Stellungnahme mehrerer Fachgesellschaften

Zur Therapie der funktionellen Erkrankungen des kraniomandibulären Systems

241064-flexible-1900
Heftarchiv Zahnmedizin
Gemeinsame Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft für Funktionsdiagnostik und Therapie (AFDT) in der DGZMK, der Deutschen Gesellschaft für zahnärztliche Prothetik und Werkstoffkunde (DGzPW), der Deutschen Gesellschaft für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie (DGMKG), der Arbeitsgemeinschaft für Kieferchirurgie (AGKi) und der Deutschen Gesellschaft für Kieferorthopädie (DGKFO) in der DGZMK und der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK)

Funktionsstörungen und -erkrankungen des kraniomandibulären Systems können mit den für den menschlichen Bewegungsapparat typischen pathophysiologischen Folgeerscheinungen einhergehen: Diskoordinationen synergistischer und antagonistischer Muskelgruppen, Myalgien, Muskelverspannungen, Myositiden, Myogelosen, Muskelhyper- und -hypotrophien sowie primären Kiefergelenkerkrankungen, Diskusverlagerungen und anderen sekundären pathologischen Veränderungen der Kiefergelenke. Hinsichtlich der Ätiologie liegen oft Störungen der statischen und / oder dynamischen Okklusion oder primäre Erkrankungen der Kiefergelenke vor. Zudem kommen psychische und orthopädische Ursachen beziehungsweise Kofaktoren sowie traumatische Einflüsse als Ursachen in Betracht. Die Grundsätze der stufenweisen Diagnostik von Funktionsstörungen wurden daher in anderen Stellungnahmen der AFDT, der DGZMK und der DGzPW beschrieben. Die Ergebnisse der Diagnostik liegen der Therapie zugrunde.

Grundsätze der Therapie

Eine Therapie ist bei Schmerzsymptomen oder Einschränkungen der Funktion indiziert und erfolgt heute durch zahnmedizinische und medizinische Verfahren [55]. Das Grundprinzip besteht darin, die verschiedenen pathophysiologischen Zustände im Rahmen der Funktionsdiagnostik stufenweise zu erfassen, um auf dieser Grundlage geeignete Therapieverfahren auszuwählen. Neoplastische und ähnliche Erkrankungen sind vor Beginn einer zahnärztlichen Therapie differenzialdiagnostisch abzuklären und gegebenenfalls frühzeitig einer fachspezifischen Weiterbehandlung zuzuführen.

Als zahnärztliche Maßnahmen kommen zunächst die reversible Behandlung mittels konstruierter Okklusionsschienen und anderer Aufbissbehelfe [19, 18] in Betracht. Stellen sich diese als wirksam heraus, können darüber hinaus irreversible Maßnahmen, wie das Einschleifen von Störungen in der Okklusion, kieferorthopädische Korrekturmaßnahmen und/oder die Rekonstruktion von Einzelzähnen, Zahngruppen oder des gesamten Kausystems zur Anwendung kommen [19].

Chirurgische Maßnahmen am Kiefergelenk sind grundsätzlich nur dann indiziert, wenn morphologisch fassbare Gründe für Funktionsstörungen oder Schmerzen vorliegen, die durch eine adäquate und konsequente konservative Therapie [8] nicht zu beseitigen sind [66] oder falls von vorneherein eine konservative Therapie nicht zielführend ist (wie synoviale Chondromatose). Die chirurgische Therapie muss darüber hinaus eine ausreichende Erfolgsaussicht auf Beseitigung der grundlegenden Symptomatik aufweisen [10, 30, 34, 52, 66].

Initiale zahnärztliche Therapie

Okklusionsschienen [18, 19, 59] besitzen aufgrund ihrer Reversibilität ein weites Indikationsspektrum und stellen die zahnärztliche Standardmaßnahme in der Primärtherapie dar [5].

Das Wirkprinzip der Okklusionsschienen [62] basiert je nach Gestaltung auf unterschiedlichen neuromuskulären Mechanismen, wobei sie der Harmonisierung der Zahn-, Muskel- und Kiefergelenkfunktionen, [52, 68, 70] insbesondere aber der Ausschaltung okklusaler Interferenzen und Reduktion parafunktioneller Aktivitäten [63, 70, 13], wie des zentrischen und exzentrischen Bruxismus, dienen. Hierfür werden Äquilibrierungsschienen [5] (Synonym: „Michigan-Schiene“, Stabilisierungsschiene, Relaxationsschiene und Ähnliche) oder vergleichbar wirkende kieferorthopädische Geräte eingesetzt. Der Behandlung mit Äquilibrierungsschienen, meist eingesetzt als Kurzzeitschienen zur Erkennung und Ausschaltung der Ursache von CMD, aber auch als Langzeitschienen bei biopsychosozial bedingten Parafunktionen, wird durch valide Studien ein guter Therapieerfolg bescheinigt [17, 56, 59].

