Damals und heute – Zahngesundheit und Ernährung

Kekse, Limo, Chips, Schokoriegel und Co.

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Zahnärztliche Ernährungsempfehlungen haben in den letzten Jahrzehnten beträchtliche Variationen erfahren. Die vorliegende Arbeit stellt die so genannte „Ernährungslenkung“ durch den Zahnarzt und ihre inhaltlichen Weiterentwicklungen vor, die nicht nur auf neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern auch auf gesellschaftlichen Veränderungen beruhen.

Die Ernährung ist seit jeher ein stark ideologisch besetztes, von politischen und ökonomischen Interessengruppen hart umkämpftes Terrain. Aussagen zur Ernährung werden deshalb oftmals nicht nur aus übergeordneter wissenschaftlicher Sicht getroffen. Die Beantwortung der Frage, welche Inhaltsstoffe und Darreichungsformen von Nahrungs- und Genussmitteln der Mundgesundheit abträglich oder förderlich sind, hat dabei im Verlauf der jüngeren Geschichte zahlreiche Wandlungen erfahren.

Die Zeit bis etwa 1950

Ende des 19. Jahrhunderts hatte Willoughby Dayton Miller die chemisch-parasitäre Kariestheorie entwickelt. Zur Rolle der Ernährung schrieb er: „Es sind vorzugsweise die in den Cariesherden steckengebliebenen stärke- und zuckerhaltigen Speisereste, welche durch Gährung Säure bilden“ [55]. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde jedoch vielfach die Auffassung vertreten, dass Mangelernährung (Vitamin- und Mineralstoffmangel) als eine der wichtigsten Ursachen für Zahnschäden anzusehen sei [53, 54]. Hinsichtlich des Angebots von Kohlenhydraten bestanden uneinheitliche Vorstellungen, ob und gegebenenfalls welche Kohlenhydrate einen positiven oder negativen Einfluss auf die Zahngesundheit nehmen könnten. So äußerte sich zum Beispiel Hermann Euler 1942 in einem Artikel mit dem Titel „Schadet Zucker den Zähnen?“ dahingehend, dass diese Frage kaum zu beantworten sei. Zucker könne, müsse aber nicht schaden. Die Zuckerrübe galt, insbesondere in Kriegszeiten, als eine für die Bevölkerung unverzichtbare Ernährungsgrundlage. Euler schrieb vor diesem Hintergrund: „Wir Deutsche dürfen uns deshalb unbedenklich der großen Kraftreserve freuen, die in der überragenden deutschen Zuckerproduktion liegt...“ [18].

Im Vordergrund der Betrachtungen standen damals nicht niedermolekulare Zucker, sondern hochmolekulare Stärkeprodukte. In einem 1938 publizierten Buch mit dem Titel „Der fortschreitende Verfall des menschlichen Gebisses“ vertrat Euler die Auffassung, dass die Abkehr von einer „naturnahen und naturgemäßen Ernährung“ als wichtigste zivilisationsbedingte Ursache von Zahnschäden zu betrachten sei. Für das Auftreten von Karies wie auch parodontaler Erkrankungen machte er dabei unter anderem die stärkere Verbreitung von „minderwertigem“ Weißbrot und Weißmehl verantwortlich. Als eine der wichtigsten Forderungen zur Verbesserung der Mundgesundheit wurde die stärkere Verbreitung von Vollkornbrot aus möglichst naturbelassenem Getreide vorgebracht [17]. Diese Einschätzung stützte sich unter anderem auf die Erhebungen von Adolf Roos im Jahr 1937, der im Schweizer Hochtal Goms umso bessere Gebissverhältnisse antraf, je mehr die Bevölkerung auf eine Selbstversorgung mit hartem kauzwingenden Roggenbrot, Kartoffeln, Gemüse, Milch und Käse angewiesen war [67]. In den Kriegsjahren diente die Anpreisung des Roggenvollkornbrots und das von Zahnarzt Carl Röse in den 1920er Jahren empfohlene „systematische Kauen“ („das Rösen“) jedoch weniger den angenommenen kariespräventiven Zwecken. Vielmehr sollte das vormals eher belächelte „Rösen“ während des Krieges ermöglichen, mit der Hälfte der gewohnten Nahrungsmenge satt zu werden und sich darüber hinaus gesund und kräftig zu fühlen [61].

Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs bezweifelte Anton Kantorowicz eine kariesprotektive Wirkung von Vollkornbrot ebenso wie eine besonders schädigende Wirkung von Zucker. Er warnte vor einer „Saccharophobie“ und verwies darauf, dass unter bestimmten Umständen hochmolekulare Stärke sogar zahnschädigender als niedermolekularer Zucker sein könne. Über die Optionen einer Kariesprophylaxe mittels Fluoriden äußerte er sich zurückhaltend. Fluoridierungsmaßnahmen müssten vorläufig als „im Stadium des Versuches befindlich“ eingeschätzt werden [36]. Obwohl schon in den 1940er Jahren kariespräventive Erfolge mit Fluoridierungsmaßnahmen mittels experimenteller Epidemiologie nachgewiesen worden waren, fanden diese Erkenntnisse Thomas Marthaler zufolge bis in die frühen 1950er Jahre nur wenig Aufmerksamkeit [51].

Die bis in die 1950er Jahre hineinreichenden Vorstellungen sind in Tabelle 1 (Seite 36) zusammengefasst.

