Die GKV nach der Reform

Wildwuchs Wahltarife

Kaum trat die Reform in Kraft, schaufelten die gesetzlichen Kassen auch schon eine Fülle neuer Angebote auf den Markt, vom Selbstbehalt bis zur Beitragsrückerstattung reicht der Tarifdschungel. Wurden die Wahltarife anfangs noch als Allheilmittel für mehr Wettbewerb und Freiheit gefeiert, bröckelt nun aber so langsam die Fassade. Dahinter wird die Sicht frei auf den eigentlichen Richtungswechsel im System: Alt und Krank zahlen drauf, weil die GKV zunehmend um die Jungen und Gesunden buhlt. Und sich klammheimlich vom Solidarprinzip verabschiedet.

Auf die Bonuscard der AOK Baden-Württemberg erhielt man bis vor kurzem noch Rabatt auf Fast Food und Nasenringe. Und auch Solariumbesuche und Cocktails gab es mit der Karte billiger.

Ein Sonderfall, der seinesgleichen sucht? Sicherlich. Und trotzdem: Wer sucht, der findet. Und stolpert im Dickicht des neuen Tarifdschungels über Burgerrabatte, Billigmedizin und gesponserte Bootstouren. Wo bislang der einheitliche GKV-Leistungskatalog den Wettbewerb intern verdörren ließ, wuchert nämlich plötzlich ein wilder Wald aus Wahltarifen, Selbstbehalten und Boni. Denn mit Start der Gesundheitsreform zum 1. April dürfen – beziehungsweise müssen – die gesetzlichen Krankenkassen Wahltarife anbieten.

GKV auf neuem Kurs

War die Begeisterung bei AOK & Co. zu Beginn groß, macht sich jetzt Skepsis breit. Ähnlich erging es den Patienten. Ungeachtet dessen, ob sie sich davon ein maßgeschneidertes Versicherungspaket versprachen oder einfach nur die Neugier siegte – gemessen an den Anfragen reagierten viele Kunden durchaus positiv auf die neue Vielfalt. Etwa zwei Drittel der GKV-Mitglieder rechnen schließlich laut Forsa damit, dass die Kosten für die Gesundheitsvorsorge weiter steigen; jeder zweite erwartet, dass die GKV künftig nur noch für die medizinische Grundversorgung aufkommt. Gleicht die Gesundheitsreform damit vielleicht zumindest in einer Hinsicht einer Initialzündung? Fest steht: Niemals zuvor beschäftigten sich gesetzlich Versicherte so intensiv mit der Frage, wie sie sich per Police gegen Krankheitsrisiken schützen können. Eine erfreuliche Entwicklung, oder? Endlich kümmern sich die Patienten um ihre Vorsorge, endlich regelt der Wettbewerb den Markt.

Doch hoppla, nicht zu voreilig. Denn ganz so glatt geht die Rechnung nicht auf. Was von Weitem als bunte Pracht daher kommt, entpuppt sich aus der Nähe betrachtet als Kahlschlag der Versorgungslandschaft. Angelegt wird die Säge in erster Linie bei der Privatversicherung. Das hat gravierende Folgen: Die Trennlinie zwischen GKV und PKV verwischt. Stein des Anstoßes sind insbesondere die optionalen Wahltarife, bilden sie doch seit Jahr und Tag das ureigene Geschäft der PKV – Stichwort Zusatzversicherungen.

Die AOK Rheinland/Hamburg machte den Anfang. Sie will Zusatzverträge, wie Zweibettzimmer, Chefarztbehandlung oder Auslandsreisen, ihren Versicherten nun selbst zukommen lassen statt über die PKV. Begründung: „Der Versicherte sucht den umfassenden Schutz aus einer Hand.“

”Die Solidargemeinschaft verliert Mittel. Mittel, die sie den Gesunden schenkt, aber die eigentlich den Kranken zustehen.