Bei Diskusverlagerungen (anterior-medial mit und ohne Reposition) beziehungsweise Struktur- und Stellungsänderungen in den Kiefergelenken dienen Positionierungsschienen (auch Repositionierungsschienen, (Synonyma: Protrusiv- oder Farrar-Schiene [16]) beziehungsweise Dekompressionsschiene, (Synonym: Distraktionsschiene) [18, 59]) oder ähnlich wirkende kieferorthopädische Geräte der Wiederherstellung einer zentrischen Kondylenposition und damit einer physiologischen Kondylus-Diskus- Fossa-Relation. Sie werden als Dauerschienen bis zur endgültigen Rekonstruktion des Gebisszustandes eingesetzt. Da im Vergleich mit Äquilibrierungsschienen eine höhere Invasivität resultiert, ist eine besonders sorgfältige Diagnostik und Indikationsstellung für diese Therapie erforderlich, da sonst mit therapeutisch bedingten dysfunktionellen Veränderungen gerechnet werden muss [19, 35, 36, 61, 59].

Die genannten Okklusionsschienen haben sich entsprechend der Indikationsstellung klinisch bewährt und sind durch wissenschaftliche Untersuchungen anerkannt. Auf Grund der funktionellen Zusammenhänge zwischen Kauorgan und Wirbelsäule werden auch Fernwirkungen in der Behandlung mit Hilfe von Okklusionsschienen diskutiert. Derartige Zusammenhänge sind vielfach beschrieben; entsprechende therapeutische Effekte sind hingegen nur in Fallbeschreibungen wissenschaftlich belegt.

Andere Aufbissbehelfe, wie der Interzeptor, konfektionierte Aufbissbehelfe und weichbleibende Schienen können kurzfristig zur tonusmindernden Therapie der Kaumuskulatur und zur Entkoppelung der Zahnreihen eingesetzt werden. Weil sie nicht individuell angepasst werden, ermöglichen sie nur im akuten Stadium eine unmittelbare Einflussnahme [19].

Interdisziplinäre Maßnahmen

Eine medikamentöse Therapie kann einen wesentlichen Bestandteil der Therapie darstellen [12, 3, 55, 77], ist in den meisten Fällen aber nur Teil eines Therapie-Gesamtkonzeptes. Da eine Behandlung mit Medikamenten nicht ohne Risiko ist, sollte der verordnende Therapeut über ein profundes Wissen hinsichtlich des / der entsprechenden Wirkstoffe/s verfügen, bevor ein Medikament verordnet wird [4]. Indikationsgebiete sind Arthropathien, Myopathien, Neuropathien [37, 44, 45, 55, 60, 71, 75], Entzündungen, chronische Schmerzen [55, 57] und damit sehr häufig verbundene Schlafstörungen [12, 37, 55, 71]. Nach Wirkprinzip unterschieden, können Analgetika [11, 12, 20, 55], nonsteroidale Antirheumatika (systemisch [11, 12, 14, 72] und topisch [48] zum Beispiel Ibuprofen, Diclofenac), Muskelrelaxantien [11, 12, 55, 71, 74] (zum Beispiel Tetrazepam, Tolperison) und in besonderen Fällen trizyklische Antidepressiva [11, 12, 37, 41, 57, 64], bestimmte Antikonvulsiva [45], Corticoide [11, 12, 55] sowie schlaffördernde Medikamente und Benzodiazepine [11, 12, 55, 71] möglichst gezielt nach Erkrankungssymptomen zum Einsatz kommen. Aus wissenschaftlichen und ethischen Gründen sollten, wann immer möglich, Medikamente verwendet werden, deren Wirkprinzip bekannt und deren Wirkung wissenschaftlich nachgewiesen sind.

Unter den medizinischen Maßnahmen besitzen in der symptomatischen, aber auch in der kausalen Therapie physikalisch-medizinische Methoden eine große Bedeutung.