Die Zeit von etwa 1950 bis 1970

Zunächst wurden Ernährungseinflüsse sowohl hinsichtlich Zahnhartsubstanzläsionen als auch parodontaler Schäden als nahezu gleichbedeutend angesehen. Später konzentrierte sich die Diskussion über Ernährungsfragen auf die Kariesverbreitung. Spätestens ab etwa 1950 wurde der Einfluss von Zucker auf die Entwicklung kariöser Läsionen in der Literatur immer mehr herausgearbeitet und anhand zahlreicher wissenschaftlicher Studien untermauert. Detaillierte Hinweise über die geschichtliche Entwicklung und die entsprechenden Pilotstudien finden sich bis heute in nahezu allen Übersichten, die sich mit dieser Thematik befassen [zum Beispiel 24, 39, 43, 45, 70, 71]. Auf dieser Grundlage konzentrierte sich die zahnärztliche Ernährungsberatung auf die Verringerung des Süßigkeiten- und Zuckerkonsums in der Bevölkerung. Ernest Newbrun bezeichnete im Jahr 1967 Saccharose, also Haushaltszucker, als den „Erzkriminellen“ (arch criminal) in Bezug auf Karies [60]. Stärke trat hingegen in den Hintergrund der Betrachtungen. Auch die Bedeutung von Mangelerscheinungen wurde relativiert [23, 72]. Neben der kariesfördernden Wirkung von Zucker wurde zunehmend der kariesprotektiven Wirkung von Fluoriden Gewicht beigemessen. Während anfangs noch Fluorid-Kritiker starke Bedenken wegen befürchteter Nebenwirkungen äußerten, gewannen später systemische Fluoridquellen (zum Beispiel über das Trinkwasser oder fluoridiertes Speisesalz) und lokale Fluoridträger (zum Beispiel über Zahnpasten) zunehmend Akzeptanz und wurden stark gefördert [6]. Säureerosionen hatten in der Ernährungsberatung dieser Zeit noch keinen großen Stellenwert.

Die bis in die 1970er Jahre hineinreichenden Vorstellungen sind in Tabelle 2 (Seite 37) zusammengefasst.

Die Zeit von etwa 1970 bis 1990

In den 1970er Jahren wurde der kariespräventive Effekt der Fluoride unübersehbar. Zuvor bestand zwischen kariesepidemiologischen Daten aus verschiedenen Ländern (Höhe des DMFT auf Bevölkerungsebene) und dem Saccharose- (Haushaltszucker-)Verbrauch ein ausgeprägter Zusammenhang. In manchen Industrieländern wurde dieser Zusammenhang – im Gegensatz zu unterentwickelten Ländern – im späteren Verlauf der Zeit auf Populationsbasis nicht mehr festgestellt [92]. Betrachtete man aber Individuen mit hohem Kariesrisiko, so konnte weltweit die Zucker-Karies-Relation unverändert weiter gezeigt werden [50]. Fluoride haben die Dosis-Wirkungsbeziehung zwischen Zuckerkonsum und Karies verändert. Für den Kariesrückgang wurde neben einem „säkularen Trend“ unbekannter Ursache vor allem die stärkere Verbreitung von Fluoriden verantwortlich gemacht [45, 51].

Im Zuge dieser Beobachtungen wurde die Frage des Einflusses verschiedener Kohlenhydrate wieder differenzierter diskutiert. Hinsichtlich des Zuckerkonsums wurde vermehrt darauf aufmerksam gemacht, dass nicht nur offenkundig zuckerhaltige Produkte wie Süßigkeiten, sondern auch „versteckte“ Zucker, die in einer großen Anzahl von Nahrungs- und Genussmitteln enthalten sind, kariesbegünstigende Wirkungen entfalten könnten. Außerdem kam der Einfluss von Stärke wieder vermehrt in das Blickfeld. Der Logik folgend, dass Zucker der alleinige Verantwortliche für Karies ist, hätten Lebensmittel mit hohem oder mittlerem Zuckergehalt besonders zahnschädigend sein müssen. Verschiedene Untersuchungen konnten dies aber nicht uneingeschränkt bestätigen [12, 87]. Als die Wirkung modifizierende Faktoren wurden andere Bestandteile der Nahrung identifiziert, beispielsweise Kalzium, Phosphat und Kasein, aber auch Fett, Proteine und Stärke [32, 33]. Die Diskussion um den Einfluss von Stärke ging kontinuierlich weiter. Beispielsweise erforschte die Arbeitsgruppe um Basil Bibby bereits 1951 mittels intraoraler Messmodelle die Kariogenität von Zwischenmahlzeiten [7]. Bibby vermutete 1975, gebackene Esswaren seien die kariogensten Nahrungsmittel, und Mischungen von Zucker und Mehl seien kariogener als Zucker allein. 1984 vertrat der Autor folgende Auffassung: „Am schädlichsten für die Zähne sind stärkehaltige Nahrungsmittel, die nur niedrige bis mittlere Zuckeranteile enthalten“ [8, 9].

Zu dieser Zeit fanden weitere Aspekte vermehrt Eingang in die Ernährungsberatung: Zuckeraustausch- und Zuckerersatzstoffe sowie die Stimulanz der Speichelproduktion durch Kaugummikauen wurden zunehmend als Zahnhartsubstanz schützend erkannt [49, 56, 73]. Ob ihre stärkere Verbreitung relevante bevölkerungsweite Effekte bewirkte, blieb allerdings unklar. Den Angaben von Walter Künzel zufolge fanden sich in der Literatur kaum eindeutige Nachweise über einen ausgeprägten Zusammenhang zwischen Kariesrückgang und Zuckersubstitution. Er maß Zuckersubstituten daher eine eher flankierende Bedeutung zu [45]. Nordamerikanischen Marktanalysen zufolge wurde durch Zuckersubstitute der Zuckerverbrauch nicht gehemmt [48]. Dies bedeutet offenbar, dass über den gleichbleibenden Zuckerkonsum hinaus zusätzlich Nahrungs- und Genussmittel mit Zuckersubstituten eingenommen wurden.

Die von den 1970er bis in die 1990er Jahre vorherrschenden Vorstellungen finden sich in Tabelle 3 (Seite 38).

