Aktueller Stand der Forschung – Consensus der Wissenschaft

Parodontitis und allgemeiner Gesundheitszustand

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Es ist heute allgemein anerkannt, dass orale Gesundheit nicht isoliert gesehen werden kann und darf: Der orale Befund hat mittelbare und unmittelbare Auswirkungen auf den Organismus und damit auf das gesamte gesundheitliche Befinden.

Die Deutsche Gesellschaft für Parodontologie (DGP) fordert deshalb bereits seit Jahren eine intensivere Auseinandersetzung mit der Problematik in der breiten Öffentlichkeit, und als ein Ergebnis dieser Bemühungen kann man auch die Aufnahme des PSI (Parodontaler Screening Index) in den BEMA ansehen. Es ist nach den vorliegenden Erkenntnissen zwingend, Parodontontalerkrankungen sehr ernst zu nehmen, wobei der internationalen Zusammenarbeit, schon aus ökonomischen Gründen, zunehmend mehr Bedeutung einzuräumen sein wird.

Die Wissenschaft ist sich einig, dass Erkrankungen des Zahnhalteapparats zu den am weitesten verbreiteten Krankheiten überhaupt zählen. Etwa 70 bis 75 Prozent der Weltbevölkerung leiden an Parodontalerkrankungen, wobei weltweit etwa zehn bis 15 Prozent der Menschen besonders schwere Formen einer Parodontopathie zeigen. Praktisch ausschließlich sind diese oralen Erkrankungen auf Auswirkungen von Biofilmen an den Zahnoberflächen zurückzuführen, und nur eine effektive Kontrolle des Biofilms kann eine Parodontopathie entzündlicher Genese vermeiden beziehungsweise zum Stillstand bringen.

Es ist gar nicht so lange her, dass man signifikante Zusammenhänge zwischen oralen und systemischen Krankheitsbefunden aufgedeckt hat; umso beunruhigender sind die möglichen Folgen einer unbehandelten Parodontitis: Diabetes, cardiale Erkrankungen, ein massiv erhöhtes Risiko für Frühgeburten, Osteoporose oder auch Atemwegserkrankungen. Orale Gesundheit hat also gravierende Auswirkungen auf den Gesamtzustand – aber, auch umgekehrt haben systemische Erkrankungen nachweisbaren Einfluss auf die orale Gesundheit. So sind mehr als 400 pharmazeutisch wirksame Substanzen bekannt, die beispielsweise über eine Beeinträchtigung der Salivation orale Krankheitsbilder triggern können. In einer immer stärker alternden Gesellschaft, in der mit zunehmendem Alter die Individuen auch immer intensiver medikamentös betreut werden, sollte diesen Zusammenhängen größte Aufmerksamkeit geschenkt werden.

Mundhöhle und Allgemeinzustand

In einer Studie in den USA aus dem Jahr 2000 stellten die Allgemeinärzte fest, „die Mundhöhle ist das Zentrum vitaler Gewebe und Funktionen, die bedeutsam für die Allgemeingesundheit und das Wohlbefinden über die gesamte Lebensspanne sind“ [Oral Health in America 2000]. Weiter wurde postuliert, dass „…die Mundhöhle ein Spiegel von Gesundheit oder Krankheit ist, ein Frühwarnsystem, das ein zugängliches Modell für die Untersuchung auch anderer Gewebe und Organe stellt und eine potente Quelle pathologischer Einflüsse auf andere Systeme oder Organe ist.“

Hier wird eine umfassende Zusammenarbeit zwischen nationalen Regierungen, der WHO sowie anderen nicht staatlichen Organisationen sowie der Industrie gefordert, um kostengünstige Lösungen zu finden [Sebastian G. Clancio].

Studienergebnisse aus der Allgemeinmedizin zeigen, dass unter anderem auch sozioökonomische Faktoren hauptsächlich bestimmend sind für eine „Schiefverteilung“ der Morbidität. Menschen aus sozial niederen Schichten sind häufiger und schwerer krank und haben eine niedrigere Lebenserwartung als Angehörige der Oberschicht – sie verursachen damit auch den Großteil der medizinischen Kosten.