Die Prinzipien der Behandlung des Bewegungsapparates sind auch für den mandibulo- maxillären Bereich gültig. Zu den physikalisch- medizinischen Methoden gehören Thermo- beziehungsweise Kryotherapie in Form der konventionellen Anwendung von Wärme oder Kälte, aber auch von Rotlicht oder Mikrowelle sowie Ultraschall. Hinzu kommen Massagen und andere physiotherapeutische Maßnahmen (wie Manualtherapie) mit Wirkung auf die Muskulatur sowie die Kiefergelenke, einschließlich osteopathischer Techniken und isometrischer Spannungs- und isotonischer Bewegungsübungen. In Form eines häuslichen Übungsprogramms ermöglichen diese Übungen die Fortführung der Therapie über die einzelnen Behandlungstermine hinaus [1, 6].

Da physikalisch-medizinische Maßnahmen in der Regel symptomatisch wirken und damit auch der raschen Schmerzbeseitigung dienen, sollte ihr Einsatz besonders in der Initialtherapie, aber auch bei chronifizierten Verläufen in Erwägung gezogen werden. Ebenso wie verschiedene physiotherapeutische Methoden können die physikalischmedizinischen Maßnahmen dabei hauptsächlich bei akuten Muskel- und Kiefergelenkbeschwerden sowie bei chronischen Muskelschmerzen eingesetzt werden. Sie können, wenn Befunde wie Parafunktionen, Habits beziehungsweise eine Masseterhypertrophie oder eine Kompression eines oder beider Kiefergelenke vorliegen, auch zur Vorbehandlung des orofazialen Systems herangezogen werden, wenn eine kieferorthopädische Behandlung, eine okklusale Restauration oder eine Rekonstruktion mittels Zahnersatz erforderlich sind [19]. Voraussetzungen hierfür sind eine genaue Indikationsstellung, eine sachgerechte Instruktion und eine sorgfältige Durchführung am Patienten sowie die inhaltliche Abstimmung mit dem behandelnden Zahnarzt.

Das Vorliegen einer psychischen Komorbidität (wie Depression, somatoforme Schmerzstörung, Persönlichkeitsstörung) beziehungsweise einer akuten oder chronischen psychosozialen Belastungssituation zum Zeitpunkt der Erstmanifestation der Beschwerden beziehungsweise Exazerbation sollte besonders bei Patienten mit chronischen und langen, therapieresistenten Verläufen abgeklärt werden.

Ein breites Spektrum an psychotherapeutischen Maßnahmen (psychodynamische oder Verhaltenstherapie, Biofeedback, progressive Muskelrelaxation, Yoga, autogenes Training und Ähnliche), die jeweils bei einer nicht unerheblichen Untergruppe individuell differenziell indiziert sind, sollte in der Kooperation mit einem Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie beziehungsweise Psychiatrie und Psychotherapie oder einem einschlägig erfahrenen Psychologen vermittelt werden können.

Auch andere Therapieverfahren, wie Akupunktur oder Akupressur, können gegebenenfalls herangezogen werden, um Erfolge in der Normalisierung der Muskelfunktion beziehungsweise der Reduktion myogen verursachter Schmerzen zu erreichen. In gleicher Weise wurde nach der Anwendung der transkutanen elektrischen Nervenstimulation (TENS) von einer Einflussnahme berichtet.

Parafunktionen und Fehlhaltungen sind dem Patienten bewusst zu machen, zum Beispiel durch Aufklärung und Anleitung zur Selbstbeobachtung. Der Verdacht auf psychoreaktive („stressbedingte“) Teilursachen einer chronischen Funktions- beziehungsweise Schmerzstörung sollte mit dem Patienten besprochen werden. Gerade in der Phase der diagnostischen Abklärung sollte die Zusammenarbeit mit einem psychosomatisch beziehungsweise speziell psychologisch qualifizierten Kollegen erfolgen. Additive Behandlungen, wie Physiotherapie, Osteopathie, Biofeedback oder Entspannungskurse, können ergänzend, aber auch kausal eingesetzt werden, um funktionelle Symptome an den Zähnen, der Muskulatur und den Kiefergelenken zu behandeln [19].

Der interdisziplinäre Einsatz von zahnmedizinischen und medizinischen Maßnahmen zur Behandlung von Funktionsstörungen und -erkrankungen des kraniomandibulären Systems ist heute unumstritten. Sowohl okklusale als auch physikalisch-medizinische Maßnahmen sind damit fester Bestandteil der Funktionstherapie, deren erfolgreicher Einsatz in zahlreichen wissenschaftlichen Untersuchungen nachgewiesen wurde [1].