Die gegenwärtige Situation

Der aktuelle Kenntnisstand zum Einfluss der Ernährung auf die Mundgesundheit wird in verschiedenen Übersichten aufgezeigt [zum Beispiel 10, 44, 57, 58, 71, 90, 91]. Danach stehen potentiell protektiven Einflüssen, wie Fluoriden, Fetten und weiteren Substanzen, potentiell schädigende Bestandteile aus Nahrungs- und Genussmitteln, wie Zucker, Zucker-/Stärke-Kombinationen und Säuren, gegenüber. Dabei ist zu beachten, dass nicht nur einzelne Inhaltsstoffe von Speisen und Getränken, sondern auch ihre Konsistenzen, ihre Kombinationen und Aufnahmehäufigkeiten beziehungsweise ihre Verweildauern auf den Zahnoberflächen für die Gesunderhaltung oder Erkrankung der Zahnhartsubstanzen von Bedeutung sein können.

„Zuckerkonsum kann somit auch heute nicht als unbedenklich und Karies keineswegs als beherrscht angesehen werden.“

„Zuckeraustausch- und Zuckerersatzstoffe sowie die Stimulanz der Speichelproduktion durch Kaugummikauen wurden als zahnhartsubstanzschützend erkannt.

Fluoride

Ein adäquates Fluoridangebot ist als wichtigster Eckpfeiler der Kariesprophylaxe inzwischen unbestritten [51]. Neben lokalen Fluoridangeboten – zum Beispiel in Zahnpasten – wird in Deutschland eine weitere Erhöhung des Marktanteils von fluoridiertem Speisesalz – derzeit etwa 60 Prozent – und eine Zulassung von fluoridiertem Speisesalz in der Gemeinschaftsverpflegung angestrebt [79].

Weitere nicht kariogene und antikariogene Nahrungsbestandteile

Fette können protektiv für die Zahnhartsubstanzen wirken, da sie sich als Schutzfilm um die Zähne und andere Nahrungsbestandteile legen [59]. Ähnliche Eigenschaften werden einigen Käsesorten zugesprochen [32, 63]. Milch und Käse können den schädigenden Einfluss der Plaquesäuren reduzieren und die Remineralisation fördern [38].

Zucker

Die Aussage, dass Zucker und andere fermentierbare Kohlenhydrate die ausschlaggebende Rolle bei der Kariesinitiierung und ihrem Voranschreiten spielen, ist wissenschaftlich inzwischen sehr gut abgesichert [12]. Jedoch wird der früher leicht nachweisbare Zusammenhang zwischen Zucker und Karies heute durch den zunehmenden Gebrauch von Fluoriden nicht mehr immer in gleicher Weise offensichtlich [45, 46]. Möglich erscheint auch ein synergistischer Effekt zwischen verbesserter Mundhygiene und der Fluoridanwendung. Dennoch ist auch in Zeiten der Fluoridanwendung ein enger Zusammenhang zwischen Zucker- / Zwischenmahlzeiten und Karies nachweisbar [3, 13, 27, 28, 29, 34, 69, 86, 87].

Verlautbarungen aus dem Umfeld der Süßwarenindustrie gehen üblicherweise in die Richtung, Karies sei heutzutage „beherrschbar“ [22]. Diese Annahme erscheint missverständlich, wenn in Betracht gezogen wird, dass fünf bis15 Prozent der Kleinkinder an Nuckelflaschenkaries leiden [84], dass etwa die Hälfte der Sechs- bis Siebenjährigen Karies haben (also das „Durchschnittskind“ an Karies erkrankt ist), und dass über die Hälfte der kariösen Milchzahnläsionen nicht saniert sind.

Des Weiteren verschleiert die Angabe des Summationsindex DMFT die aktuell vorliegenden Erkrankungsraten an Karies. Betrachtenswert ist die D-Komponente (= „decayed“, kariös) in den verschiedenen Altersgruppen [83].

So wiesen die Jugendlichen 1997 im Mittel 0,4, die Erwachsenen 0,5 und die Senioren 0,3 kariöse Zähne auf [74]. Die aktuelle Krankheitslast bleibt also im Lauf des Lebens ungefähr gleich. Betrachtet man das Verhältnis von erkrankten zu fehlenden Zähnen, nimmt die relative Krankheitslast sogar erheblich zu, weil im höheren Lebensalter weniger Zähne von Karies bedroht („at risk“) sind. Zuckerkonsum kann somit auch heute nicht als unbedenklich und Karies keineswegs als beherrscht angesehen werden. Aus den epidemiologischen Entwicklungen kann geschlossen werden, dass Karies auch weiterhin ein bedeutendes Public-Health-Problem sein wird.

Stärke, Zucker-/Stärke-Kombinationen

Die mögliche Kariogenität von stärkehaltigen Lebensmitteln wurde in Tier- und Laborexperimenten, epidemiologischen Untersuchungen und Beobachtungs- und experimentellen Studien untersucht. Danach hat Stärke zwar eine „kariogene Potenz“; es ist allerdings nicht ganz klar, inwieweit diese tatsächlich zum Tragen kommt. Paula Moynihan [57] fasste – in Übereinstimmung mit der WHO [90, 91] – den Kenntnisstand zur Kariogenität von stärkehaltigen Nahrungsmitteln wie folgt zusammen:

• Gekochte oder gebackene Stärke in Grundnahrungsmitteln wie Reis, Kartoffeln, Nudeln und Brot scheint beim Menschen eine nur sehr geringe Kariogenität aufzuweisen.

• Hitzebehandelte stärkehaltige Nahrungsmittel werden durch die Hinzufügung von Zucker kariogen. Gebackene zuckerund stärkehaltige Nahrungsmittel scheinen genauso kariogen zu sein wie gleiche Mengen an reiner Saccharose.

Die Frage, welche Bedeutung Stärke beziehungsweise die Zucker-Stärke-Relation von Nahrungs- und Genussmitteln im Rahmen des Kariesgeschehens hat, rückte durch zwei aktuelle zahnmedizinische Studien erneut in den Blickpunkt des Interesses.

