektronische Speicherung vorgesehen. Um den Barcode ausstellen und auch wieder lesen zu können, wird der elektronische Heilberufeausweis, die „Health Professional Card“, benötigt.

Wie diese Karte letztlich aussehen wird, wird zurzeit abschließend spezifiziert – aufbauend auf den Erfahrungen aus entsprechenden Versuchsprojekten in mehreren Bundesländern, die gemeinsam von der Ärzte- und Apothekerschaft getragen werden. Die Sächsische Landesärztekammer hat im Rahmen ihres Modellprogramms SaxTeleMed zum Beispiel rund 500 elektronische Arztausweise an in Krankenhäusern arbeitende Mediziner ausgegeben.

Zurück zur Gesundheitskarte: Der Vorstoß des Bundesgesundheitsministeriums war auch nach der gemeinsamen Erklärung vom Mai nicht vergessen. Im Juni 2002 äußerten sich die Verbände der im Gesundheitswesen tätigen Unternehmen der Informations- und Kommunikationstechnologie zum Thema erwartungsgemäß positiv. „Die Industrie ist bereit und in der Lage“, so der Wortlaut ihrer gemeinsamen Erklärung, „im Rahmen eines professionellen Projektmanagements für das Prozessdesign und die Interoperabilität zwischen den unterschiedlichen Informations- und Kommunikationssystemen im Gesundheitswesen zu sorgen.“ Das ginge natürlich nur, so die Verbände weiter, „wenn Politik und Standesvertretung die erforderlichen finanziellen Mittel bereitstellen“.

Es folgten Sommerpause, Wahlkampfgetöse – und schließlich die rot-grünen Koalitionsvereinbarungen zur Gesundheitspolitik. Mitte Oktober bestätigte die neue, alte Regierung das, was sie schon im Frühjahr über das Bundesgesundheitsministerium angekündigt hatte. Unter der Überschrift „Patientensouveränität stärken – Transparenz erhöhen“ wurde beschrieben, wie der Ausbau von „Patientenschutz und Patientenrechten“ vonstatten gehen soll: „Zur Erhöhung der Transparenz und der Sicherung von Wirtschaftlichkeit und Effizienz im System führen wir auf freiwilliger Basis eine Gesundheitskarte ein, die vor unnötigen Doppeluntersuchungen schützt, die unerwünschte Arzneimittelnebenwirkungen schneller erkennen lässt, die Datensicherheit stärkt und die Notfalldaten für Patientinnen und Patienten enthält und über erforderliche Vorsorgeuntersuchungen informiert.“ Im gleichen Atemzug wurde dann auch noch die Einführung der „Patientenquittung“ angekündigt, „mit der die Behandlungen nachvollzogen werden können“.

Spätestens Anfang November wurde klar, dass das Bundesgesundheitsministerium in Sachen Telematik einen anderen Kurs fährt als das ATG. Dieses war davon ausgegangenen, dass wie bei früheren Projekten die Zuständigkeit für Gestaltung und Umsetzung der Telematik-Plattform auf Seiten der Selbstverwaltung liege und das Ministerium für die gesetzlichen Rahmenbedingungen zuständig ist. Doch das hinderte das Bundesgesundheitsministerium nicht daran, weiterhin an der Selbstverwaltung vorbei aktiv zu werden. So wurde dort geplant, eigene Arbeitsgruppen zu drei zentralen Themen der Telematik-Plattform einzurichten: „Telematikrahmenarchitektur und -infrastruktur“, „Konzepte und Szenarien für prioritäre Anwendungen“ und „Rechtliche und ökonomische Rahmenbedingungen“.

Für die KZBV und das ATG war klar, dass der geplanten Einrichtung dieser Arbeitsgruppen durch das Bundesgesundheitsministerium entgegengewirkt werden muss – nicht zuletzt, um Doppelstrukturen beim Aufbau der Telematik-Plattform zu vermeiden. Durch die Vorstöße des Ministeriums würden zudem die Zuständigkeiten des ATG unterlaufen und die im Konsens der Selbstverwaltungen erarbeiteten Grundlagen zur Telematik im Gesundheitswesen gefährdet. Eine Ansicht, die alle Beteiligten des Aktionsforums teilen – mit Ausnahme der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA). Denn diese befürwortet das Vorgehen des Bundesgesundheitsministeriums.

Ende November kam es zum Bruch zwischen der ABDA und den übrigen ATG-Teilnehmern. „In großer Sorge um die Grundlagen der weiteren Zusammenarbeit beim Aufbau und Ausbau einer Telematik-Plattform für das deutsche Gesundheitswesen“ schrieb das Aktionsforum an Ulla Schmidt – unterzeichnet hatten alle Teilnehmer mit Ausnahme der ABDA. „Besondere Irritation verursacht die Tatsache, dass das ATG offensichtlich von Ihrem Haus nicht als organisatorischer Kern für die Weiterentwicklung der Telematik im Gesundheitswesen genutzt werden soll.“ Dieser „drohenden Fehlentwicklung“ würde das Aktionsforum entschlossen entgegentreten.

Keine Teilnahme

Was das genau bedeutet, sollte das Bundesgesundheitsministerium noch vor dem Weihnachtsfest merken: An den ersten Sitzungen der vom BMGS eingerichteten Arbeitsgruppen nahmen die Vertreter des Aktionsforums nicht teil. Womit sich auch der Wunsch des Ministeriums erledigt haben könnte, „zügig die Vorbereitungen zur Umsetzung der Koalitionsvereinbarung als Basis der Arbeit der Bundesregierung in die Wege zu leiten“.

Nach Redaktionsschluss trafen sich die Vertreter des Aktionsforums Telematik im Gesundheitswesen beim „ATG-Forum“. Aktuelle Informationen hierzu finden Sie auf den letzten Nachrichtenseiten am Ende des Heftes.

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