Weiterführende Maßnahmen

Irreversible subtraktive Maßnahmen (systematisches Einschleifen der natürlichen Zähne) sind in der Regel nur indiziert, wenn durch eine vorangehende Funktionsanalyse und eine darauf beruhende reversible Initialtherapie mittels Okklusionsschienen im Sinne einer Diagnosis ex juvantibus nachgewiesen ist, dass die Okklusion als äthiologischer Faktor [2, 56] wirkt und ein Okklusionsausgleich zur Besserung des Beschwerdebildes beziehungsweise der Befundlage beiträgt. Das gleiche gilt für irreversible kieferorthopädische und rekonstruktive Maßnahmen, insbesondere wenn deren Indikation ausschließlich unter funktionstherapeutischen Aspekten gestellt wird. Hierzu zählen festsitzende Rekonstruktionen der Okklusion (insbesondere Teilkronen und Kronen sowie Brücken) sowie herausnehmbare Rekonstruktionen der Okklusion (Langzeitschiene auf Modellgussbasis oder Ähnliche). Als weitere Alternative bietet sich das adhäsive Befestigen okklusaler Restaurationen auf bestehenden Restaurationen oder natürlichen Zähnen an.

Jeder definitiven Rekonstruktion sollte dabei eine ausreichende Phase der okklusalen Erprobung und Feinjustierung vorgeschaltet sein, die in der Regel durch Langzeitprovisorien zu erzielen ist. Vor Beginn einer definitiven Therapie sollte ein beschwerdefreies Intervall von etwa einem halben Jahr beziehungsweise eine deutliche Besserung des Beschwerdebildes vorliegen.

Chirurgische Maßnahmen

Die Aussicht auf Beseitigung funktionsabhängiger arthrogener Beschwerden ist für chirurgische Eingriffe am Kiefergelenk umso besser, je klarer die Symptomatik auf das Gelenk lokalisiert ist. Überlagernde muskulär-funktionelle Komponenten des Beschwerdebildes müssen daher vor chirurgischen Eingriffen soweit möglich ausgeschaltet werden [7, 66]. Anderenfalls sinkt die Erfolgschance invasiver Maßnahmen. Eine Indikation zur chirurgischen Therapie kann gegeben sein zum Beispiel bei Osteoarthritis [10] sowie bei Form- und Lageveränderungen des Discus articularis [15, 27, 28, 34, 76], Hypermobilitätsstörungen (Alternative: EMG-gesteuerte Injektion von Botulinumtoxin in den M. pterygoideus lateralis) [9, 72], Ankylose [21, 46], Mitbeteiligung des Gelenks bei chronisch rheumatischer Arthritis, Psoriasis arthropathica und Spondylarthritis ankylopoetica [65, 66], Entwicklungsstörungen (zum Beispiel kondyläre Hyperplasie, Agenesie) [3, 67], Tumoren und seltenen Erkrankungen (wie synoviale Chondromatose) [40]. Das chirurgische Spektrum reicht dabei von minimal invasiven Eingriffen (Arthrozentese [54, 78], Arthroskopie [24, 28, 41, 49, 50, 54]) bis hin zur Arthrotomie [27, 53, 66], wobei sich eine Stufenleiter der Therapie bewährt hat. Eine Arthrotomie sollte in der Regel erst nach adäquater Verlaufskontrolle nach erfolgloser minimalinvasiver Therapie (je nach Indikation zwischen drei und 18 Monaten) durchgeführt werden [66].

Mit Ausnahme restriktiver Verfahren und Interpositionsplastiken ist eine intensive frühfunktionelle postoperative Übungstherapie nach funktionellen Eingriffen am Gelenk obligat. Die aktive und passive Übungstherapie [7] beugt narbigen Limitationen der Unterkiefermobilität vor und ist somit wesentlicher Faktor für den Therapieerfolg [66, 69].

Die Vielzahl der in der Behandlung kraniomandibulärer Dysfunktionen anwendbaren therapeutischen Mittel entspricht dabei der Vielgestalt der klinischen Verlaufsformen. Dies ermöglicht eine individuelle Auswahl der jeweils geeigneten therapeutischen Maßnahmen.

M. Oliver Ahlers,Wolfgang B. Freesmeyer, BerlinMarkus Fussnegger,Gernod Göz, TübingenHolger A. Jakstat,Bernd Koeck, BonnAndreas Neff, MünchenPeter Ottl, FreiburgThomas Reiber, Leipzig(alphabetisch geordnet)

Mit freundlicher Genehmigung aus dzz 10/05

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