In einer prospektiven Kohortenstudie einer australischen Arbeitsgruppe entwickelten insbesondere diejenigen unter den Jugendlichen mit niedrigem Anfangskariesrisiko Karies, die angaben, häufig Lebensmittel mit geringem Zuckergehalt bei gleichzeitig hohem Anteil an gebackener Stärke zu sich genommen zu haben. Bezüglich der Lebensmittel mit hohem und mittlerem Zuckergehalt wurden keine entsprechenden Zusammenhänge gefunden. Daraus zogen die Autoren die Schlussfolgerung, dass die Konzentration der zahnärztlichen Ernährungsberatung auf zuckerhaltige Nahrungsbestandteile überdacht und die kariesfördernden Eigenschaften von verarbeiteter Stärke mehr Beachtung finden müssten [14]. Ein Jahr zuvor hatte eine italienische Arbeitsgruppe eine retrospektive Beobachtungsstudie zu dieser Thematik publiziert [2]. Sie analysierte ebenfalls bei Jugendlichen, welche Zwischenmahlzeiten mit unterschiedlichem Zucker-Stärkegehalt am engsten mit dem DMFT in Zusammenhang standen. Als Faktor mit dem höchsten Vorhersagewert erwies sich hier die Häufigkeit des Verzehrs von Snacks mit „hohem Zucker- und gleichzeitig hohem Stärkegehalt“ (gesüßte Backwaren und Süßwaren). Nach regressionsanalytischen Berechnungen aus dieser Studie lag die Kombination von „wenig Zucker mit viel Stärke“ nur im mittleren Rang der Kariogenität. Damit sind die Ergebnisse der italienischen Studie nicht kompatibel mit denen der australischen. Das Gesamtmuster dieser widersprüchlichen Ergebnisse lässt sich nicht sinnvoll interpretieren; möglicherweise hängt dies mit methodischen Einschränkungen zusammen. Insofern sind wesentliche Aspekte des Einflusses von Stärke auf das Kariesgeschehen bis heute noch nicht überzeugend geklärt. Immerhin bestätigen beide Studien die Erkenntnis, dass auch ein niedriger Zuckergehalt eines Lebensmittels zu einer zahnmedizinisch relevanten Säurebildung in der Plaque führen kann [25]. Das ist der Grund dafür, dass nicht nur „reine“ niedermolekulare Kohlenhydrate (Zucker) in Bonbons oder Limonaden kariogen sind.

Säuren

Neben kariesbedingten Läsionen finden zunehmend nicht kariesbedingte Substanzdefekte, zum Beispiel Säureerosionen, Verbreitung [4, 5, 31, 47, 75, 76]. Sie werden unter anderem durch hoch frequenten Konsum säurehaltiger Speisen und Getränke (vor allem Limonaden, Fruchtsäfte, Softdrinks) hervorgerufen. Abrasive Inhaltsstoffe sind hingegen bei den derzeitigen Ernährungsgewohnheiten in unseren Regionen (wenn man von extremen Abweichungen absieht) von untergeordnetem Interesse. Abrasionen gewinnen allenfalls im Rahmen von bestimmten Mundhygienegewohnheiten Relevanz und können in Verbindung mit nahrungsbedingten Säurexpositionen zu erosiv-abrasiven Zahnhartsubstanzschäden führen [4, 5].

Die seit den 1990er Jahren vorherrschenden Vorstellungen sind in Tabelle 4 (Seite 40) zusammengefasst.

„Aus zahnmedizinischer Sicht sollte deshalb kein Lebensmittel, Getränk oder Genussmittel über einen langen Zeitraum in der Mundhöhle verbleiben oder hoch frequent konsumiert werden. Dies bezieht sich vor allem auf Getränke und Genussmittel, die „nach mehr schmecken“ (Limonaden, Softdrinks, Schoko-Riegel, aber auch salzige Snacks, Chips oder Cracker).

Aktuelle allgemeine Ernährungsempfehlungen

Die WHO hat 2003 die in Tabelle 5 (Seite 42) aufgeführten Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr abgegeben. Diese Empfehlungen zur Verhütung von Mangelzuständen, Übergewicht oder chronischen Krankheiten, wie kardiovaskulären Erkrankungen, Typ-II-Diabetes und Malignomen, sind mit zahnärztlichen Empfehlungen kompatibel. Tabelle 6 (Seite 44) beschreibt ernährungswissenschaftlich basierte Ratschläge, die den Konsumenten konkrete Handlungsanleitungen geben. Spezifisch zahnmedizinische Anliegen, zum Beispiel die Reduktion des Zuckerkonsums, stehen damit in Einklang.

Aktuelle zahnmedizinische Ernährungsempfehlungen

Viele Inhaltsstoffe von Speisen und Getränken haben potentiell schädigende Eigenschaften für die Zähne. Dazu zählen Kohlenhydrate ebenso wie Säuren. Aus zahnmedizinischer Sicht sollte deshalb kein Lebensmittel, Getränk oder Genussmittel über einen langen Zeitraum in der Mundhöhle verbleiben oder hoch frequent konsumiert werden. Dies bezieht sich vor allem auf Getränke und Genussmittel, die „nach mehr schmecken“ (wie Limonaden, Softdrinks, Schoko-Riegel, aber auch salzige Snacks, Chips oder Cracker).

Fluoride

Im Rahmen der Ernährung ist empfehlenswert, bei der Zubereitung von Speisen fluoridiertes Jodsalz zu verwenden. Die Fluoridaufnahme wird unter anderem durch Schwarztee und fluoridhaltige Mineralwässer gesteigert [78]. Deshalb muss der Fluoridgehalt von Mineralwässern deklariert werden [77]. Trotz diverser Fluoridquellen ist in Deutschland die Prävalenz von klinisch relevanten Dentalfluorosen gering. Insgesamt gesehen besteht eher die Gefahr, zu wenig Fluorid über die Nahrung aufzunehmen als zuviel.

