Die Gesundheitsreform in 2009

Das Jahr der Buchhalter

Zum Start des Bundestagswahljahres 2009 schlagen die letzten Brocken der schwarz-roten Gesundheitsreform dieser Legislatur auf: Der Gesundheitsfonds vereinheitlicht das Gefüge der Gesetzlichen Krankenkassen, die Privatversicherer müssen einen Basistarif auf GKV-Leistungsniveau anbieten. Ein Schritt nach vorn für das Gesundheitswesen, meint nach wie vor das Bundesgesundheitsministerium. Das Versicherungssystem werde transparenter und gerechter, die Krankenkassen müssten mehr Wettbewerb praktizieren. Alle anderen sehen Kostensteigerungen, mehr Bürokratie und keinerlei Vorteile für das System. Der Weg in die staatlich kontrollierte Einheitsversicherung wird Programm.

Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt will „Sparsamkeit und Flexibilität“ von Deutschlands gesetzlichen Krankenkassen. Das Geld aus dem Gesundheitsfonds soll in Projekte fließen, die für eine „gute Versorgung“ notwendig sind. „Da haben die Kassen einiges zu tun“, meint die Ministerin. Und die, so bemängelt der Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung Dr. Andreas Köhler auf der Handelsblatt-Konferenz „Health“ am 24./25. November in Berlin, haben längst reagiert. Selbst vom Gemeinsamen Bundesausschuss beschlossene höhere Leistungen würden von den Krankenkassen zurzeit nicht mehr finanziert. Früher von den Kassen über Vereinbarungen ausdrücklich geförderte und medizinisch begrüßenwerte Maßnahmen sind inzwischen dem Rotstift zum Opfer gefallen. Köhler warnt vor dem neuen Konglomerat aus höheren Beitragssätzen, weniger Leistungen und nicht abnehmenden Zuzahlungen: „Das verstehen die Patienten nicht.“

Dennoch: Die Krankenkassen sehen sich im Zugzwang. 2009 werde zum „Jahr der Buchhalter“, heißt es von Seiten der Kassen-Funktionäre. Auch kurz vor Toreschluss fehlt es den GKV-Managern in Sachen Gesundheitsfonds immer noch an Planungssicherheit. „Kein einziger Krankenkassenvorstand kann verlässlich seinen Haushalt kalkulieren“, moniert beispielsweise der DAK-Vorsitzende Prof. Dr. Herbert Rebscher den wohl bisher größten Eingriff des Bundesgesundheitsministeriums in das Sachleistungssystem. Bezüglich der Finanzsituation herrscht Verunsicherung. Innovative Projekte werden, so Rebscher, durch die neue Finanzierung in den nächsten Jahren behindert: „Die Kassen werden im nächsten Jahr alles daran setzen, jeden Euro zu halten.“ Es verwundere nicht, „dass sich alle Kassen erst mal von teuren Verträgen trennen“.

Die Großen gewinnen

Dass die zurzeit noch über 200 gesetzlichen Krankenkassen inzwischen vom Bundesversicherungsamt informiert sind, wie viel Geld sie im kommenden Jahr aus dem Bundestopf zurückerhalten sollen, scheint niemanden außer die großen AOKen zu beruhigen. Denen stehen mit 64,8 der insgesamt 166,8 Milliarden immerhin rund 2,4 Milliarden Euro mehr zur Verfügung als bisher. Die AOKen haben im dritten Quartal 2008 bei einem Gesamtumsatz von rund 45,2 Milliarden Euro mit einer Abweichung von minus 56 Millionen Euro ein nahezu ausgeglichenes Finanzergebnis erzielt. Zusammen mit den AOK-Mehreinnahmen von 2,4 Milliarden Euro durch die Neuregelungen des Gesundheitsfonds werde die AOK daher ohne Zusatzbeiträge in die neue Welt des Gesundheitsfonds starten können, heißt es seitens der AOK-Gemeinschaft.

Auch wenn es einigen unter den größeren Kassen ähnlich geht, werden viele ihrer Konkurrenten hingegen verlieren: die Betriebskrankenkassen beispielsweise 1,1 Milliarden, die Angestellten- und die Innungskrankenkassen je rund eine halbe Milliarde Euro. Die morbiditäts-, geschlechts- und altersbezogenen Berechnungen beruhen auf rund 3,3 Milliarden Diagnosedaten der Versicherer aus dem schon drei Jahre zurückliegenden 2006. Veraltete Daten? „Ein reines Abenteuer“, kommentiert Rebscher das Vorgehen.

Gemunkelt wird in GKV-Kreisen schon heute, dass 14 Versicherer mit der in die Systematik eingebauten Ein-Prozent-Überforderungsregel nicht auskommen werden. Insgesamt gelten rund 60 Versicherer als Kandidaten für den Zusatzbeitrag. Der große „Kehraus“ hat also bereits begonnen. Und das ist so gewollt: Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt hält die Hälfte der Kassen für durchaus ausreichend, um die Bundesrepublik zu bedienen. Fusionen, eventuell auch Pleiten, wird also – anders als im sonstigen aktuellen Wirtschaftsgefüge – keiner verhindern.