In einer sorgfältigen Anamnese sollte jeder zahnärztliche Kollege auch intensiv auf die Risikofaktoren eingehen; dazu gehört auch der soziale Status. Aus den Erhebungen der Anamnese und einer Befundung ist dann eine individuell abgestimmte Therapieplanung abzuleiten, die auch die Compliance einzubeziehen hat (die Compliance kann leicht durch Erhebung von Mundhygieneindizes kontrolliert werden: Nimmt die Kontrolle der Biofilme keinen positiven Verlauf, so ist daraus unschwer abzuleiten, dass es an der Mitarbeit des betreffenden Patienten mangelt, was naturgemäß unmittelbare Auswirkungen auf die Therapieplanung haben muss). Im Folgenden soll auf einzelne systemische Krankheitsbilder beziehungsweise Risikofaktoren für die Allgemeingesundheit eingegangen werden.

Diabetes

Diabetes ist die Hauptursache für Erblindung, Nierenversagen, periphere Gliedamputationen und ein wichtiger Risikofaktor für kardiovaskuläre Probleme sowie parodontale Krankheitsbilder [siehe auch Zimmer et al. 2001; Soskolne und Klinger, 2001]. Die Prävalenz des Diabetes ist in einem raschen Anstieg begriffen, sowohl bei Typ I als auch Typ II. Man schätzt, dass im Jahr 2010 weltweit etwa 200 Millionen Menschen davon betroffen sein werden. Die pathologischen Mechanismen werden derzeit so erklärt, dass die bei Diabetikern in höherer Blutkonzentration vorhandene Glukose in Interaktion tritt mit primären Aminen, wobei Gluco-Oxidantien entstehen, welche zelluläre Dysfunktionen auslösen können. Über metabolisierte Zwischenprodukte wird die Produktion von Proteinkinase C und MAP-Kinase negativ beeinflusst, was akute und chronische Veränderungen in der Gefäßstruktur und den peripheren Neuronen auslöst. Dies führt dann zu pathologischen Veränderungen in der Retina, den renalen Glomeruli, der Haut, der Arterien und der parodontalen Gewebe.

Für Diabetiker sollte eine enge Zusammenarbeit zwischen Hausarzt (Medikation) und Zahnarzt (Plaquekontrolle) gegeben sein.

Neben dem oben angeführten Modell werden auch andere Pathomechanismen diskutiert, so zum Beispiel eine generelle hyperinflammatorische Wirkung durch AGE-Rezeptoren (AGE wird bei Hyperglykämie in erhöhter Konzentration gefunden), wobei eine Triggerung von Monozyten und anderer Zellen vermutet wird [Schmidt et al. 1996] oder auch zum Beispiel eine Alteration vaskulärer Strukturen, eine reduzierte Immunantwort, insbesondere durch neutrophile Immunzellen, sowie eine verringerte Regenerationsfähigkeit der Gewebe.

Hier tritt eine Wechselwirkung zwischen parodontaler Erkrankung und dem Diabetes in den Vordergrund: Patienten mit gut eingestelltem Blutzuckerspiegel sind leichter parodontal therapierbar, andererseits weisen Patienten mit einer aktiven Parodontitis eine gewisse Therapieresistenz bei der pharmakologischen Kontrolle der Hyperglykämie auf [Taylor et al.1996].

Derzeit wird folgendes Konzept bei Diabetikern vorgeschlagen [Robert J. Genco, Vortrag in Genf 2002]: Diabetiker müssen möglichst frühzeitig eine qualifizierte parodontologische Betreuung erfahren, wobei eine enge Zusammenarbeit mit dem Allgemeinarzt zur korrekten Einstellung des Blutzuckerspiegels unbedingt anzustreben ist.

Gravidität und Frühgeburt

Neuere Studien legen den Verdacht nahe, dass Gravide mit parodontalen Infekten ein erhebliches Risiko für Frühgeburten beziehungsweise vermindertes Geburtsgewicht tragen [Offenbacher et al. 1996; Jeffcoat et al. 2001]. Das Risiko steigt für die werdenden Mütter, die zu Beginn der Gravidität an einer parodontalen Infektion leiden oder eine Verschlechterung während der Tragezeit erfahren, um das zwei- bis achtfache an [Davenport et al. 1998]. Wird hingegen im frühen Graviditätsstadium eine parodontologische Therapie eingeleitet, so sinkt das Risiko dramatisch [Lopez et al. 2001]. Dieser statistisch nachgewiesene Zusammenhang kann auch gut erklärt werden. Es findet ein Transfer bakteriellen Materials vom mütterlichen Organismus in den Fetus statt, wobei dem Campylus rectus scheinbar eine besondere Rolle dabei zukommt [Offenbacher et al. 2001].