Weitere nicht kariogene und antikariogene Nahrungsbestandteile

Vor dem Hintergrund, dass Fette nicht kariogen sind beziehungsweise in bestimmten Nahrungsmittelkombinationen sogar kariesprotektiv wirken können, wurde von zahnmedizinischer Seite empfohlen, bei Zwischenmahlzeiten anstelle von zuckerhaltigen Speisen eher fetthaltige Produkte, wie Käse und Wurstwaren, zu konsumieren oder Zucker mit Fetten zu kombinieren [39]. Käse und Wurst wurden in zahnmedizinischen Lehrbüchern über Prophylaxe und Präventivzahnmedizin ausdrücklich als „zahngesunde Lebensmittel“ propagiert [68]. Da wissenschaftlich allerdings noch nicht eindeutig geklärt ist, inwieweit eine fetthaltige Ernährung das Kariesaufkommen in der Gesamtbilanz beeinflusst, sollte eine Propagierung von Fett seitens der Zahnmedizin – auch im Hinblick auf die widersprüchlichen Einschätzungen von Ernährungswissenschaftlern (siehe unten) – derzeit mit Zurückhaltung erfolgen.

Auch andere Nahrungsbestandteile werden immer wieder hinsichtlich ihrer antikariogenen Wirkung diskutiert, etwa Tannine, Proteine, Peptide oder biogene Amine. Letztlich sind die Mechanismen der Kariesentstehung und der antikariogenen Wirkung aber so komplex, dass hier noch keine genauere Bewertung möglich ist [40].

Zucker

In den Industrieländern wird vor dem Hintergrund einer allgemeinen Fluoridanwendung die Aufnahme von maximal 60 Gramm zugesetztem Zucker pro Tag genannt [80]. Das entspricht den von der WHO [90, 91] früher empfohlenen etwa zehn Prozent der Gesamt-Energieaufnahme und gilt für Erwachsene mit einem „aktiven“ Lebensstil und hoher körperlicher Betätigung. Diese Menge summiert sich auf 22 Kilogramm Zucker pro Jahr. Da in Deutschland derzeit etwa 33 Kilogramm pro Kopf und Jahr verbraucht werden [37], bedeutet die Empfehlung eine Verminderung um ein Drittel. Bei Kindern und Jugendlichen mit ihrem höheren Bedarf an essentiellen Nährstoffen wird sogar eine noch stärkere Reduktion empfohlen, und zwar auf sechs Prozent der Gesamt-Energiezufuhr [15]. Im Zusammenhang mit dem Zuckerkonsum gibt es bekanntlich eine Debatte, ob eher die Häufigkeit oder eher die Menge des Zuckerkonsums wesentlich ist für die Kariesentstehung.

„.... dass Kartoffelchips zuweilen mit (karamellisiertem) Zucker überzogen und Frühstückszerealien häufig mit Zucker versetzt sind. Überdies kleben Chips stark an der Zahnoberfläche und können daher über einen langen Zeitraum kariogen wirken.

Hierzu ist festzustellen, dass Konsumhäufigkeit und Menge sehr eng zusammenhängen [71]. Insofern ist sowohl die Gesamtmenge als auch die Häufigkeit des Konsums zuckerhaltiger Nahrungsmittel und Getränke von Bedeutung für die Kariesentstehung. Die zahnmedizinische Ernährungsberatung zielt dagegen oft nur auf die Häufigkeit des Konsums ab. Sie empfiehlt, die Häufigkeit süßer Zwischenmahlzeiten einzuschränken. Verschiedentlich wird auch eine vermeintliche Kompromissformel empfohlen: „Wenn schon Süßes, dann alles auf einmal aufessen.“ Eine solche Empfehlung ist höchst problematisch, da sie Über- und Fehlernährung fördern kann. Die übermäßige Aufnahme von Kalorien ist ein Hauptproblem der Ernährung in den Industrieländern. Sie trägt zum zunehmenden Übergewicht der Bevölkerung bei, was mit Gesundheitsgefahren, besonders der Kinder, in Bezug gesetzt wird.

Zucker-Stärke-Kombinationen

Die Aufklärung in der Bevölkerung hat sich bislang auf Zucker in Süßigkeiten konzentriert. Über potentiell nachteilige Effekte von Zucker-Stärke-Kombinationen wird noch zu wenig informiert. So sind die meisten Verbraucher, aber teilweise auch Angehörige der zahnmedizinischen Berufe, nicht darüber informiert, dass Kartoffelchips zuweilen mit (karamellisiertem) Zucker überzogen und Frühstückszerealien häufig mit Zucker versetzt sind. Überdies kleben Chips stark an der Zahnoberfläche und können daher über einen langen Zeitraum kariogen wirksam werden [39].

Vor diesem Hintergrund dürfte es nicht auf ungeteilte Zustimmung stoßen, wenn in aktuellen Lehrbüchern zur Präventivzahnmedizin Kartoffelchips und ähnliche Snacks als „zahngesunde Lebensmittel“ dargestellt und für Zwischenmahlzeiten empfohlen werden [68]. Die Datenlage zur Kariogenität von stärkehaltigen Produkten wie Kartoffel- oder Mais-Chips ist zwar schlechter als zu zuckerhaltigen Lebensmitteln und Getränken, dennoch sollte auf entsprechende Ernährungsrisiken hingewiesen werden. Wenn etwa jemand die Gewohnheit hat, bei stundenlangem Fernsehen Kartoffelchips zu konsumieren, so sollte er wissen, dass er damit wahrscheinlich ein genauso großes Kariesrisiko wie derjenige eingeht, der Süßigkeiten zu sich nimmt.

Säurehaltige Getränke

Durch veränderte Ernährungsgewohnheiten, die den Konsum kariogen und erosiv wirkender Getränke betreffen, rücken derzeit Obst und Obstsäfte vermehrt in den Blickpunkt des Interesses. Bezüglich der Kariogenität von Obst hat Paula Moynihan Folgendes festgestellt: Unter (tier-)experimentellen Bedingungen, wenn Obst den Hauptanteil der Ernährung ausmacht, kann Obst Karies auslösen; als Teil einer gemischten Ernährung des Menschen gibt es jedoch keine Evidenz für die Kariogenität von Obst [58]. Säfte von Obst oder Gemüse, auch im verdünnten Zustand, stellen dagegen bei Säuglingen und Kleinkindern eine extrem hohe Kariesgefahr dar, wenn sie zu Schlafenszeiten per Nuckelflasche gegeben werden und führen zu dem der „Zuckertee-Karies“ [89] analogen Krankheitsbild der Nuckelflaschen-Karies. Das hängt mit der Verweildauer zusammen. Im Schlaf ist der Speichelfluss sehr gering, so dass kariogene Flüssigkeit lange einwirken kann [85].