Die Reise nach Jerusalem

Vielmehr gleicht das vom BMG am grünen Tisch ersonnene Verfahren eher der berüchtigten „Reise nach Jerusalem“. Letztlich wird es in dem in Bismarks Zeiten gegründeten Sozialversicherungssystem nicht mehr genügend Stühle für alle Versicherer geben. Der „Run“ auf die sicheren Plätze führt zum verstärkten Bewerben von im Sinne des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs attraktiven Versicherten und vermehrten Gesundschrumpfungen der Kassenlandschaft über den Weg von Pleiten und weiteren Zusammenschlüssen. Ralf Sjuts, Vorsitzender der BKK FTE: „Die werden viel schneller zu Fusionen gezwungen sein, als sie heute denken.“

Noch sind zumindest viele der großen Versicherer zuversichtlich, mit den Fonds-Zuweisungen auskommen zu können, unter ihnen die AOKen, aber auch die GEK, die DAK, die KKH und die Deutsche BKK. Immerhin wurde das Aufkommen durch einen Zusatzbetrag von insgesamt fast elf Milliarden Euro für 2009 aufgestockt. Grundlage der Rechnerei ist der für das kommende Jahr festgelegte bundeseinheitliche Beitragssatz von 15,5 Prozent. Ob die hochgeschätzte Summe angesichts weltweiter Finanzkrise und etwaiger arbeitsmarktpolitischer Folgen aber tatsächlich eingehalten werden kann, ist in Fachkreisen mit deutlichen Fragezeichen versehen.

Bei der geplanten Abdeckung von 95 Prozent der gesamten Beiträge – im Falle einer Unterdeckung tritt im Jahr 2009 der Bund ein – ist der Spielraum für unvorhergesehene Einbrüche durch die allgemeine Wirtschaftsentwicklung sehr gering. Einer der Kritik-Protagonisten an diesem unsicheren Verfahren ist Bayerns Gesundheitsminister Markus Söder (CSU). Seine gegenüber der „Welt am Sonntag“ geäußerte Sorge: „Wegen der zu erwartenden wirtschaftlichen Rezession werden die angepeilten Kassenbeiträge wahrscheinlich nicht zu halten sein“, meint er und reitet auf dem politischen Trend neuer Zuverlässigkeit: „Generell brauchen wir mehr Ehrlichkeit im Gesundheitssystem.“ Es könne nicht angehen, dass Leistungen verringert würden, um den Beitrag stabil zu halten oder keinen Zusatzbeitrag erheben zu müssen. Am Ende stehe, so die Erkenntnis des neuen Gesundheitsministers in der bayerischen Landesregierung, die Weitergabe des Drucks von den Kassen an Ärzte und Patienten.

Das Raster der 80

Josef Hecken vom Bundesversicherungsamt verteidigt indes Ulla Schmidts Pläne und stellt – wieder einmal – für die nächsten „drei bis vier Jahre“ stabile Krankenkassenbeiträge in Aussicht. Zusatzbelastungen oder Prämien stünden – für das Gros der Versicherten – nicht an, meint der BVA-Präsident. Zwar würden zirka fünf bis sechs Prozent der Beitragszahler mit rund acht Euro im Monat zusätzlich zur Kasse gebeten. Aber immerhin zwölf Prozent der Versicherten könnten sich auf Prämien in Höhe von mehr als zehn Euro im Monat einstellen, rechnet Hecken schön. Dass, wie die Bild-Zeitung kolportierte, drei von vier Rentnern mit einem „Netto-Minus“ in das neue Jahr starten, weil die Renten erst im Juli steigen, ist ein weiteres Opfer, das der Fonds nach sich zieht.

Gesichert scheint bisher der Ablauf des Verfahrens: Ab 1. Januar nächsten Jahres werden alle Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge zunächst in den vom Bundesversicherungsamt verwalteten Fonds fließen. Monatlich sollen laut bisherigen Berechnungen 100 bis 280 Euro je Versichertem zur Verfügung stehen – gestaffelt nach Alter, Erwerbsstatus, Geschlecht und Gesundheitszustand. Für den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) wurden 80 häufige oder teure Krankheiten (zum Beispiel Krebs oder Diabetes) als Maßstab gewählt. Diese erhöhten Leistungspauschalen gelten mit als Grund für das von den AOKen erzielte Plus. Kritisiert wird, dass für Krankheiten, die nicht in dieses Raster der 80 passen, Kosten entstehen, die nicht durch den neuen RSA abgedeckt werden können. Ein weiterer Unsicherheitsfaktor, der die Berechenbarkeit des neuen Systems auch aus dieser Warte fragwürdig macht.

