Gastkommentar

100 Tage GMG-Debakel

Die jüngste Gesundheitsreform wird 100 Tage alt. Bilanz bisher: Viele Baustellen und ein Debakel an allen Enden.

Thomas Grünert
Chefredakteur Vinzentz Network Berlin/ Redaktionsbüro Vollmer

100 Tage wird sie in diesen Tagen alt. Und schon ist die jüngste Gesundheitsreform sprichwörtlich in die Jahre, pardon, in die Tage, gekommen. Nicht etwa, dass der Pulverdampf sich schon verzogen hätte. Geht es um die Auslegung des so genannten Gesundheitssystemmodernisierungsgesetzes – kurz GMG – wird allenthalben noch scharf geschossen. Dennoch ist eines klar: Ulla Schmidts Reformwerk hat den Charme eines vor Jahren unters Sofa gefallenen Kekses. Alles wäre nicht so schlimm, könnte man diesen Keks einfach in die Skurrilitäten- Dose der an diesen Dingen ohnehin nicht armen Gesundheitspolitik packen. Doch nein, wir sind gezwungen, an diesem Keks zu knabbern.

Da wäre zunächst einmal die Praxisgebühr. Geduldig schluckten die meisten Patienten die bittere Pille. Die Wirkung bisher: Kaum eine Entlastung der Kassen, doch ein Klotz an zusätzlicher Bürokratie für die Leistungserbringer. Von Leistungsverbesserung ist natürlich nicht die Rede. Und schon diskutieren Experten, ob man inzwischen eher von 80 oder bereits von 300 Ausnahmen zur Praxisgebühr reden kann und unter welchen Bedingungen das Ganze wieder zu kippen wäre.

Der Bonbon, der den Leistungsempfängern versprochen wurde, niedrigere Beitragssätze zu den Kassen, hat sich bereits jetzt in Pustekuchen verwandelt. Die GKV-Einnahmen haben sich, wie offenbar erst jetzt klar wird, 2003 so wesentlich verschlechtert, dass anstatt von einem Schuldenberg von neun Milliarden nun von 12 Milliarden Miesen auszugehen ist. Vorbei der Traum von Beitragssätzen von 13,6 Prozent, wie vor Monaten noch angekündigt. Realistisch dürften wohl eher Schätzungen sein, wie sie der Vorstandsvorsitzende der Deutschen BKK, Ralf Sjuts, hat. Sjuts geht von einem Beitragssatz von mindestens 14,76 Prozent aus.

Wir brauchen die Reform der Reform schon jetzt. Eine Beseitigung struktureller Schwächen und Stärkung des Wettbewerbs muss klarer definiert und umgesetzt werden. Apropos Wettbewerb: Wie war das gerade noch mit der Frage der Kostenerstattung? Mehr Transparenz, mehr Wettbewerb zwischen den Leistungserbringern soll das GMG ermöglichen. Der Versicherte, der sich in der Praxis dafür entscheidet, muss vorab erst einmal eines sein: sehr stress-stabil. Denn in der Regel muss er sich erst einige Szenarien seines Versicherers anhören, die ihm die neue Freiheit alles andere als schmackhaft machen. Dass der Versicherte die Freiheit seiner Wahl dann auch noch mit zehn Prozent Abzug bei der Erstattung bezahlen muss, ist schlichtweg unakzeptabel. Die Halbherzigkeit, mit der die Politik die neuen Möglichkeiten vertritt, lassen den Schluss zu, dass der Typ „mündiger Patient“ vorwiegend zum Füllen politischer Sprechblasen dient, die allzu schnell zerplatzen.

100 Tage Gesundheitsreform sind freilich auch am Ministerium für Gesundheit und Soziales nicht spurlos vorübergegangen. Ulla Schmidts Strategen haben sich verschanzt. Üben Medien oder gar Verbände und Kassen Kritik an der Gesundheitsreform, wird das Ministerium zum Schlachtschiff und feuert gerne mediale Breitseiten mit hoher Streuwirkung ab. Medien-Abwatsche scheint ohnedies zu einer neuen Parade-Disziplin der Regierung zu werden. Staatssekretärin Marion Caspers-Merk spart in einem Brandbrief an die „schwarzen Schafe“ auch nicht an Begriffen wie „interessengeleitete Sabotage“ und „illegale Praktiken“. Mit konstruktiven Vorschlägen zur Umsetzung des GMG ist man dagegen ziemlich zurückhaltend. Genauso zurückhaltend übrigens, wie mit den zugesagten Zuschüssen zur Vorbereitung der Gesundheitskarte, die ab 1. 1. 2006 bundesweit eingeführt werden soll. Selbst Optimisten zweifeln inzwischen, dass der ehrgeizige Plan zu halten ist.

Dafür zimmert man in den Amtsstuben lieber an einem neuen Gebilde. „Präventionsgesetz“ heißt es. Im Januar sollte eigentlich bereits ein Entwurf vorliegen – Fehlanzeige! Offenbar hat man die Rechnung ohne die Länder gemacht, die auf die verfassungsrechtlich verbriefte Zuständigkeit in Sachen Prävention pochen. Überlegungen, die gesetzliche Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung für Präventionsprogramme am stärksten zur Kasse zu bitten, stoßen auf harsche Kritik. Dabei könnte es – zumindest aus dem Blickwinkel der Regierung – nach 100 Tagen GMG-Debakel doch so schön sein, endlich mal davon zu reden, wie man durch Prävention die Probleme löst, die der Flickenteppich GMG nicht verdecken kann...

Gastkommentare entsprechen nicht immer der Ansicht der Herausgeber.

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