Leitartikel

Zukunft offen mitgestalten

Sehr verehrte Frau Kollegin, sehr geehrter Herr Kollege, "es bedarf keines Wunders, sondern eines realistischen Urteils und des Willens, die Dinge in die Hand zu nehmen", mahnte jüngst Altbundeskanzler Helmut Schmidt während eines Zahnärztetages. Sein Stein des Anstoßes: Die mangelnde Bereitschaft der Deutschen, die Krise unseres Sozialstaates endlich konsequent anzugehen und erfolgreich zu bewältigen. Der Blick in die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gibt ihm Recht: Das so genannte "Wirtschaftswunder" der Aufbaujahre war kein Wunder, vielmehr das Ergebnis von politischem Realismus, von Leistungskraft und Eigenverantwortlichkeit der Bürger. Es war ein Erfolg, der aus einem Höchstmaß an Selbstbestimmung und Freiheit resultierte. Auch Jahrzehnte später waren es diese Werte, die uns Deutschen aus Ost und West Zuversicht zur Bewältigung der Wiedervereinigung gaben. Die Politik traute den Bürgern eben viel zu.

Inzwischen agiert die Bundesregierung anders: Gesundheitsministerin Ulla Schmidt hat gezeigt, dass ihr Vertrauen in die Eigenverantwortlichkeit nicht sonderlich stark ist. Zumutung - nicht Zutrauen - ist Maßgabe für ihr Handanlegen am Gesundheitswesen: Vater Staat diktiert, der Bürger zahlt. Darüber hinaus: Kontrolle ist besser als Vertrauen. Und schon die Zwischenbilanz wird - vorschnell - als Erfolg der Politik gefeiert. Handlungsfreiheit und Selbstbestimmung, wie Kostenerstattung oder befundorientierte Festzuschüsse, gibt es nur in "Pilotprojekten" am Gängelband der Ministerin. In diesem Umfeld verwundert es nicht, dass die "Reformer" die ehemaligen Poliklinikmodelle des Ostens ausgraben und als "Goldkörner" ihrer Gesetzgebung feilbieten. Versorgungszentren nach § 95 SGB V, die Gegenmodelle zu den Selbstbestimmungsstrukturen der Heilberufe, sollen das Gesundheitswesen in den Griff bekommen. Die freie Arztwahl wird nicht abgeschafft, aber Dank konstruierter Nachteile deutlich eingeschränkt. Der Freiberufler selbst konkurriert künftig mit planwirtschaftlichen Gesundheitsbetrieben, deren Ärzte, so Ulla Schmidt, die Freiheit genießen, nicht nur halbtags, sondern bei Bedarf auch noch weniger zu arbeiten. Eine Berufsauffassung, die für die meisten Freiberufler purer Hohn ist.

Was steht am Ende? Etwa der Arzt als Tagelöhner, angestellt vom als Rechtsperson agierenden Geldgeber, der dem Arzt/Zahnarzt riskante Entscheidungen ökonomischer Art abnimmt? Ersetzt dann die unternehmerische "Fürsorge" das Feld ärztlicher Selbstbestimmung? Wird medizinischer Fortschritt später abhängig von demographie- und wirtschaftstechnisch bestimmten Finanztableaus, auf die eine Einheitskasse den Daumen hält?

Düstere Vorstellungen dieser Art sind weit weg, müssen aber schon in ihren Keimen erkannt werden. Fakt ist: Das Gesetz steht, die Möglichkeiten sind grundsätzlich gegeben. Und sie sind von Partialinteressen gelenkt: Polikliniken der Krankenkassen, Gesundheitszentren der privaten Versicherungen und Krankenhausträger. Wir werden uns deshalb für die Zukunft alle Optionen offen halten müssen, um eigenen Interessen der Kollegen freien Raum zu lassen. Nur so können wir den weiteren Prozess mitgestalten und die Kollegen vor größerem Schaden bewahren.

Dabei muss "Widerstand" mit Vernunft und gutem Gespür - also politisch - ausgerichtet werden. Und es ist Sache des Berufstandes, dass wir uns auch künftig durch Leistung, Qualität, Einsatz für unsere Patienten und weitestgehende Nutzung bestehender Freiheiten für eine "zahn-medizinische" Versorgung nach allen Regeln unserer Kunst auszeichnen. Wir müssen klarstellen, dass ärztlicher Sachverstand weit höher anzusiedeln ist als Mittelverteilung nach einem Diktat purer Ökonomie.

Die Eigeninitiative des Berufstandes, ob im Bereich Fortbildung, Qualitätssicherung oder auch gesellschaftlicher Verantwortlichkeit, zeigt zu Genüge, dass die freiwillige Wahl des Heilberufes eben nicht - wie Ulla Schmidt unterstellen mag - unter den Maximen einer sich unmündig gerierenden Spaßgesellschaft, sondern aus Verantwortungsbewusstsein, Ethik und dem Willen zur Hilfe erfolgt.

Georg Bernard Shaw hat einmal gesagt: "Freiheit heißt, sich Verantwortung aufzuladen." Vielleicht wird sie gerade deshalb in manchen politischen Kreisen so gefürchtet.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Dr. Jürgen WeitkampPräsident der Bundeszahnärztekammer

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