Gastkommentar

Ein unanständiges Anliegen

Seit der Ankündigung durch Bundeskanzler Gerhard Schröder und SPD-Chef Franz Müntefering, noch in diesem Jahr Neuwahlen anzustreben, befindet sich vor allem der Bundespräsident unter erheblichem Druck.
Hartwig Broll
Gesundheitspolitischer Fachjournalist in Berlin

Unmittelbar nach der Ankündigung Franz Münteferings und Gerhard Schröders am Abend des 22. Mai – unter dem Eindruck der verheerenden Landtagswahlniederlage in Nordrhein-Westfalen –, noch im Verlauf des Jahres 2005 Bundestagsneuwahlen anzustreben, befindet sich der ganz überwiegende Teil der politischen Klasse in Berlin wie im Fieber. Vor den Urnengang hat das Grundgesetz allerdings – aus den bitteren Erfahrungen der Weimarer Republik – die hohen Hürden einer verfassungskonformen Auflösung des Bundestages gesetzt. Somit sehen sich die Verantwortlichen aller Parteien, die in seltener Eintracht das Anliegen der SPD-Oberen unterstützen, vor allem mit der Frage konfrontiert, wie man die Verfassung so beugen kann, ohne dass einem das Bundesverfassungsgericht einen Strich durch die Rechnung machen wird.

Die zentrale Rolle in dieser Scharade spielt – wieder einmal – der Bundespräsident. Bereits zweimal haben Bundeskanzler, 1972 Willy Brandt und 1983 Helmut Kohl, mit fingierten Misstrauenserweisen dem Bundespräsidenten ihr Anliegen einer Auflösung des Bundestages vorgetragen – jeweils mit Erfolg. Zugegeben, inflationär ist dieses Mittel damit nicht eingesetzt worden, aber der Geruch der Verfassungsbeugung blieb doch bestehen – vor allem im Falle Helmut Kohls, der eigentlich über eine stabile Mehrheit verfügte.

Aber wie bei allen Tricks, die zwar den Buchstaben, nicht aber dem Geist der Verfassung gerecht werden, wird jede Wiederholung auch ein Stück gefährlicher. Bereits 1983 ist das Bundesverfassungsgericht zu einer Überprüfung dieses Vorgehens angerufen worden, und es hat die Entscheidung des Bundespräsidenten, den Bundestag aufzulösen, zwar bestätigt, aber den Politikern eben auch weitere Kriterien für den Wiederholungsfall an die Hand gegeben. Sie muss eben dauerhaft fehlen, die Kanzlermehrheit, die Bestätigung eines Koalitions- oder gar Politikwechsels durch das Wahlvolk sieht die Verfassung ausdrücklich nicht vor – und schon gar nicht den „anständigen Abgang“ einer Bundesregierung in einer politisch schwierigen Situation.

Angesichts dieser Voraussetzungen wundert schon die Chuzpe, mit der die Parteien das Problem erneut an den Bundespräsidenten delegieren wollen. Und der ist zunächst einmal der Dumme, denn die Bedenken, die sich im Bundespräsidialamt gegen die Verfassungsmäßigkeit einer Bundestagsauflösung auftürmen, stehen in ihrem Gewicht dem Druck kaum nach, dem sich Horst Köhler angesichts des beinahe einhelligen Wunsches in allen Parteien nach einer Neuwahl ausgesetzt sieht. Wie auch immer der Bundespräsident entscheidet, irgendwie wird er es doch falsch machen müssen, entweder politisch oder verfassungsrechtlich. Und die politische Krise einer präsidialen Verweigerung wäre noch nichts gegen die Staatskrise, die der Bundesrepublik und ihren Verfassungsorganen droht, sollte gar das Bundesverfassungsgericht die Entscheidung des Bundespräsidenten korrigieren. Dann wäre nicht allein Köhler desavouiert, sondern eigentlich die gesamte politische Klasse der Berliner Republik.

Warum haben die Parteien angesichts ihrer so weitgehenden Übereinstimmung in der Sache nicht einen deutlich saubereren Weg aus der gegenwärtigen politischen Krise gewählt? Möglich war dies durch einen Rücktritt des Kanzlers und der Neuwahl eines Nachfolgers – eventuell ja auch in einer anderen politischen Konstellation – oder eben einer Verfassungsänderung, die eine Selbstauflösung des Bundestages ermöglicht. Stattdessen soll mit dem eigentlich unanständigen Anliegen an den Bundespräsidenten wieder einmal getrickst werden. Ob es ein drittes Mal gut geht, wird sich zeigen.

Gastkommentare entsprechen nicht immer der Ansicht der Herausgeber.

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