Europäischer Arzneimittelmarkt

Hohe Erwartungen

Die europäische Pharmaindustrie war einst Vorreiter in der Forschung und Entwicklung neuer Arzneimittel. Inzwischen haben die USA und Asien auf diesem Gebiet Europa den Rang abgelaufen. Dennoch hat die Europäische Union die Hoffnung nicht aufgegeben, noch innerhalb dieses Jahrzehnts verlorenen Boden wieder gutmachen zu können.

Europa galt einst als die Apotheke der Welt. Doch die goldenen Zeiten sind vorbei. Längst gibt auf dem Weltmarkt nicht mehr die europäische Pharmaindustrie den Ton bei der Entwicklung und Vermarktung neuer Medikamente an. Inzwischen stammt selbst der Großteil der Arzneimittelinnovationen, die auf dem europäischen Markt landen, aus amerikanischen Labors. Ernst zu nehmende Konkurrenz droht den europäischen Unternehmen zudem zusehends aus China, Indien und Singapur.

Die Gründe hierfür sind vor allem die attraktiveren Rahmenbedingung außerhalb Europas: In Asien und den USA ist die Forschung weniger stark reglementiert. Somit rentieren sich Investitionen in die Entwicklung neuer Medikamente dort wesentlich mehr.

Die Folge: In den vergangenen 15 Jahren haben Pharmaunternehmen in den USA ihre Investitionen in die Forschung und Entwicklung (F&E) neuer Arzneimittel um das 4,6-Fache gesteigert. In Europa hingegen gingen die Investitionen lediglich um das 2,8-Fache in die Höhe. Die Marktbilanz fiel entsprechend aus: Im Jahr 2004 stammten zwei Drittel der weltweit meistverkauften Medikamente aus den USA.

So kann es nach Ansicht von Günter Verheugen, Industriekommissar bei der Europäischen Kommission, nicht weitergehen. Denn obwohl die europäische Pharmaindustrie zusehends an Boden verliert, ist sie mit knapp 600 000 Beschäftigten und einem Umsatz von rund 160 Milliarden Euro immer noch ein wichtiger Motor für die Wirtschaftskraft der Europäischen Union (EU) (siehe Tabelle). Mehr noch: Die Pharmaindustrie ist eine der Schlüsselbranchen, mit der die EU ihr Ziel, bis 2010 zur wettbewerbsfähigsten und wirtschaftsstärksten Region der Welt zu werden, erreichen will.

Brüssel bemüht sich daher nach Kräften, den Forschungsstandort Europa für die Pharmaindustrie wieder attraktiv zu machen. Ab dem kommenden Jahr will die Kommission beispielsweise bei der Finanzierung von Forschungsvorhaben im Arzneimittelbereich völlig neue Wege gehen. Das milliardenschwere EU-Programm mit dem Kürzel IMI (Initiative Innovative Arzneimittel) soll die Branche dazu anhalten, in der Forschung enger zusammenzuarbeiten, damit Innovationen künftig schneller auf den europäischen Markt gelangen können. Dafür will die Kommission mit dem Europäischen Verband der Pharmaindustrie EFPIA eine öffentlich-private Partnerschaft eingehen. Bis 2013 sollen zwei Milliarden Euro in das Vorhaben fließen. Eine Milliarde Euro steuert die EU aus ihrem Forschungshaushalt bei. Diese Summe soll vor allem kleinen und mittleren Unternehmen sowie Hochschulen, die in der Pharmaforschung tätig sind, zugute kommen. Eine weitere Milliarde stellt die EFPIA für die forschende Großindustrie zur Verfügung.

Trotz IMI gehört die Vorstellung, die EU könne bis 2010 den Forschungsrückstand Europas gegenüber den USA und Japan aufholen, allerdings wohl eher ins Reich der Träume. Denn um die Lücke zu schließen, müssten die Forschungsaufwendungen aller Branchen innerhalb der nächsten 30 Monate auf drei Prozent des Volkseinkommens steigen. Derzeit jedoch investieren die EU-Länder im Schnitt nur knapp zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts in F&E – bei jährlichen Steigerungsraten im Promillebereich.

Die Mittel der gängigen Arzneimittelpolitik – Protektionismus, staatliche Lenkung und national unterschiedliche Preisregulierungsmechanismen – die vor allem verhindern sollen, dass die Arzneimittelausgaben weiter steigen, sind nach Ansicht der Kommission allerdings ungeeignet, um die strukturellen Probleme auf dem europäischen Pharmamarkt auf Dauer in den Griff zu bekommen. Verheugen schwebt daher ein einheitlicher Binnenmarkt für Arzneimittel vor.