Auch bei Erwachsenen können Obst- und Gemüsesäfte, Limonaden wie auch Rotund Weißwein im Fall ungewöhnlicher Verzehrgewohnheiten zahnschädigend sein. Wenn jemand etwa bei der Büroarbeit oder beim Fernsehen die Gewohnheit hat, alle paar Minuten einen Schluck eines zuckerhaltigen Getränks (zum Beispiel Fruchtsaftschorle) zu sich zu nehmen, so ist die Kariesgefahr groß, wobei hier neben dem kariogenen noch ein erosiver Effekt aufgrund des Säuregehalts der Flüssigkeit hinzukommt. Bei normalen Verzehrsgewohnheiten (geringe Verweildauer in der Mundhöhle) wirken Obst und Obstsäfte bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen aber kaum kariogen und erosiv und können durch die Förderung von Speichelproduktion sogar günstige Effekte erzielen.

Widersprüchliche Aussagen populärer Konzepte

In Deutschland kursiert eine Vielzahl teils gegensätzlicher Ernährungskonzepte (zum Beispiel „Low-Fat-Diät“ versus „Low-Carb-Diät“), die in der Laienpresse verbreitet werden. Sie stiften infolge widersprüchlicher Aussagen oft eine erhebliche Konfusion, worauf populärwissenschaftliche Bücher, wie das „Lexikon der populären Ernährungsirrtümer“ [64], hinweisen. Im Jahr 2004 wurde in der Illustrierten Stern unter der Überschrift „Trendwende – Es wird fettiger“ berichtet, Niedrig-Fett-Diäten, wie die so genannte Pfundskur seien veraltet und gerieten zunehmend in die Kritik. Um den Fettanteil in der Nahrung zu reduzieren, sei bislang angeraten worden, den Kohlenhydratanteil in Form von Brot, Kartoffeln, Reis und so weiter zu erhöhen. Dies habe sich als gefährlicher Irrweg herausgestellt. Neuere Diätkonzepte zielten anstelle der jahrelang propagierten Fettvermeidung auf das Gegenteil, nämlich eine Reduktion des Kohlenhydratanteils und eine Steigerung des Fettanteils auf 40 bis 50 Prozent in der Nahrung ab. Das bisherige „Low-Fat-Mantra“ mit einer Polarisierung in „gute“ Kohlenhydrate und „böse“ Fette sei nicht mehr haltbar [62]. Die aus diesen Vorstellungen resultierende „Low-Carb“-Diät (= niedrige Kohlenhydrate) ist allerdings ebenfalls nicht ohne Kritik geblieben. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) blieb bei ihren bisherigen Empfehlungen, die in Tabelle 6 (Seite 44) aufgegriffen sind. Bei der von dem Ernährungspsychologen Volker Pudel propagierten „Pfundskur“ („Low-Fat-Diät“) handelt es sich um eines der in Deutschland am weitesten verbreiteten Diätkonzepte. Es wird in den Printmedien, im Rundfunk und mit Unterstützung gesetzlicher Krankenkassen mit beträchtlichem Aufwand propagiert. Verschiedene Ernährungswissenschaftler stimmen den Empfehlungen von Pudel jedoch nicht zu. Ob die „üppig zugeführten Kohlenhydrate“ mehr Nutzen als Schaden bewirkten, sei evidenzbasiert nicht geklärt [66]. Auch aus zahnärztlicher Sicht müssen etliche Aussagen als missverständlich eingestuft werden. In dem Bemühen, den Fettanteil in der Nahrung so weit wie möglich zu reduzieren, favorisiert Pudel jegliche Kohlenhydrate, auch Zucker (Slogan: „Zucker macht fit, nicht fett“) [65]. Diesen Ratschlägen zufolge sollen Kohlenhydrate einschließlich Zucker zum „Sattessen“ genutzt werden. Dies läuft den Empfehlungen der WHO, nämlich den Zuckeranteil zu reduzieren, eindeutig entgegen. Aber auch die Angaben zur Flüssigkeitsaufnahme sind kritisch zu sehen. Hier gibt Pudel neben Wasser den hoch frequenten, über den gesamten Tag verteilten Genuss von zucker- und säurehaltiger Fruchtsaftschorle („eineinhalb bis zwei Liter täglich, je mehr desto besser“) an [65].

„.... dass Kartoffelchips zuweilen mit (karamellisiertem) Zucker überzogen und Frühstückszerealien häufig mit Zucker versetzt sind. Überdies kleben Chips stark an der Zahnoberfläche und können daher über einen langen Zeitraum kariogen wirken.

Obwohl eine hohe Flüssigkeitsaufnahme im Einklang mit aktuellen Ernährungsempfehlungen steht, kann ein hoch frequenter Genuss von Fruchtsaftschorlen aus zahnmedizinischer Sicht zu Zahnhartsubstanzschäden beitragen.

Die Rolle der Nahrungsmittelindustrie

W. Boitel in der Schweiz und Hermann Euler in Deutschland machten bereits in den 1930er Jahren die Nahrungsmittelindustrie, von der „keine vernünftige Nahrung“ zu bekommen sei, für die mangelnde Mundgesundheit der Bevölkerung mitverantwortlich [11, 16]. Auch in den folgenden Jahrzehnten wurde die Rolle der Nahrungsmittelindustrie oft äußerst skeptisch gesehen. So suggerierte man zum Beispiel in den 1980er Jahren der Öffentlichkeit, hinter Aktivitäten zur Förderung des Fluoridangebots stünden in erster LinieMachenschaften der Zuckerindustrie [19]. Die Aktivitäten der Nahrungsmittelindustrie sind jedoch nicht a priori mit einer Schädigung der Mundgesundheit verbunden. In den letzten Jahren sind Anstrengungen der Industrie zu verzeichnen, die darauf abzielen, die Mundgesundheit der Bevölkerung zu verbessern. So ist es etwa der Unterstützung durch die Salzindustrie zu verdanken, dass in Deutschland der Marktanteil an fluoridiertem Jodsalz in den letzten Jahren drastisch gestiegen ist. Des Weiteren hat die von der Industrie unterstützte „Aktion Zahnfreundlich“ Anteil daran, dass die Verbreitung von zahnfreundlichen Produkten gefördert wurde. Es bestehen Anstrengungen von Softdrink-Herstellern, das kariogene und erosive Potential ihrer Produkte zu reduzieren [30].