Dr. Dr. Jürgen Weitkamp, Präsidentder Bundeszahnärztekammer zu den GKV-Wahltarifen

GKV-Wahltarife dieser Art lehnt der PKVVerband indes folgerichtig ab. „Damit würde der Staat rechtswidrig in einen funktionierenden privat organisierten Markt eingreifen – die Versicherungsunternehmen würden massiv benachteiligt und vom Markt gedrängt“, stellte PKV-Direktor Volker Leienbach klar. Und wies darauf hin, dass die Branche diese Einmischung aus kartellund wettbewerbsrechtlichen Gründen nicht hinnehmen wird. Das sieht FDP-Gesundheitsexperte Daniel Bahr genauso: „Das Ministerium legt es darauf an, der PKV das klassische Geschäft mit Zusatzleistungen wegzunehmen.“

Auch rechtlich steht der AOK-Vorstoß auf wackligen Füßen. Wahltarife und Kostenerstattung hatte das GMG den Gesetzlichen zwar schon 2003 gestattet. Allerdings nur für Leistungen, die bereits im GKV-Katalog enthalten sind. Genau das gilt aber für die berühmte Chefarztbehandlung und die Zweibettzimmer nicht. Erlaubt war den Gesetzlichen ergo nur, die Zusatzangebote der PKV zu vermitteln. Eine klare Entscheidung sollte man meinen. Irrtum. Dem SGB V zum Trotz hatten Bundesversicherungsamt (BVA) und BMG festgestellt, dass die GKV Zweibettzimmer und Chefarztbehandlung über eigene Tarife anbieten darf. Für Union und FDP ein klarer Rechtsbruch.

Bürgerkasse via Hintertür

„Die GKV wildert in fremdem Revier“, verdeutlicht der KZBV-Vorsitzende Dr. Jürgen Fedderwitz die Lage. „Umgekehrt finden Elemente der GKV Eingang in die PKV, Beispiel Basis- und Standardtarif. Wir haben es hier mit einer Angleichung der Systeme zu tun und sind auf dem besten Weg in eine Einheitsversicherung durch die Hintertür.“ Der Ansicht ist auch Prof. Dr. Jörg-Dietrich Hoppe. Der Ärztepräsident sieht in der Entwicklung eine Abkehr vom weiten Verständnis der Therapiefreiheit hin zu staatlicher Lenkung. Über die Wahltarife der Krankenkassen finde eine PKV-isierung der GKV bei gleichzeitiger GKV-isierung der PKV durch den Basistarif statt. Selbst Barmer-Chef Dr. Johannes Vöcking bestätigt diese Einschätzung: Auch wenn zurzeit das Budget für Selektivverträge noch vergleichsweise klein sei, gehe die Tendenz insgesamt weg von kollektivvertraglichen Regelungen zu mehr Einzelverträgen. Genau da liegt der Hase im Pfeffer: Mögen manche Kollegen mit Einzelverträgen liebäugeln – auf lange Sicht führen diese zu einer Vereinzelung der Zahnärzteschaft. Ganz einfach, weil sie die Abhängigkeit von den Kassen verschärfen, und umgekehrt die Vertretung durch den Berufsstand schwächen. Selektivverträge – vielleicht steigert dieser Taschenspielertrick aus dem BMG die Konkurrenz unter den Zahnärzten. Unter Beibehaltung der Budgetierung verkommt der Wettbewerb freilich zu einem Hauen und Stechen mit ungleichen Spießen.

