Gehörlose Patienten

Gesten im Sprechzimmer

Kommunikation gut, alles gut. Auf das Verhältnis zwischen Arzt und Patient trifft diese Regel ganz besonders zu. Das Gespräch miteinander muss funktionieren, damit die richtigen Diagnosen gestellt, Schmerzen gelindert und Krankheiten verhindert werden. Was aber, wenn plötzlich ein Patient in die Praxis kommt, der Fragen nicht einfach so hören und beantworten kann? In einer solchen Situation stehen Ärzte vor der Herausforderung, die Stille zu überwinden und alternative Wege ins Gespräch zu finden.

Im hellen Untersuchungszimmer der Zahnarztpraxis von Dr. Alexander Kaul ist nur das vertraute Klappern der Instrumente zu hören. Sauger, Spiegel, Sonde. Über dem Behandlungsstuhl hängt ein Monitor, auf dem sich Kaul und sein Patient Lars Pesch die Bilder der eben beendeten Untersuchung anschauen. Der Zahnarzt erklärt, geht auf Rückfragen ein – und verliert dabei kein Wort. Pesch würde ihn nicht verstehen, er ist seit seiner Geburt gehörlos. Gesagt wird trotzdem viel. In Gebärdensprache.

Schluss mit Umwegen

„Auf die Idee, Gebärdensprache zu lernen, bin ich durch eine gehörlose Patientin gekommen”, erzählt Kaul. „Sie brachte immer Block und Stift zur Untersuchung mit. Sich schreibend zu verständigen, fand ich aber sehr kompliziert. Ich wollte lieber auf direktem Weg mit ihr kommunizieren. Dann weiß man schneller, was Sache ist.” Vor eineinhalb Jahren, kurz nachdem er sich in einer Gemeinschaftspraxis in Aachen niedergelassen hatte, belegte der 31-Jährige deshalb einen Gebärdensprachkurs am örtlichen Hörgeschädigten-Zentrum (HGZ). Mit von der Partie: seine beiden Helferinnen Claudia Kreutz und Anke Winkold-Dolzmann. Am Anfang hätten sie noch ziemlich improvisieren müssen, erinnert sich Kaul. Mittlerweile können sich alle drei problemlos verständigen.

Wer Gebärdensprache fließend beherrschen will, muss genauso viel Zeit investieren wie in das Lernen von Englisch, Französisch oder Spanisch. Praxismanagerin Claudia Kreutz erinnert sich noch gut an das Pauken der Vokabeln: „Man muss dranbleiben und zuhause regelmäßig üben.” Fleißiges Studium der Vokabeln ist aber nur die halbe Miete. Auch die Grammatik der Gebärdensprache will gelernt sein. Und die unterscheidet sich grundlegend von der Lautsprache hörender Menschen. Eine einzige Gebärde kann mehrere Informationen gleichzeitig transportieren. „Über eine Brücke gehen” sagt sich mit den Händen zum Beispiel in einem Rutsch. Zu beachten sind außerdem nationale Unterschiede. Jedes Land hat seine eigenen Zeichen: Bei uns gilt die Deutsche Gebärdensprache (DGS), in der Schweiz die Deutsch-Schweizer und in den USA die American Sign Language.

Im Jahr 2002 wurde die DGS offiziell als Sprache anerkannt. Ziemlich spät, wie Gehörlosen-Verbände finden. Ein Grund dafür sind die unterschiedlichen pädagogischen Standpunkte zur Spracherziehung hörgeschädigter Menschen. Wenn Gebärdensprache als Muttersprache unterrichtet wird, gehen lautsprachliche Fähigkeiten verloren, heißt es auf der einen Seite. Gehörlose, denen das verwehrt wird, lernen dadurch nicht automatisch die Schrift- oder Lautsprache, argumentieren die Gegner. Der Deutsche Gehörlosen- Bund unterstützt diese Position. „Gebärdensprache ist eine vollwertige Sprache, die Hörbehinderten alle Möglichkeiten bietet, sich detailliert auszudrücken. In der Lautsprache kann das für sie immer nur eingeschränkt der Fall sein”, sagt Bettina Herrmann, wissenschaftliche Referentin des Verbandes. Auch von den Lippen abzulesen, bringe nicht immer viel. „Das ist unglaublich anstrengend, weil man im Schnitt nur 30 Prozent des Gesagten versteht. Und das auch nur bei idealen Bedingungen, also ausreichend Licht und deutlicher Mimik”, so Herrmann. Lippenlesen klappt am besten, wenn in normaler Lautstärke gesprochen wird. Extra laut zu reden, verzerrt die Mimik und erschwert den Prozess für Hörgeschädigte.

