Onlinewelt Second Life

Leben reloaded

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Das Onlinespiel Second Life polarisiert. Fans sehen in dem 3D-Chat unbegrenzte Möglichkeiten der Selbstverwirklichung und Kommunikation. Pure Illusion, sagen Skeptiker. Kritiker kanzeln das Spiel als rechtsfreien Raum mit kriminellen Tendenzen ab und die Unternehmen freuen sich über einen noch unerschlossenen Markt. Bei all der Aufregung um Second Life stellt sich die Frage: Wieviel wirkliches Leben steckt im virtuellen?

Where do you want to go today? In den 90er-Jahren versprach dieser Werbeslogan von Microsoft Computernutzern auf der ganzen Welt neue Freiheiten mithilfe moderner Technologien und des Internets. Das Spiel Second Life stammt zwar nicht aus dem Stall von Bill Gates, baut aber auf das gleiche Prinzip – und erweitert es um einen wichtigen Aspekt: How do you want to look today?

Avatar rising

Rote Haare oder blonde? Lang oder kurz? Großer Busen oder Sixpack? Das sind nur einige der Optionen, die neuregistrierte Second Life-Spieler, kurz Newbies genannt, treffen können – und müssen. Denn in die neue Welt wird man als Standardversion geboren und trägt Einheitskleidung: Jeans, TShirt, Flip-Flops. Ihren Avatar, wie ihre virtuelle Identität im Cyberspace heißt, kreieren die Spieler über eine Menüleiste, die unzählige Möglichkeiten bietet. Alles ist wählbar: Geschlecht, Größe, Hautfarbe bis hin zu Details wie Augenabstand und Kinnform. Wer will, kann auch in Tiergestalt durchs Second Life streifen. Oder ständig Form und Geschlecht wechseln. Für viele bedeutet das den Reiz am Second Life: Einfach eine Wunschversion des Ichs programmieren und hochladen. Idealisten verbinden damit außerdem die Sehnsucht nach einer neuen, besseren, schrankenlosen Form des Miteinanders.

Seit der Internetpionier Philip Rosedale das Spiel 2003 auf den Markt brachte, wurden nach Angaben seiner Firma Linden Lab, San Francisco, 4 808 603 Avatare registriert. Dass dahinter ebenso viele Spieler stecken, ist zu bezweifeln. Mehrfachanmeldungen und Karteileichen drücken die Zahl. Trotzdem: Mit etwa 1,6 Millionen aktiven Teilnehmern in den letzten zwei Monaten ist doch einiges los im Cyberspace. Die meisten Mitspieler stammen aus den USA (32 Prozent), Frankreich (13 Prozent) und Deutschland (10 Prozent).

Games without frontiers

Vor einem Jahr herrschten noch lauschige Verhältnisse in der nur 100 000 Mitglieder zählenden Second-Life-Community. Damit ist es seit dem Run auf die Cyberwelt vorbei. Viele Ureinwohner fühlen sich durch die Schwemme der Neuankömmlinge gestört und fangen an, ihre Grundstücke durch unsichtbare Zäune, die bis in den Himmel reichen, abzugrenzen. Vorbeischauen und hallo sagen ist nicht. Wer es versucht, läuft gegen eine unsichtbare Wand. Soviel zum Thema schrankenlose Gesellschaft im Netz. Dabei war es ürsprünglich die direkte Kommunikation über nationale Grenzen hinweg, die die Spieler reizte. Die Multinationalität der Mitglieder bietet dafür die besten Voraussetzungen. Gemeinsame Aktionen lassen sich unproblematisch organisieren. Demonstrationen gegen Rechtsradikale oder das Weltwirtschaftsforum in Davos haben zum Beispiel schon stattgefunden. Neben Universitäten, die Vorlesungen in den Cyberspace verlegen, und Unternehmen, die dort Arbeitstreffen abhalten, nutzen auch Staaten die Möglichkeiten, die der 3D-Chat bietet. Schweden etwa eröffnete als erstes Land eine Botschaft im Second Life. Die EU will nachziehen und plant eine Dependance. Generell zeigt sich, dass immer mehr Politiker die virtuelle Plattform nutzen, um ihre Botschaften wider die Politikmüdigkeit bürgernah unters Volk zu bringen – ganz nach dem Motto vom Berg und dem Propheten. So geschehen bei USSenatoren und französischen Präsidentschaftsaspiranten.

Aber auch im Second Life kann es ihnen passieren, vor leeren Reihen aufzutreten. Denn zum einen bestimmt hier, wie anderswo, das Angebot die Freizeitgestaltung. Seminarräume und Botschaften konkurrieren mit Diskos, Konzerten und – ja, auch die gibts – Bordellen. Zum anderen begrenzen technische Limits die Möglichkeiten. Zurzeit können sich maximal 50 Mitspieler an einem Ort aufhalten. Die Beschränkung der Teilnehmerzahl ist notwendig, weil die Bewegung jedes Avatars Rechenleistung erfordert. Für mehr als 50 auf einem Fleck reicht die Kapazität der Server nicht aus.