Auf der anderen Seite ist jedoch offenkundig, dass manche Werbeaktivitäten von Süßwaren- und Softdrink-Herstellern den Bemühungen um eine zahngesunde Ernährung in hohem Maß zuwiderlaufen. Die von zahnmedizinischer Seite vorgebrachte Kritik an irreführenden Aussagen von Lebensmittelherstellern (etwa zu den angeblichen gesundheitsfördernden Eigenschaften der „Milchschnitte“) wurde sogar mit Androhung gerichtlicher Schritte zu verhindern versucht [20].

Seit etwa Mitte der 1970er Jahre ist die Zuckerindustrie mit ihren Verbänden bemüht, nicht nur über Werbeaktivitäten, sondern auch über den Aufbau ernährungswissenschaftlicher Kompetenz den Absatz von Zucker zu fördern und Meinungsbildner zu beeinflussen. Ein Beispiel dafür ist das „International Life Sciences Institute“ ILSI, das von Coca-Cola und anderen Herstellern getragen wird. Das Ziel ist es offenbar, den Zusammenhang zwischen Zucker und gesundheitlichen Problemen wie Karies und Übergewicht als nicht vorhanden darzustellen. In Deutschland verbreitet unter anderem der IME (Informationskreis Mundhygiene und Ernährungsverhalten) aktuelle Ergebnisse aus der wissenschaftlichen Literatur. Der IME ist einer Werbeagentur angegliedert. Er wurde 1976 von der CMA (Centrale Marketing-Agentur, die wichtigste Landwirtschaftslobby-Vereinigung), der Süßwaren- und Getränkeindustrie und der Wirtschaftlichen Vereinigung Zucker gegründet [82]. Man gewinnt bei der Lektüre der IME-Presseinformationen zuweilen den Eindruck, dass die Literatur selektiv ausgewählt wird, um die wissenschaftlichen Erkenntnisse über den schädigenden Einfluss von Zucker zu relativieren. Eine seit längerer Zeit suggerierte Botschaft lautet beispielsweise, Karies hänge vor allem mit mangelnder Mundhygiene, mangelndem Fluoridangebot und zu starker Stärkeexposition zusammen, während der Einfluss des Zuckers wesentlich geringer sei als ursprünglich vermutet.

Unterstellte man die Gültigkeit der Marktgesetze, so dürften sowohl Zucker- als auch Stärke- und Fettproduzenten alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel nutzen, um Wachstum zu erzielen. Gleiches gilt für die sämtlichen anderen Anbieter von Nahrungs- und Genussmitteln. Es ist nicht auszuschließen, dass im Kampf um Marktvorteile der gesundheitliche Stellenwert einzelner Nahrungsbestandteile, zum Beispiel Kohlenhydrate oder Fette, in verzerrter Weise in die öffentliche Diskussion gebracht wird (siehe unter „Widersprüchliche Aussagen populärer Konzepte“). Die dadurch erzeugte allgemeine Konfusion dürfte dazu beitragen, dass Ernährungsempfehlungen generell nicht mehr ernst genommen werden und die Bevölkerung künftig vollends den Meinungsbildnern der Nahrungsmittelindustrie ausgeliefert ist. Allerdings erscheint für das tatsächliche Konsumverhalten nicht in erster Linie die Werbung, sondern vor allem die bloße Verfügbarkeit von Lebensmitteln in den Läden entscheidend zu sein. Dies ergibt unter anderem ein Vergleich des Zuckerkonsums in der ehemaligen DDR mit ihrer relativ „werbefreien“ Verteilungsform und der Bundesrepublik mit ihrem marktwirtschaftlichen, stark von Produktwerbung gekennzeichneten System. In der DDR lag der Pro-Kopf-Zuckerverbrauch mindestens so hoch wie in der Bundesrepublik [45]. Dies deutet darauf hin, dass es neben Werbeaktivitäten noch eine ganze Reihe anderer Faktoren gibt, die sich auf das Ernährungsverhalten auswirken, wobei neben der Verfügbarkeit auch noch der Preis, sozio-kulturelle Gegebenheiten und vieles mehr eine Rolle spielen.

Förderung von Public-Health-Aktivitäten

Es gab in der Vergangenheit verschiedene Ansätze, das Mundgesundheitsverhalten einschließlich der Ernährung in einer Population zu beeinflussen. Das Spektrum reicht von moralischen und finanziellen Sanktionen über Einflussnahmen auf die Nahrungsmittelindustrie und der mit ihr zusammenhängenden Branchen bis hin zu Aufklärungsaktionen auf verschiedenen Ebenen.

Zwischen 1933 und 1945 existierten mannigfaltige staatliche Kampagnen, um die Bevölkerung mit Androhung von Zwangsmaßnahmen zu einer „volksgesunden“ Ernährung zu bewegen. Falsche Ernährung wurde nicht nur mit der Schädigung der eigenen Gesundheit assoziiert, sondern darüber hinaus als „Landesverrat“ gebrandmarkt, der den Überlebenskampf Deutschlands mit anderen Völkern schwäche [35]. Es gibt keine Belege dafür, dass es mit derartigen Propagandamaßnahmen gelungen ist, Einfluss auf das Gesundheitsverhalten zu nehmen.