Diese Vision ist jedoch nicht neu. Vielmehr reichen ihre Wurzeln mehr als 13 Jahre zurück. Vorbereiter der Entwicklung war ebenfalls ein Deutscher: der ehemalige Bundeswirtschaftsminister Martin Bangemann. Bangemann berief Anfang der 90er-Jahre als Industriekommissar der EU erstmals einen Runden Tisch in Brüssel ein, der Ideen für eine neue europäische Pharmapolitik liefern sollte. Sein Nachfolger, der Finne Erkii Liikanen setzte die Runde im Frühjahr 2001 zusammen mit dem irischen Gesundheitskommissar David Byrne in Form der sogenannten G10-Arzneimittelgruppe fort. Die Bemühungen der Gruppe, die sich aus Vertretern der Mitgliedstaaten, der Industrie, der gesetzlichen Krankenkassen und von Patientenorganisationen zusammensetzte, gipfelten im Mai 2002 in vierzehn Empfehlungen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der pharmazeutischen Industrie in Europa.

Arzneimittelforum

Darauf aufbauend hob die Europäische Kommission 2005 das Arzneimittelforum aus der Taufe. Auch die neue Plattform sollte Vertretern der Brüsseler Institutionen, der Industrie sowie von Patientenorganisationen, Ärzteverbänden und der Krankenkassen die Möglichkeit geben, gemeinsam Lösungsansätze für die Probleme des pharmazeutischen Sektors zu entwickeln. Hervorgebracht haben die drei Ideenschmieden bislang allerdings recht wenig.

„Nüchtern betrachtet, ist man von Zeit zu Zeit versucht festzustellen, dass das einzig konkrete Ergebnis aller Diskussionen eine Vielzahl von Publikationen und Statistiken ist, welche den Verlust der Wettbewerbsfähigkeit Europas minutiös dokumentieren“, fasste der Präsident der EFPIA, Dr. Franz Humer, im März vergangenen Jahres auf einem internationalen Forum im österreichischen Alpbach das Ergebnis der jahrelangen Bemühungen zusammen.

Nach wie vor ungelöst ist zum Beispiel das Problem des innereuropäischen Parallelhandels von Arzneimitteln. Parallelhändler nutzen die niedrigen Arzneimittelpreise eines EU-Landes, um Medikamente dort günstig einzukaufen und anschließend in einem anderen hochpreisigeren Land teurer wieder zu verkaufen. Über 140 Millionen Arzneimittelpackungen wandern so jedes Jahr durch die EU. Nach Angaben der Pharmahersteller setzen die Zwischenhändler mit dem Parallelhandel jährlich etwa fünf Milliarden Euro um.

Der Trend zu Parallelimporten kam der EUKommission ursprünglich sogar sehr gelegen. Denn die Brüsseler Beamten waren davon ausgegangen, dass der Preiswettbewerb dazu führt, die Kosten für verschreibungspflichtige Medikamente in der EU zu senken und den Patienten so einen schnelleren Zugang zu Innovationen zu ermöglichen.

Diese Rechnung ging Recherchen der London School of Economics zufolge allerdings nicht auf. Das Wirtschaftsinstitut ermittelte, dass sich durch Parallelimporte maximal zwei Prozent der Arzneimittelausgaben einsparen lassen. Patienten und Krankenkassen würden somit vom Parallelhandel kaum profitieren. Gewinner des Parallelhandels seien vielmehr ausschließlich die Zwischenhändler.

Wettbewerb mit Generika

Inzwischen konzentriert sich die Kommission daher weniger darauf, den Parallelhandel zu erleichtern. Stattdessen fördert die Behörde lieber den Wettbewerb mit Generika. Derzeit setzen Generikahersteller in der EU rund sieben Milliarden Euro jährlich um. Das entspricht ungefähr einem Zehntel des gesamten EU-Arzneimittelmarkts.

Der mächtigen Lobby der forschenden Pharmahersteller ist die tatkräftige Unterstützung der Hersteller von Nachahmerprodukten durch die EU natürlich ein Dorn im Auge. Sie versucht daher unter anderem mit der Drohung, die Ausweitung des Generikamarktes schwäche den Forschungsstandort Europa, Druck auf die Kommission auszuüben. Die Entwicklung von Generika dürfe die langfristige Tragfähigkeit pharmazeutischer Forschung nicht aufs Spiel setzen, warnte die EFPIA. Sonst werde die Fähigkeit der EU, eigene innovative Produkte zu erzeugen, weiter untergraben, so EFPIA-Direktor Brian Ager anlässlich der geplanten Reform der EU-Arzneimittelvorschriften.