Bettina Herrmanns Ansicht nach lassen sich diese Probleme nur bewältigen, wenn sich Hörende und Nichthörende aufeinander zubewegen. Alexander Kaul hat bereits einen Riesenschritt getan – nicht nur zur Freude von Lars Pesch. Seit er Behandlungen in Gebärdensprache anbietet, hat der Zahnarzt 30 neue Patienten dazugewonnen.

Gehörlosigkeit in Zahlen

Die Bandbreite bei Hörbehinderungen ist groß. Medizinisch beginnt Gehörlosigkeit bei einem Hörverlust von mehr als 60 Dezibel (dB) im Bereich zwischen 125 und 250 Hertz und im übrigen Frequenzbereich von mehr als 100 dB. Zum Vergleich: Atmen hat einen Lautstärkepegel von 15 dB, normaler Unterhaltungston liegt bei 50 dB. Kreissägen lassen den Pegel auf bis zu 90 dB ausschlagen, Rockbands bringen es auf 110 dB.

In Deutschland leben 80 000 Menschen, die laut medizinischer Definition gehörlos sind, also gar keine Geräusche wahrnehmen. Die Zahl der Schwerhörigen liegt nach Angaben des Deutschen Schwerhörigenbundes bei 16 Millionen.

Hören und Nichthören

Gesunde Ohren nehmen Schallwellen über das äußere Ohr auf und leiten sie über Ohrmuschel und Gehörgang ans Trommelfell weiter. Die dort entstehende Schwingung versetzt erst die Mittelohrknochen und dann die Innenohrflüssigkeit in Bewegung. Effekt: Die Haare in der Hörschnecke (Cochlea) beugen sich, die Haarzellen senden über den Hörnerv elektrische Impulse ans Gehirn, wo die Signale schließlich in Töne umgewandelt werden. Bei Hörbehinderten ist dieser Ablauf gestört. In vielen Fällen können Hörgeräte die Schwächung ausgleichen. Sie verstärken die einfallenden akustischen Signale, stützen sich aber sonst auf den natürlichen Hörprozess – die Ohren müssen also noch eine gewisse Grundleistung bringen.

Bei starken Behinderungen reicht diese Methode nicht mehr aus. Menschen, deren Schwerhörigkeit an Gehörlosigkeit grenzt – wo Hörnerv und -schnecke jedoch intakt sind – kann ein Cochlea Implantat (CI) helfen. Kernstücke der Innenohrprothese sind ein Elektrodenstrang, der in die Hörschnecke eingesetzt wird und eine Empfängerspule, die hinter dem Ohr im Schädelknochen verankert wird. CI wandeln Schall in elektrische Signale um, die den Hörnerv stimulieren. Implantierte nehmen so Höreindrücke wahr, die in den meisten Fällen ein Sprachverständnis ermöglichen.

Ursachen der Stille

Der Verlust des Hörsinns kann viele Ursachen haben. Bei Lars Pesch war es ein Gendefekt. Gefahr geht auch von Röteln, Toxoplasmose oder anderen Viruserkrankungen der Mutter während der Schwangerschaft aus. Falsche Medikation kann genauso zu Gehörlosigkeit führen wie Sauerstoffmangel oder andere mechanische Traumata während der Geburt. Mögliche Auslöser im späteren Lebensverlauf sind Gehirnhautentzündungen, Schädelbrüche, Virus-Infektionen wie Mumps oder Masern und chronische Mittelohrentzündungen.

