Gastkommentar

Labil, nicht stabil

Politik und Ökonomen sehen endlich den lang erhofften Konjunkturaufschwung. Mit Prognosen wird Optimismus verbreitet. Dieser soll ansteckend wirken.

Walter Kannengießer
Sozialpolitik-Journalist

Inzwischen ist die Stimmung besser als die Lage; zuvor war es meistens umgekehrt. Der Stimmungswechsel kommt überraschend. Die wirtschaftlichen Fakten sind nämlich nicht so, dass man mit einem nachhaltigen Wachstumsschub rechnen könnte. Kennzeichnend für die Vorhersagen der Konjunktur-Prognostiker ist der ständige Wechsel ihrer Einschätzungen. Sie suchen den Trend, pressen ihn in ein Zahlenkorsett, um wenig später zu zeigen, warum es anders gekommen ist und wie es nun weitergehen könnte.

Typisch für die Wechselbäder des letzten Jahres war, dass jedem guten Quartal eine enttäuschende Entwicklung folgte. Das gilt auch für das letzte Quartal des abgelaufenen Jahres. Entgegen der Erwartungen der Ökonomen hat es keine Beschleunigung des Wachstums gebracht. Unter dem Strich hat es 2005 damit nur einen Anstieg des Brutto-Inlands-Produkts um knapp ein Prozent gegeben. Da lässt sich nicht vom Aufschwung reden. Die wirtschaftliche Entwicklung sei „labil und nicht stabil“, sagte dazu der Präsident des Statistischen Bundesamtes, Johann Hahlen. Recht hat er.

Doch gibt es eine Reihe von Fakten, die eher zuversichtlich stimmen. Die Industrie meldet deutlich steigende Auftrags- und Produktionsziffern. Die für die Konjunktur so wichtigen Investitionen nehmen seit Monaten zu. Die Stimmung in der Wirtschaft hat sich deutlich gebessert, bei den großen Unternehmen wohl mehr als bei der Masse der mittelständischen Betriebe. Vom Auftragsplus profitiert vor allem die exportierende Industrie; aber auch im Inland wird mehr investiert. Die Lage der Bauwirtschaft scheint sich zu stabilisieren.

Am Arbeitsmarkt tut sich wenig. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten hat zuletzt nicht weiter abgenommen, gegenüber dem Vorjahr ist sie jedoch noch einmal um fast 200 000 gesunken. Die registrierte Arbeitslosigkeit (4,65 Millionen am Jahresende) liegt weiterhin deutlich über elf Prozent. Daran dürfte sich vorerst nichts ändern.

Negativ schlägt zu Buch, dass die Verbrauchsausgaben der Bürger nicht steigen. Die Nachfrage stagniert, der Einzelhandel hat Grund zum Klagen. Die Verbraucherpreise sind 2005 um gut zwei Prozent gestiegen, die Einkommen der Arbeitnehmer sind gesunken. Wie bei den Rentnern gibt es ein reales Minus. Mit steigendem Verbrauch kann erst gerechnet werden, wenn die Zahl der Erwerbstätigen deutlich steigt. Mit Streiks erkämpfte Lohnerhöhungen gingen nur in die Preise ein und kosteten Arbeitsplätze.

Die Ökonomen sind sich einig, dass 2006 besser wird als 2005. Dafür spricht derzeit viel. Die Regierung bemüht sich mit einigem Erfolg, die Stimmungslage der Bürger aufzuhellen; schließlich stehen Landtagswahlen bevor. Noch werden Milliarden verteilt, die später eingesammelt werden müssen. Die Stichworte heißen Konsolidierung, Arbeitsmarkt, Pflegeversicherung, Gesundheitsreform, Steuerreform, Rentenfinanzen – lauter ungelöste Probleme. Hinzu kommen die Weltprobleme: Iran, Palästina, Energiepreise, Leistungsbilanzdefizit der USA. Die Regierung hat daher gut daran getan, ihren Optimismus auf 2006 und eine Wachstumsrate von 1,4 Prozent des Brutto-Inlands-Produkts zu begrenzen. Das könnte sich als eine realistische Größe erweisen, zumal der Verbrauch in diesem Jahr von der nachfolgenden Mehrwertsteuererhöhung profitieren dürfte.

Wenig spricht jedoch dafür, dass 2006 ein Wachstumsschub entsteht, der die Konjunktur in den folgenden Jahren über die tiefen Einschnitte in die Lebensbedingungen aller Bürger hinwegtragen und damit auch die sozialen Probleme entschärfen könnte. Für die Sünden der Vergangenheit werden wir alle mit Wohlstandsverlusten zu bezahlen haben.

Gastkommentare entsprechen nicht immer der Ansicht der Herausgeber.

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