Money, money, money

Leute kennenzulernen ist das ursprüngliche Ziel des Onlinespiels. Bekanntschaften zu machen, scheint im Second Life aber nicht immer ganz einfach zu sein. Die zahlreichen Erfahrungsberichte, die aktuell in Zeitungen und Internet kursieren, kommen oft zu dem Schluss, dass dabei vor allen Dingen eins zählt: gutes Aussehen. Und um sich das zuzulegen, braucht man Geld. Second Life verfügt über eine eigene Währung, den Linden-Dollar. Der Clou: Das Spielgeld kann in reales Geld umgewechselt werden. Für einen US-Dollar gibt es derzeit 270 Linden-Dollars. Über den genauen Kurs gibt der LindeX, der Dax im Second Life, Auskunft.

Woher nun nehmen, wenn nicht stehlen? Manche Spieler lösen dieses Problem, indem sie eine Premiummitgliedschaft abschließen. Für die ansonsten kostenfreie Mitgliedschaft zahlen sie 9,95 US-Dollar im Monat und bekommen dafür ein virtuelles Taschengeld. Etwa 50 000 Teilnehmer haben so einen Vertrag. Die anderen müssen Wege finden, Geld zu verdienen. Zum Beispiel, indem sie als lebende Litfaßsäule Werbung für ein Produkt machen. In punkto Klamotten können sich Newbies allerdings auch in Gratiswarenhäusern bedienen. Die Einheitsklamotten loszuwerden, ist wichtig, denn bei den anderen Avataren kommen die nicht besonders gut an. Grundstücke und Häuser gibt es im Second Life nicht umsonst. Der Immobilienmarkt erwies sich für geschäftstüchtige Avatare zur Goldgrube.

Big Business

Der Verkauf von Grundstücken im Second Life bringt den Cybermaklern auch im echten Leben Geld ein. Unter Umständen sogar ein Vermögen, wie das Beispiel der Deutsch-Chinesin Ailin Gräf alias Anshe Chung beweist, die der Immobilienhandel nach eigenen Angaben zur Millionärin gemacht hat. Eine echte Traumkarriere, arbeitete sie als Newbie doch zunächst als Cyber-Prostituierte. Ihren Reichtum muss sie jedoch verteidigen. Momentan steckt sie im Kampf mit den so genannten Griefern, einer Gruppe von Guerillakämpfern, die der Großgrundbesitzerin das Leben schwer machen.

Chung beziehungsweise Gräf verdient ihr Geld außerdem mit dem Bau virtueller Häuser. Nicht nur Privatpersonen fragen bei ihr an, auch Unternehmen lassen ihre 3D-Filialen bei ihr designen. Bereits jetzt beschäftigt sie 50 Grafiker in ihrem Büro, bald sollen es 200 sein. Reale Jobs für künstliche Welten. Das Interesse der Firmen ist enorm. Sie setzen große Hoffnungen in Second Life als Marketingplattform für ihre Produkte. Adidas, Sony und IBM aber auch Radiosender und Zeitungen sind schon vor Ort, andere wollen folgen. Vergebliche Liebesmüh, sagen Analysten. Second Life wirke durch den Medienhype viel attraktiver als es in Wirklichkeit sei. In der Tat ist die Community im Vergleich zu anderen Netzwerken zurzeit noch ein Zwerg. MySpace zum Beispiel hat mehr als 100 Millionen Mitglieder.

The Big Six

Trotzdem: Die Second Life-Welt wächst stetig. Für ein friedliches Miteinander der Spieler soll ein Kanon von Verhaltensregeln sorgen: The Big Six. Dahinter stecken sechs Verbote, unter anderem Intoleranz, Belästigung, Körperverletzung oder der Verrat der wahren Identität eines Mitspielers. Wer sich dieser Vergehen schuldig macht, fliegt. Verstöße können über eine Menüfunktion gemeldet werden. Auch um den Jugendschutz ist die Second Life-Community bemüht. Nicht-jugendfreie Geschäfte dürfen nur an bestimmten Orten, die entsprechend gekennzeichnet sind, eröffnet werden. Kämpfe und Waffen sollen ausschließlich in speziellen „Combat Areas“ stattfinden.

Eine echte Kontrollinstanz gibt es jedoch nicht. Dafür aber eine wachsende Zahl handfester Probleme. Die niederländische Staatsanwaltschaft ermittelt seit kurzem gegen das Angebot virtueller Kinderpornografie. Ein juristisch kniffliger Fall, denn ob es strafbar ist, wenn sich Erwachsene mittels eines kindlichen Avatars zum Sex anbieten, ist nicht klar.

Wieviel echtes Leben steckt nun im Second Life? Wir fassen zusammen: Ein Haufen Menschen, die neue Wege gehen, um andere Menschen kennenzulernen. Der erste Eindruck zählt, gutes Aussehen hilft. Es gibt ein Establishment, Rebellen und die große Masse dazwischen. Einige Mitglieder der Gemeinschaft biegen und brechen die Regeln. Und nicht zu vergessen, die Unternehmen und Geschäftstüchtigen, die das große Geld riechen und ganz vorne mitmischen wollen. Noch Fragen?

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