Gastkommentar

Keine Pause bei Reformen

Der Milliardenüberschuss vom ersten Quartal täuscht: Die gesetzlichen Kassen leiden weiter unter einem gefährlichen Schwund ihrer besten Beitragszahler. Sozialversicherungsfreie Beschäftigung und Schwarzarbeit nehmen zu. Die Solidargemeinschaft ist in der Substanz gefährdet.

Martin Eberspächer
Leiter der Abteilung Wirtschaft und Soziales Bayerischer Rundfunk

Nach der Sommerpause geht die Bundesregierung angeschlagen in die zweite Halbzeit. Das zeigte zuletzt der Denkzettel bei der Europawahl. Über Details lässt sich streiten, doch von der Sache her war es richtig, mit der Agenda 2010 notwendige Grausamkeiten auf den Weg bringen. Inzwischen ist manch gute Idee auf der Strecke geblieben. Das war zu erwarten. Schon früher machten Regierungen zur Halbzeit keine gute Figur. „Rettet Ulla!“ lautet die Parole im Gesundheitsministerium. Wie bestellt zeigten sich Funktionäre mancher Ersatzkassen begeistert angesichts der jüngsten Überschüsse. Nach zehn Jahren Dauerdefizit endlich wieder schwarze Zahlen! Fast eine Milliarde Euro mehr in der Kasse! Tatsächlich ist dieser GKV-Saldo für das erste Quartal 2004 ein bescheidener Wert. Durch Praxisgebühr und höhere Zuzahlungen haben die Versicherten bezahlt. Noch liegt der Beitragssatz im Durchschnitt über 14 Prozent. Mit Überschüssen auch in den kommenden Quartalen müssen die Kassen Schulden von rund sieben Milliarden aus Vorjahren tilgen. Überdies werden die Ausgaben wieder steigen, wenn Patienten ihre Vorräte an gehorteten Arzneimitteln aufgezehrt haben.

Auf Dauer verhängnisvoll bleibt eine schlechte Nachricht, die oft verdrängt wird. Die Zahl der Erwerbstätigen ist innerhalb eines Jahres um 151 000 zurückgegangen. Bei den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten summiert sich das Minus sogar auf 600 000. Das ist eine Kehrseite der Ich-AGs. Gefragt ist der kleine Job ohne Abzüge und jede Art von Schwarzarbeit. Bei Krankheit soll die Versicherung des Ehepartners eintreten. Wenn Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammengehen, werden diese Familienlasten der Kassen noch zunehmen.

Umfragen der Wirtschaftskammern zeigen, dass die mittelständischen Unternehmen ihre Lage meist schlechter einschätzen als am Jahresanfang. Sie wollen weniger oder kostengünstigere Mitarbeiter beschäftigen. Zwar ist die Weltwirtschaft in Fahrt gekommen. Gute Exportgeschäfte einzelner Industrieunternehmen mit geringer Wertschöpfung können die miese Nachfrage im Inland aber nicht ausgleichen. Auch für 2005 liegen die meisten Wachstumsprognosen unter der Schwelle für zusätzliche Beschäftigung.

Die Freizügigkeit für Bürger aus neuen EUMitgliedsstaaten wird die Finanzgrundlagen der gesetzlichen Kassen weiter untergraben. Zwar dürfen Osteuropäer während einer Übergangszeit noch nicht als Arbeitnehmer kommen, wohl aber als Selbständige und – offiziell – nicht Erwerbstätige. Professor Hans-Werner Sinn vom ifo-Institut in München rechnet mit einer „Armutswanderung aus den Weiten der Slowakei und Polens“. So werde schon heute der Taxi-Markt in Berlin von polnischen Ich-AGs aufgerollt.

Zwar müssen Zuwanderer eine Krankenversicherung und „Existenzmittel“ nachweisen, bevor der Aufenthalt erlaubt wird. Wenn das Geld danach abhanden kommt, ist aber der deutsche Sozialstaat und nicht das Heimatland gefordert. Gegenüber Deutschen dürfen EU-Bürger nicht diskriminiert werden. Sie können sich auf Richtlinien aus Brüssel berufen und ihre Rechte einfordern. Wenn die Kassen leer sind, müssen im Zweifel Leistungen gleichmäßig für alle reduziert werden.

Die aktuellen Trends vom Arbeitsmarkt gefährden die Beitragseinnahmen der Krankenversicherung dreifach:

– Das Wachstum stagniert, die Beschäftigung sinkt.

– Qualifizierte Facharbeit wandert in Länder mit niedrigem Lohnniveau.

– Bei Geringqualifizierten nimmt der Verdrängungswettbewerb zu.

Wenn Ulla Schmidt sich vom Rausch der Milliarden erholt hat, sollte sie für die zweite Halbzeit keine Wahlgeschenke planen, sondern die neue Herausforderung annehmen. Sofern Randgruppen massiv zuwandern, ist das soziale Netz in der Substanz gefährdet. ifo-Präsident Sinn erwartet einen Wettlauf der westeuropäischen Sozialstaaten zur Abschreckung unerwünschter EU-Neubürger. Seine Botschaft: Im Endeffekt kann Europa nur noch so sozial sein, wie die USA heute.

Dass Europa bis 2010 zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum“ der Welt aufsteigen und obendrein einen größeren sozialen Zusammenhalt erreichen möge – diese Vision hat vor vier Jahren der Europäische Rat als „Agenda 2010“ in Lissabon beschlossen. Zurzeit sprechen alle Fakten gegen ein solches Wirtschaftswunder.

Gastkommentare entsprechen nicht immer der Ansicht der Herausgeber.

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