Die freie Arztwahl, nach einer repräsentativen Umfrage des Instituts für Empirische Gesundheitsökonomie (IfEG), für Patienten ein enorm wichtiges Gut, kommt überdies unter die Räder. Juristen haben darüber hinaus grundsätzlich Bedenken, dass die gesetzliche Kassen weit mehr Freiheiten für sich in Anspruch nehmen als es das Gesetz erlaubt. Als Körperschaften öffentlichen Rechts sind diese immerhin in erster Linie Sozialversicherungsträger mit einem klar definierten gesetzlichen Auftrag – und eben kein normales Versicherungsunternehmen, das nach eigenem Gusto schaltet und waltet. Die GKV hat den gesetzlichen Versorgungsauftrag inne, der die Sicherstellung medizinisch notwendiger Gesundheitsleistungen vorsieht. Im Gegenzug erhält sie dafür bestimmte Privilegien, zum Beispiel die Steuerfreiheit.

” Wir haben es hier mit einer Angleichung der Systeme zu tun und sind auf dem besten Weg in eine Einheitsversicherung durch die Hintertür.

KZBV-VorsitzenderDr. Jürgen Fedderwitz

In der jetzigen Situation ist die GKV dagegen klar im Vorteil: Mit dem ihr eigenen Adressmonopol kann sie ihre 70 Millionen Versicherten direkt ansprechen. Und durch ihre Steuervorteile obendrein viel günstigere Zusatzangebote vorlegen als die PKV. Anders als diese dürfen die Gesetzlichen auch für Wahlleistungen keine Rückstellungen bilden, mit anderen Worten, sie leben auch hier weiterhin von der Hand in den Mund. Das Kernproblem der GKV, so der Vorwurf, wird damit auf Bereiche ausgedehnt, die die private Krankenversicherung – mit ihren Rückstellungen – erfolgreich managt.

Dass die Wahltarife in der GKV den Wettbewerb anheizen, gilt generell als dahingestellt. Kritiker bezweifeln, dass man echten Wettbewerb allein dadurch schafft, dass man die Kassen par ordre de Mufti zwingt, bestimmte Produkte im Sortiment zu haben. Ist ein Behandlungspfad gut, setzt er sich auch so am Markt durch. Von echtem Wettbewerb oder gar Wahlfreiheit zu sprechen, hält auch SPD-Gesundheitsfachmann Eike Hovermann für abwegig: „Was mehr wird, sind nicht diese Parameter – was mehr wird, ist einzig Regulierung und Unüberschaubarkeit.“

Solidargedanke schwindet

Selbstbehalt und Beitragsrückerstattung – auf diese Möglichkeiten setzen die optionalen Wahltarife vorrangig. Attraktiv sind diese Alternativen freilich nur für Junge und Gesunde. Nur wer in nächster Zeit nicht damit rechnet, ernsthaft krank zu werden, entscheidet sich für eine Variante, bei der Geld herausspringt, wenn er nicht erkrankt, und die teuer zu stehen kommt, wenn er doch den Arzt aufsuchen muss. „Wenn junge Patienten nicht zum Arzt gehen und dafür auch noch Prämien kriegen, entstehen für die Kassen neue Kosten“, erklärt Dr. Dr. Jürgen Weitkamp, Präsident der Bundeszahnärztekammer. „Anders formuliert: Die Solidargemeinschaft verliert Mittel. Mittel, die sie den Gesunden schenkt, aber die eigentlich den Kranken zustehen.“

Dass das GKV-WSG eine Risikoselektion Richtung Reich und Gesund fördert, gibt auch der DAK-Vorsitzende Herbert Rebscher unumwunden zu: Hätten Qualitätsund Versorgungswettbewerb die Wenigen mit hohem Versorgungsbedarf im Blick, ziele der jetzt eingeläutete Preiswettbewerb auf die Vielen ohne großen Versorgungsbedarf. „Hier finden systemfremde Steuerungsinstrumente der PKV Eingang in die gesetzliche Krankenversicherung, die dem Solidarsystem finanzielle Mittel entziehen werden, falls gesunde Versicherte davon umfassend Gebrauch machen“, bekräftigt Fedderwitz.

