Gastkommentar

Pflegeleichtere Wissenschaftler gesucht

Nach dem Rücktritt des kompletten Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesversicherungsamt – ein ziemlich einmaliger Vorgang – dürften die Auseinandersetzungen um den neuen Morbi-RSA an Schärfe zunehmen.

Hartwig Broll
Gesundheitspolitischer Fachjournalist in Berlin

Dass einem Ministerium oder selbst einer Obersten Bundesbehörde einmal ein vollständiger Wissenschaftlicher Beirat durch geschlossenen Rücktritt abhanden kommt, ist wahrscheinlich in der Geschichte der Bundesrepublik ein absolut einmaliger Vorgang. So ist es nunmehr dem Bundesversicherungsamt (BVA) ergangen, dessen Wissenschaftlicher Beirat zur Vorbereitung der Reform des Risikostrukturausgleichs (RSA) hin zu einem morbiditätsorientierten RSA – liebevoll als „Morbi-RSA“ abgekürzt – Ende März seinen Rücktritt erklärt hat.

Auch geraume Zeit nach diesem beispiellosen Vorgang ist nicht restlos zu klären, was den Beirat letztlich zu diesem spektakulären Schritt bewogen haben mag. Aus dem Umfeld des Beirats wurde der Vorgang ausgesprochen moderat kommentiert, das BVA habe das Gutachten, auf dessen Grundlage das Amt jene 60 bis 80 Erkrankungen festlegen sollte, die besondere Zuschläge bei der Zuweisung der Fondsmittel an die Kassen nach sich ziehen, sowohl in der Methodik wie in wesentlichen Details grundlegend verändert. Es habe, so ist zu hören, zu wenig Zeit gegeben, diese Änderungen hinreichend zu erörtern. Weder die vom BVA vorgelegte Liste der Erkrankungen noch die Kritikpunkte aus der Anhörung hätten ausreichend reflektiert und diskutiert werden können.

So recht lässt sich aus diesen eher angedeuteten Begründungen kaum eine Rechtfertigung für den kollektiven Rücktritt herausdestillieren. Nach Maßgabe der Risikostruktur- Ausgleichsverordnung musste dem Beirat von Anfang an deutlich sein, dass das BVA letztlich Herr des Verfahrens sein würde. Wahrscheinlich stehen hinter den eher zurückhaltenden Äußerungen der Wissenschaftler doch handfeste politische Erwägungen. Denn Tatsache ist wohl, dass die neue Krankheitsliste des BVA sehr viel umfangreicher ausfallen dürfte als die vom Beirat vorgeschlagene Fassung – obwohl schon diese vielen Kritikern eigentlich deutlich zu weit gegangen war. Ging man ursprünglich davon aus, dass etwa zwei Drittel des Versorgungsgeschehens durch Zuschläge im RSA ausgeglichen werden sollen, so soll die neue Liste nahezu 100 Prozent des Krankheitsgeschehens als Zuschlagstatbestand erfassen. Nicht wenige Beobachter gehen davon aus, dass dies insbesondere der beständigen Lobbyarbeit der Vertreter des AOKSystems zu verdanken sein dürfte, die wohl massiv insbesondere im Gesundheitsministerium interveniert haben.

Mit dem Rücktritt des Beirates wird diese eigentlich hoch technische und vom Normalbürger wie von den meisten Experten kaum noch nachzuvollziehende Arbeit des BVA zu einem Politikum. Wollte nicht gerade die Union mit der Begrenzung auf 60 bis 80 Krankheiten eine klare Begrenzung der morbiditätsbedingten Zuschläge erreichen?

Nach dem spektakulären Rücktritt scheint insbesondere bei der Union, aber wahrscheinlich auch im Kanzleramt ein Prozess des Nachdenkens eingesetzt zu haben, was unter der Federführung des BVA eigentlich geschieht und wie – und wann – sich dies politisch auswirken könnte. Offensichtlich hat auch die Bundeskanzlerin wenig Vergnügen bei der Vorstellung, sich ausgerechnet im Wahljahr Dinge auf die Füße fallen zu lassen, die letztlich durch Ulla Schmidt ausgeheckt worden sind. Wie dem auch sei: Da die durch Gesetz und Verordnung festgelegten Aufgaben des Wissenschaftlichen Beirates noch nicht abgeschlossen sind, dürfte dem BVA kaum etwas anderes übrig bleiben, als umgehend nach einem neuen, etwas pflegeleichteren Beirat Ausschau zu halten. Viel Zeit bleibt dafür eigentlich nicht mehr – ganz abgesehen von der Schwierigkeit, nach diesem Theaterdonner ohne weiteres willfährige RSA-Experten aus dem Hut zu zaubern.

Gastkommentare entsprechen nicht immer der Ansicht der Herausgeber.

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