Das Problem der Frühgeburten scheint derzeit zahlenmäßig zuzunehmen; so berichtet Pierre Buekens von der Universität von North Carolina, dass in den USA von 1990 bis zum Jahr 2000 ein Anstieg von 10,6 auf 11,8 Prozent stattgefunden habe. Frühgeborene beziehungsweise untergewichtige Geburten sind definiert durch ein Geburtsgewicht unter 2500 Gramm. Auch hier findet sich eine ausgeprägte Korrelation mit sozioökonomischen Faktoren. Rauchen wirkt sich dabei weniger auf die Frühgeburt aus, Babys von Raucherinnen fallen eher durch ein zu geringes Geburtsgewicht auf.

Es ist festzustellen, dass eine intensive zahnärztlich/parodontologische Betreuung während der Gravidität, ebenso wie bei Diabetikern, deutliche allgemeinmedizinische Auswirkungen hat und keinesfalls vernachlässigt werden darf.

Herz- und Kreislauferkrankungen

Sekundäre statistische Analysen haben in den letzten Jahren zunehmend Verdachtsmomente erhärtet, dass es einen gewissen Zusammenhang zwischen parodontalen Infektionen und kardiovaskulären Problemen gibt. So konnte eine neuere Untersuchung zeigen, dass es einen signifikanten Zusammenhang zwischen Parodontitis und der Dicke der Arteria carotis gibt [Beck et al. 2001]. Der Mechanismus scheint so zu sein, dass die parodontopathen Keime beziehungsweise deren Stoffwechselprodukte (Antikörper gegen die Leitkeime können bei den Betroffenen im Blut nachgewiesen werden) die Ausbildung arterieller Plaque begünstigen. Parodontal Erkrankte weisen auch einen erhöhten Serumspiegel an C-reaktivem Protein (CRP) auf [Beck et al. 2000; Slade et al. 2000]. CRP wird als Risikomarker für Herzinfarkt und Schlag angesehen [Blake et al. 2002].

Auch hier muss eine enge Zusammenarbeit zwischen Allgemeinärzten und Zahnärzten gefordert werden, so wie generell eine Neubewertung der Wichtigkeit der Zahnheilkunde für das allgemeine Wohlbefinden vorzunehmen ist. Bedenkt man, dass Herz-Kreislauf-Erkrankungen in Deutschland die weitaus häufigsten Krankheiten überhaupt darstellen, so sollte auch die ökonomische Brisanz dieser Zusammenhänge zur Kenntnis genommen werden.

Osteoporose

Osteoporose, eine Erkrankung des Skeletts, wird definiert durch die Abnahme der Knochendichte. Marjorie Jeffcoat von der University of Alabama berichtete in Genf (Dezember 2002) anlässlich des Meetings der Sunstar Foundation for Oral Health Promotion, dass es wohl einen unmittelbaren Zusammenhang gäbe zwischen der Knochendichte in der Hüfte und am Kieferknochen [siehe auch Geurs et al. 2000]. Wie die Studie an 450 Frauen in der Postmenopause weiter zeigte, hatten Patienten mit Parodontitis und Osteoporose signifikant höhere Knochenverluste am Alveolarknochen als solche ohne Osteoporose [Jeffcoat, MK. 1998; Crampp et al. 1997]. Bedenkt man, dass in vielen Weltgegenden 50 Prozent und mehr der alternden Frauen an Osteoporose leiden, sollte man solche Zusammenhänge ernst nehmen. Schon bei einer routinemäßigen röntgenologischen Untersuchung im Tätigkeitsbereich des Zahnarztes könnte man eine Reduktion der Knochendichte erkennen und so erste Verdachtsmomente für eine beginnende Osteoporose gewinnen, die durch enge Zusammenarbeit mit Kollegen aus der Allgemeinmedizin verifiziert werden könnten, bevor größere Schäden überhaupt erst aufgetreten sind.

Wegen der doch beachtlichen Wechselwirkungen lokal (oral) / systemisch sollte die Kooperation zwischen Medizinern aller Fachgruppen vertieft werden, aber auch das Bewusstsein bei den Zahnärzten Verstärkung finden, dass sie, als die Spezialisten für die Mundhöhle, sich nicht länger als „Zahn“ärzte, sondern vielmehr als „Mund“ärzte, also als „Oral“mediziner verstehen sollten, und dazu gehört in Anbetracht der Häufigkeit der ganz „normalen“ Erwachsenenparodontitis auch die Integration parodontologischer Therapien in den Praxisalltag.

Dr. Gerhard HetzWinkstr. 581373 Münchengh@hetz-publikationen.de

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