Insgesamt wird durch diese Öffnung die Gesundheitsvorsorge für die Gemeinschaft der Versicherten also teurer. „Versicherte, die ohnehin nicht zum Arzt gehen, schließen Wahltarife ab, bekommen dafür Geld, das für die Kranken fehlt“, betont Ökonom Prof. Jürgen Wasem von der Universität Duisburg-Essen.

Im Alltag wird diese Form der Selbstselektion empfindliche Schneisen in den solidarischen Charakter der GKV schlagen. Jede Prämienrückerstattung an das Mitglied verletzt die für die GKV wichtigen Parameter „Gesund für Krank“ und „Jung für Alt“. Survival of the fittest im Gesundheitswesen ...

Hatte die Koalition sich anfangs noch damit gebrüstet, dass die obligatorischen Wahltarife aufgrund koordinierter Behandlungswege die Kosten dämpfen, musste sie von dieser Vorstellung schnell wieder Abschied nehmen. Eine Chance, mit den Wahltarifen Kosten einzusparen, besteht für die Kassen ohnehin nur darin, dass sich Versicherte für Risiken absichern, die nicht eintreten. Doch wer schultert bitte schön auf Dauer mehr Kosten via Selbstbehalt als er mit der Prämie zurückbekommt?

Nicht nur, was die Folgekosten betrifft – auch bei den Aufwendungen für die Programme selbst hat man sich gründlich verkalkuliert. Die jetzigen Erfahrungen legen den Schluss nahe, dass zwar in einigen Fällen die Behandlungsqualität für die Patienten steigt – von sinkenden Ausgaben kann aber keine Rede sein. In Gegenteil: Oftmals sind die Programme mit Mehrkosten verbunden. Auch für die Kassen.

Euphorie und Ernüchterung

Der Euphorie folgt auch hier die große Ernüchterung. GKV-Wahltarife seien „als Wettbewerbsinstrument nur mit Vorsicht einzusetzen“, warnt etwa der BKK-Bundesverband. „Intelligenz und Sorgfalt der Versicherten, die sich ihre Wahltarife aussuchen“, schreiben die Verbandsexperten für Politik und Marketing, Robert Paquet und Martin Stein, in ihrer Verbandszeitschrift, „werden zu Risiken der Institutionen“. Aufgeschreckt hat den Verband eine Umfrage unter 1 175 GKV-Versicherten. Sie belege, dass die Versicherten mit den neuen Angeboten nicht nur „kritisch und differenziert“ umgingen , sondern „vor allem ihren Vorteil sehr genau im Auge haben”, resümieren Paquet und Stein im „Tagesspiegel“. Dies mache es nicht einfach, „Angebote zu entwickeln, bei denen die Kasse insbesondere wegen der Mitnahmeeffekte nicht von vornherein der Verlierer ist“. Auch bei der Barmer räumt man ein, dass Wahltarife „eine gewisse Gefahr bergen“. Allerdings seien „Schwarzmalereien nicht notwendig“. Umfragen bestätigen allerdings, dass sich die Versicherten verstärkt für Tarife entscheiden, die für sie ein geringes Risiko beinhalten, wie Hausarzttarif und Beitragsrückerstattung. Selbstbehalte lassen die Versicherten hingegen links liegen. Keine Frage: Konkret besteht für die Kassen die Gefahr, dass sie sich böse verrechnen.Selbstbehalte sind nämlich mit hohem Verwaltungsaufwand und intensiver Kostenberatung verbunden. Bei vielen Tarifen gehe es darum „die Wetteinsätze so gering wie möglich zu halten“. Es sei „zu befürchten, dass dies den Versicherten besser gelingen wird als langfristig den Kassen“.

Melden Sie sich hier zum zm-Newsletter des Magazins an

Die aktuellen Nachrichten direkt in Ihren Posteingang

zm Heft-Newsletter


Sie interessieren sich für einen unserer anderen Newsletter?
Hier geht zu den Anmeldungen zm Online-Newsletter und zm starter-Newsletter.