Belastungen ist der EU-Arzneimittelmarkt aber auch durch den zunehmenden Handel mit Arzneimittelfälschungen ausgesetzt. Zwar machen die mitunter durchaus gesundheitsgefährdenden originalgetreuen Arzneimittelkopien bislang nur etwa ein Prozent des europäischen Medikamentenmarktes aus. In den letzten fünf Jahren wurden in Europa knapp 200 Medikamentenfälschungen bekannt. Der Geschäftsführer des internationalen Beratungsunternehmens Booz-Allen-Hamilton, Peter Behner, schätzt jedoch, dass sich die Zahl der gefälschten Arzneimittel in Europa bis 2010 verfünffachen wird.

Hauptvertriebsweg ist das Internet. Besonders beliebt bei Fälschern sind Life-Style- Medikamente zur Potenzsteigerung, Stimmungsaufheller, Arzneimittel, die Wachstumshormone enthalten, aber auch Schlafmittel oder das Grippemedikament Tamiflu.

Vorerst allerdings hält die EU nur ein wachsames Auge auf die Entwicklung, in der Hoffnung, dass engmaschige Zollkontrollen ausreichen, ein Ausufern des Handels mit gefälschten Produkten zu verhindern.

Sehr viel weiter gediehen sind dagegen Pläne der EU-Kommission, die Arzneimittelsicherheit von Originalpräparaten nach ihrer Zulassung zu verbessern. Bereits im kommenden Jahr will Verheugen einen Vorschlag zur Reform des europäischen Arzneimittelüberwachungssystems vorlegen.

Die geplanten Änderungen zielen unter anderem darauf ab, die Meldepflichten für unerwünschte Arzneimittelwirkungen zu vereinfachen. Auch will die Kommission künftig Studien zur Unbedenklichkeit von Arzneimitteln finanzieren, Patientengruppen sowie ärztliche und zahnärztliche Verbände stärker in die Arzneimittelüberwachung einbinden und die Überwachungsverfahren insgesamt transparenter machen. Die derzeit geltenden Vorschriften seien veraltet, zum Teil widersprüchlich und kompliziert und würden zudem in den einzelnen EU-Staaten uneinheitlich umgesetzt, kommentierte Verheugen das Vorhaben.

Beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte in Bonn stoßen die geplanten Änderungen auf volle Zustimmung. Auch Professor Heiner Berthold, Geschäftsführer der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft, ist der Ansicht, dass sich die Arzneimittelsicherheit weiter verbessern lässt.

Auch will die Kommission den Zugang zu Informationen über Arzneimittel künftig dadurch verbessern, dass es der Pharmaindustrie erlaubt sein soll, die Öffentlichkeit über neue, verschreibungspflichtige Medikamente zum Beispiel über Internet zu unterrichten. Noch verbietet dies eine europäische Richtlinie.

Bislang stellt der Beipackzettel das einzige Informationsmedium für verschreibungspflichtige Medikamente dar. Der sei aber in der Regel für Patienten schwer verständlich und beantworte zudem die wichtigsten Fragen oft nicht, kritisiert Dr. Jorgo Chatzimarkakis. Der liberale Europaabgeordnete ist auch Mitglied des von der Kommission eingerichteten Arzneimittelforums. Das schlägt vor, im Zuge der geplanten Änderung der EU-Richtlinie beispielsweise eine zentrale europäische Datenbank mit weitreichenden Informationen über innovative Arzneimittel einzurichten, auf die sowohl Ärzte als auch Patienten Zugriff haben sollten. Hauptzulieferer der Informationen soll die Pharmaindustrie sein.

Die Gefahr, dass die Unternehmen diese Möglichkeit dazu nutzen könnten, gezielt Werbung für ihre Produkte zu machen, wie dies in den USA nach der Lockerung der Informationsvorschriften geschehen ist, sieht Chatzimarkakis nicht. Mit klar formulierten Leitlinien und der Möglichkeit, Verstöße zu sanktionieren, ließe sich ein möglicher Missbrauch verhindern, meint der liberale Abgeordnete. Die EU-Kommission will bereits im kommenden Jahr einen entsprechenden Vorschlag für die Revision der EU-Richtlinie vorlegen.

Eine Regelung der unterschiedlichen nationalen Preisfestsetzungs- und Erstattungsverfahren für Arzneimittel steht ebenfalls auf der Agenda für 2008.

Petra SpielbergRue Belliard 197/b41040 Brüssel

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