Immer mehr Menschen leiden unter Altersschwerhörigkeit (Presbyakusis). Sie betrifft meist beide Ohren und setzt in der Regel zwischen dem 50. und 60. Lebensjahr ein. Dabei verschlechtert sich zuerst die Wahrnehmung hoher Frequenzen, später nimmt das Sprachverständnis bei starken Hintergrundgeräuschen ab – der sogenannte Cocktailparty-Effekt tritt ein. Ursache für Presbyakusis sind Abnutzungserscheinungen des Ohrs: Im Alter sterben immer mehr Haar- und Nervenzellen im Innenohr ab. Geräusche werden dadurch schlechter in Nervenimpulse umgewandelt. Der Prozess ist irreversibel. Hörgeräte können den Verlust ausgleichen. In Deutschland ist nach Informationen des Deutschen Schwerhörigenbundes jeder vierte 50- bis 59-Jährige betroffen. Ab 60 hört jeder Dritte schlechter, ab 70 schon jeder Zweite. Für Ärzte ist es wichtig herauszufinden, wie schwerwiegend die Hörbehinderung ihrer Patienten ist, damit sie sich deren Bedürfnissen anpassen können.

Die ideale Praxis

Viel Aufwand müssen Ärzte nicht betreiben, um ihre Praxis gehörlosenfreundlich zu gestalten. „Es empfiehlt sich, mit visuellen Mitteln zu arbeiten”, erklärt Kaul. Mit intraoralen Kameras und darstellender Software lassen sich Abläufe leicht verdeutlichen. Gute Dienste leisten seiner Erfahrung nach auch Gebissmodelle. Bevor er in die Behandlung startet, weist der Zahnarzt hörbehinderte Patienten gezielt darauf hin. „Hörgeschädigte nehmen den Bohrer nicht wahr. Einerseits ist das ein Vorteil, vielen Patienten macht das Geräusch ja Angst. Andererseits gibt der Bohrer das akustische Signal dafür, dass es gleich losgeht.” Ebenfalls wichtig: Immer wieder Blickkontakt suchen und eventuell – sofern es die Hygienerichtlinien erlauben – auf den Mundschutz verzichten, damit Lippenlesen möglich bleibt, wenn der Zahnarzt während der Behandlung die Hände voll hat und nicht gebärden kann. Untersuchungs- und Recalltermine lassen sich einfach per E-Mail, Fax oder SMS vereinbaren.

In der Aachener Praxis herrschen ideale Bedingungen für gehörlose Patienten. Sie fühlen sich sofort willkommen, wenn sie am Empfang von den Helferinnen in Gebärdensprache begrüßt werden. Auch im Untersuchungszimmer gerät die Unterhaltung – insbesondere über fachliche Dinge – nicht ins Stocken. Kaul und seine Kolleginnen haben während ihrer Ausbildung eine Extralektion in Sachen Fachvokabular bekommen. Ihr Lehrer: Lars Pesch. Der 34-Jährige war dafür die Idealbesetzung, denn bevor er wegen einer Sportverletzung zum Dozenten und Dolmetscher umschulte, arbeitete er als Zahntechniker. Die richtige Adresse also, um die Zeichen für Implantat, Zähne ziehen, Spritze oder Wurzelbehandlung zu lernen.

Für Ärzte, die nicht in Gebärdensprache mit gehörlosen oder schwerhörigen Patienten kommunizieren können, gibt es andere Möglichkeiten der Verständigung. Eine Option ist das Fingeralphabet. Damit können Ärzte zwar keine Unterhaltung bestreiten, aber doch die zentralen Elemente der Behandlung verdeutlichen – und hörbehinderten Patienten gleichzeitig signalisieren, dass sie ihre Bedürfnisse ernst nehmen. Der Lernaufwand hält sich in Grenzen. Das deutsche Fingeralphabet besteht aus den 28 Buchstaben von „a” bis „z”, den Zeichen für Umlaute, „ß” und „sch” sowie den Gebärden für die zehn Ziffern. Hilfreich ist es darüber hinaus, sagt Bettina Herrmann, das Gesagte mit natürlichen Gesten zu begleiten. „Dabei können Ärzte ganz intuitiv vorgehen, so als würde man sich in einem fremden Land mit Händen und Füßen verständigen. Entscheidend ist es, unverkrampft und unbefangen zu bleiben.”

