Gastkommentar

Pflegestufe III

Ein Pflegefall ist die gesetzliche Pflegeversicherung schon lange. Neu ist, dass sie – um im Bild zu bleiben – jetzt Pflegestufe III bekommt.

Andreas Mihm
Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Berlin

In diesem Jahr werden die Ausgaben die Einnahmen der gesetzlichen Pflegeversicherung im siebten Jahr in Folge übersteigen. Schon nach zehn Jahren ist die jüngste gesetzliche Sozialversicherung runtergewirtschaftet. 823 Millionen Euro betrug das Defizit 2004. Wieder ein Negativrekord, von Sozialministerin Ulla Schmidt (SPD), mit den Worten kommentiert, das sei deutlich geringer „als von vielen erwartet”. Die Reserven sind auf 3,4 Milliarden Euro geschmolzen.

Bis 2008 hielten die Reserven noch ohne neuerliche Beitragssatzerhöhung, rechnet sich Schmidt die schrecklichen Zahlen schön. Dabei setzt sie darauf, dass die zusätzlichen Einnahmen aus dem seit Jahresanfang geltenden erhöhten Beitragssatz für Kinderlose tatsächlich 700 Millionen Euro einspielen. Zweifel daran sind angesichts der vielen Fehlprognosen aus dem Sozialministerium angebracht.

Die Gründe für die Krise der Versicherung sind vielfältig. Auf der Einnahmenseite schlagen die stagnierenden Einkommen der Versicherten schmerzhaft zu Buche. Der wirtschaftliche Aufschwung macht, nachhaltig verschreckt, um Deutschland einen weiten Bogen. Wenn die Grundlohnsumme als Folge von Nullrunden und hoher Arbeitslosigkeit kaum mehr wächst, steigen auch die Beitragseinnahmen nicht.

Die Ausgaben indes klettern. An die zwei Millionen Menschen beziehen Leistungen von der sozialen Pflegeversicherung und es werden immer mehr. Verschärft wird das Finanzproblem dadurch, dass ein wachsender Anteil der Pflegebedürftigen nicht mehr ambulant zu Hause, sondern teuer in Pflegeheimen betreut wird. Ungeachtet dessen fehlt das Geld, um Zehntausende Demenzkranke angemessen zu pflegen. Sozialpolitiker möchten ihnen gerne täglich 30 Minuten Extrapflege spendieren. Das kostet 750 Millionen Euro im Jahr. Als klaffe die Schere zwischen Anspruch und Wirklichkeit nicht weit genug auseinander, sinkt der Wert der Pflegeleistung. Denn die steigenden Personalkosten laufen dem Beitragssatz davon. Deshalb soll die Versicherung „dynamisiert” werden, was einen weiteren hohen Millionenbetrag erfordern wird.

Die Politik sitzt in der Falle: Einerseits sollen die Beitragssätze von derzeit 1,7 Prozent (1,95 Prozent für Kinderlose) nicht steigen, um nicht noch mehr Arbeitsplätze außer Landes zu treiben. Andererseits hat niemand im politischen Betrieb den Mut, Leistungskürzungen zu verkünden, erst recht nicht vor wichtigen Wahlen wie im Mai in Nordrhein-Westfalen oder zum Bundestag im Herbst kommenden Jahres. Kurzfristig braucht die Versicherung damit mehr Geld, langfristig ein völlig neues Fundament.

Die Probleme sind nicht neu, allerdings werden sie durch Liegenlassen immer größer. Und doch sieht es nicht danach aus, dass eine Lösung auf absehbare Zeit, also vor der Bundestagswahl, erreicht werden könnte. Zu weit liegen dafür die politischen Konzepte auseinander. So will die SPD wie für die Krankenversicherung auch für die Pflegeversicherung eine Bürgerversicherung einführen. Beiträge werden demnach nicht nur auf das Arbeitseinkommen, sondern auch auf Kapitalerträge fällig. Auch sollen alle die einzahlen, die sich bisher privat und damit meist günstiger gegen das Pflegerisiko abgesichert haben. Denn Privatversicherte sind weniger oft pflegebedürftig. Geht es nach dem SPD-Gesundheitsökonomen Karl Lauterbach, könnten durch Einbeziehen aller Bürger und mehr Einnahmen die Beitragssätze gesenkt werden.

Doch die Bürgerversicherung ist in der SPD umstritten. Im Sozialministerium heißt es schmallippig, sie sei eine von mehreren Optionen. Weder Schröder noch sein Wirtschaftsminister Wolfgang Clement halten das Konzept für überzeugend. Dass Parteiund Fraktionschef Franz Müntefering dennoch dafür die Trommel schlägt, dürfte eher dem Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen und der Beruhigung der SPD-Linken geschuldet sein. Mit CDU und CSU jedenfalls ist das Konzept nicht umzusetzen. Weil jede Reform der Pflegeversicherung nur mit der Zustimmung des Bundesrates möglich ist, ist bei herrschenden Mehrheitsverhältnissen der Traum von der Bürgerpflegeversicherung schon geplatzt.

Andererseits wird auch die Union ihre Überlegungen für einen schrittweisen Umbau der Pflegeversicherung in ein Modell mit Kapitaldeckung gegen die rot-grüne Mehrheit im Bundestag kaum ins Gesetzblatt kriegen. Diese Blockadesituation wird wohl frühestens mit der Bundestagswahl und neuen Mehrheiten aufgelöst werden können.

Ulla Schmidt will ihre Reformpläne im Herbst vorlegen. Dann, knapp ein Jahr vor der Bundestagswahl, dürfte es nach der politischen Arithmetik dafür eh’ zu spät sein.

Gastkommentare entsprechen nicht immer der Ansicht der Herausgeber.

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