In standespolitischen Konzepten wird bis heute zuweilen die Auffassung vertreten, durch finanziellen Druck infolge Privatisierung zahnmedizinischer Leistungen werde das Gesundheitsverhalten verbessert („Verhaltenssteuerung über den Geldbeutel“). Ein Vergleich von Deutschland mit seinem System der Gesetzlichen Krankenversicherung und der Schweiz mit einer nahezu vollständigen Privatisierung zahnärztlicher Leistungen ergab jedoch, dass weder im Mundhygieneverhalten noch in anderen Bereichen wesentliche Unterschiede zu verzeichnen sind [81]. Im Bereich des Zuckerverbrauchs liegt die Schweiz mit 47 Kilogramm pro Kopf und Jahr sogar deutlich über Deutschland mit 33 Kilogramm pro Kopf und Jahr. Ähnliches gilt für das Rauchen, wobei in der Schweiz der Zigarettenverbrauch bei 2880 Stück, in Deutschland bei 1 814 Stück pro Kopf und Jahr angesiedelt ist (Tabelle 7, Seite 46). Insofern ist nicht davon auszugehen, dass mit finanziellen Sanktionen positive Einflussnahmen auf gesundheitsbewusstes Verhalten erzielt werden.

Anstelle solcher wenig Erfolg versprechender Auffassungen verfolgen moderne Public-Health-Strategien mehrdimensionale Ansatzpunkte [84]. Um zu einer gesunden Ernährung beizutragen, soll das Lebensumfeld verändert und dadurch eine gesunde Lebensweise für alle Menschen leichter umsetzbar gemacht werden. Rahmenbedingungen hierfür setzt eine staatliche Ernährungspolitik. Sie strebt danach, die gesamte Nahrungskette von der landwirtschaftlichen Produktion über die Verarbeitung, den Groß- und Einzelhandel und die Gemeinschaftsverpflegung bis zum Endverbraucher so zu beeinflussen, dass eine möglichst gesunde Ernährungsweise der Bevölkerung resultiert. Bisher gibt es in Deutschland kein verabschiedetes Programm zur Prävention ernährungsbedingter Erkrankungen [41]. Aus anderen Ländern liegen positive Erfahrungen vor. So trug in Norwegen allein die Signal setzende Funktion einer Politikformulierung zusammen mit öffentlicher Aufklärung dazu bei, den Fettanteil in der Ernährung zu senken (26). Weitgehende Wirkungen sind durch eine gesundheitsförderliche Gestaltung der landwirtschaftlichen Urproduktion erreichbar, beispielsweise wenn fettärmeres Fleisch mit mehr ungesättigten Fettsäuren erzeugt wird [52]. Ein außerordentlich bemerkenswertes Beispiel für Gesundheitsförderung durch Angebotsmodifikation ist auch, dass in einer großen Discounterkette nur noch fluoridiertes Jodsalz zum Verkauf kommt. Hier wird der ausschlaggebende Effekt des „Zugangs“ zu Lebensmitteln deutlich.

Geoffrey Webb hat 1995 darauf hingewiesen, dass die Konsumierbarkeit von Lebensmitteln durch eine „Hierarchie an Restriktionen” eingeschränkt ist (Abb. 1) [88]. Die Kontrolle des Zugangs zu Lebensmitteln durch „Gatekeeper“ wie Hausfrauen, Mütter, Erzieher oder Anbieter von Gemeinschaftsverpflegung sollte weniger dazu genutzt werden, um Einschränkungen durchzusetzen, sondern dazu, eine gesundheitsförderliche Ernährungsweise zu etablieren. Dieses Ziel verfolgt auch die Aktion „Fünf am Tag: fünfmal täglich Obst und Gemüse essen!“, die an einem Schlüsselfaktor zur Ernährungsverbesserung ansetzt. Die Kampagne basiert auf einer Partnerschaft zwischen politischen Stellen, Nahrungsmittelproduzenten und Supermärkten [21]. In Deutschland hat die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) zusammen mit verschiedenen Organisationen und der Lebensmittelindustrie im Jahr 2000 die Aktion lanciert. Sie umfasst die einfache, positive und verhaltensspezifische Botschaft, als Teil einer Ernährungsweise mit wenig Fett und viel Ballaststoffen fünfmal am Tag eine Portion Obst und Gemüse zu verzehren. Eine Portion kann durch ein Glas reinen Obst- oder Gemüsesaft ersetzt werden.

Eine effektive Public-Health-Strategie kann sich nicht darauf beschränken, dem „Endverbraucher“ Ernährungsratschläge zu geben. Wenn die Verhältnisse im Lebensumfeld verändert werden sollen, müssen in gleichem Maße Entscheidungsträger und Multiplikatoren aufgeklärt und zu Aktivitäten bewegt werden. Tabelle 8 zeigt, welche Zielgruppen dabei ins Auge gefasst werden sollten.

Gesundheitsaufklärungen innerhalb des in einigen zahnmedizinischen Kreisen viel beschworenen individuellen Arzt-Patient-Verhältnisses zeigen im Bereich der Ernährung nur begrenzt Erfolge.

Im Hinblick darauf, dass Hartsubstanzschäden der Zähne auch in unseren Regionen nach wie vor zu den am weites-ten verbreiteten chronischen Erkrankungen zählen, sollten effektive Public-Health-Aktivitäten vermehrt genutzt werden. Die Zahnärzteschaft hat sich in Deutschland diesbezüglich nur in Teilbereichen positioniert. Es wäre ein wichtiges Signal, wenn sie sich künftig als Anwalt der Mundgesundheitsbelange aktiv für Public-Health-Strategien im Bereich Ernährung einsetzen würde.

Prof. Dr. Dr. Hans Jörg Staehle,Poliklinik für Zahnerhaltungskunde der Klinikfür Mund-, Zahn- und Kieferkrankheiten desUniversitätsklinikums Heidelberg,Im Neuenheimer Feld,62190 Heidelberg.

Dr. Harald Strippel, M.Sc. in DentalPublic Health, Medizinischer Dienst derSpitzenverbände der Krankenkassen,Fachgebiet Zahnmedizinische Versorgung,Lützowstr. 53,45141 Essen

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