Weitere Tipps für die Kommunikation mit hörbehinderten Patienten hat die Deutsche Gesellschaft der Hörgeschädigten (DGH) in einer Broschüre zusammengefasst (siehe Kasten zm-Surftipps). Darin heißt es gleich zu Beginn: „Fühlen Sie sich für die Verständigung mit Ihrer Klientel mitverantwortlich. Hörschädigung führt nicht selten zu Vereinsamung. Als Folge entstehen Krankheiten oder sie verschlimmern sich.” Ärzte und Pflegepersonal können das verhindern. Vor allem, rät die DGH, indem sie sich viel Zeit für hörbehinderte Patienten nehmen und nachfragen, wie sie sie kommunikativ unterstützen können. Schwerhörige sollten zum Beispiel nicht über den Wartezimmerlautsprecher aufgerufen, sondern persönlich zur Untersuchung abgeholt werden. Als Gedächtnisstütze empfiehlt der Ratgeber einen Vermerk auf der Karteikarte betroffener Patienten.

Ein echter Glückstreffer

Einen Zahnarzt gefunden zu haben, mit dem er problemlos sprechen kann, empfindet Lars Pesch als echten Glücksfall. „Früher war ich in einer Praxis, in der ich mich schreibend verständigen oder bei der Krankenkasse extra einen Dolmetscher anfordern musste. Manchmal sprang auch mein Bruder, der hören kann, ein”, sagt er in Gebärdensprache, die Kaul für ihn in Lautsprache übersetzt. Egal wie, der Besuch beim Zahnarzt war immer mit viel Aufwand verbunden.

Obwohl Pesch lange als Zahntechniker gearbeitet hat, kennt er keine andere Praxis, die so gut auf Hörgeschädigte eingeht. „Generell findet man kaum Ärzte, die Gebärdensprache beherrschen“, so Pesch. Besonders in Notfällen kann das unangenehme Folgen haben. Als er sich einmal am Bein verletzt hatte, musste er die Behandlung durch den Notarzt abbrechen und einen Dolmetscher verlangen. „Die Kommunikation war irgendwann zu Ende“, erzählt er. „Ich verstand nicht, was der Arzt machte, merkte aber, dass es das Falsche war.“ Informationen schriftlich auszutauschen, sei Ärzten oft zu lästig, sagt Pesch. Bei gehörlosen und schwerhörigen Menschen löst das unterschiedliche Reaktionen aus: Angst, Frust, Ungeduld, manchmal auch das unangenehme Gefühl, bevormundet zu werden. Wenig Sensibilität für die Situation gehörloser Patienten hat auch Claudia Kreutz beobachtet: „Die meisten Freunde und Kollegen konnten nicht wirklich verstehen, warum ich Gebärdensprache lerne. Manche fanden es zwar interessant, wirklich nachgefragt haben sie aber nicht.”

Alexander Kaul möchte auf seine gehörlosen Patienten nicht mehr verzichten. Sie bereichern den Praxisalltag, findet er. „Der Umgang miteinander ist sehr freundlich. Vielleicht, weil man intensiver und emotionaler miteinander arbeitet.” Auf Distanz zu gehen, ist laut Kaul unmöglich. Und wäre auch gar nicht nach seinem Geschmack. Im Gegenteil: „Wenn ich morgens ins Terminbuch gucke und sehe, dass ein hörbehinderter Patient kommt, freue ich mich den ganzen Tag.”

Susanne TheisenFreie Journalistin in KölnSusanneTheisen@gmx.net

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