Keiner will der Erste sein

Beruhigend wirkt das alles nicht: Einige Kassen prüfen deshalb noch immer den Bescheid des Bundesversicherungsamtes. Überschüsse, die angesichts der akuten Finanzspritze aus oberflächlicher Betrachtung eigentlich zu erwarten wären, will bis auf die nicht mehr taufrischen Bekundungen der Bundesknappschaft im nächsten Jahr bisher keiner auszahlen. Der neue Fonds fordert es ab: Vorrangige Aufgabe der Kassen bleibt vorerst das Zählen und Rechnen.

Die Flexibilität des Systems, die BVA-Chef Hecken der Bevölkerung vorstellt, wollen die gesetzlichen Versicherer laut bisherigem Bekunden allerdings nicht antasten: 2009 wird keiner – so heißt es zumindest momentan noch eisern aus Kassenkreisen – seine Zuteilungen mit Zusatzprämien der Versicherten aufpeppen. Zumindest will keiner unter den Ersten sein. Lange, so erwarten es zumindest einzelne Fachleute, wird das aber nicht gut gehen. Und Zweifel, ob die ebenfalls ins System eingebaute einprozentige Überforderungsklausel für alle Kassen mittelfristig ausreichen wird, gibt es genügend.

Spätestens im zweiten Jahr des Fonds – manche Kritiker meinen auch schon früher – wird es dann endgültig eng: Ab 2010, so war man sich auf dem Handelsblatt-Kongress doch weitgehend einig, müssten dann viele Krankenkassen Zusatzbeiträge verlangen. So es wegen schlechter Wirtschaftslage noch zu Mindereinnahmen der Sozialbeiträge kommen sollte, wird es zwischenzeitlich auch für den Bund teuer: Er muss Unterdeckungen durch Darlehen ausgleichen, die aber im Folgejahr von den Kassen zurückgezahlt werden müssen – ein System, dass bei fortwährend schlechter Einnahmelage die Schuldenschraube immer weiter anziehen dürfte. Spätestens im zweiten Jahr des Fonds gebe es für die Versicherten „das böse Erwachen“, meint Dr. Rolf Hoberg, Vorsitzender der AOK Baden-Württemberg. Schließlich gelinge die Rückzahlung der Darlehen nur über Kosteneinsparungen oder den Zusatzbeitrag.

Also schwierige Zeiten für die Patienten. Zwar müssen zumindest die gesetzlich Krankenversicherten überwiegend nicht damit rechnen, dass ihre Krankenkasse schon im kommenden Jahr Zusatzbeiträge erheben wird. Immerhin wurden die Beitragssätze ja ohnehin angehoben. Was im Jahr 2010 passieren wird, steht auf einem anderen Blatt: Dann hängt das weitere Vorgehen von den danach agierenden Wahlsiegern der nächsten Bundesregierung ab. Bis dahin wird es, so ist BMG-Staatssekretär Dr. Klaus Theo Schröder überzeugt, zu „erheblichen Veränderungen in der Kassenlandschaft kommen“, Schröder rechnet „mit vielen Kooperationen“. Für ihn ist das allerdings alles „kein Problem“.

Dass die neue Systematik die Kassen auch dazu zwingen könnte, durch die notwendigen Zuwendungen aus dem Morbi-RSA davon Abstand zu nehmen, langfristige Projekte für die Gesundung ihrer Versicherten zu unterstützen, wird allenfalls von Analysten wie dem Essener Betriebswirt Prof. Jürgen Wasem hinterfragt. Eine fast schon ketzerische Frage, die aufzeigt, mit welcher Rigorosität sich der Reformzug Richtung ökonomisch motivierter Einheitsversicherung bewegt.

Plicht-Tarif für die PKV

Das strategisch vorherrschende Ziel, die Wirtschaftlichkeit des deutschen Gesundheitswesens zu verbessern, trifft auch die privaten Krankenversicherer im kommenden Jahr empfindlich. Mit Einführung des sogenannten Basistarifs, dessen Konditionen bis zum Jahresanfang voraussichtlich nicht mit den Kassenärztlichen und Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigungen abgeklärt sein werden, sind auch PKVen laut Sozialgesetzbuch V verpflichtet, einen am GKV-Leistungsniveau angelehnten Tarif anzubieten. Aus PKV-Kreisen heißt es nach wie vor, dass dieser Tarif so unattraktiv wie möglich konzipiert werden soll. Wohin die PKV-Denke tatsächlich gehen wird, darüber wird derzeit noch gemutmaßt.

Auf jeden Fall werden für eine mangelnde Kostendeckung in diesem Tarifbereich die anderen PKV-Vollversicherten künftig aufkommen müssen. Darüber hinaus müssen die Privatversicherer ab Beginn 2009 abwanderungswilligen Versicherten einen Teil ihrer Altersrückstellungen mitgeben. Beide empfindlichen Eingriffe der Gesundheitsreform werden dazu beitragen, so zeigt sich zumindest die PKV-Branche überzeugt, dass ihr bisheriges System sich weiterhin deutlich verteuern, die gegenwärtig noch rund 70 Prozent der PKV-Einnahmen ausmachende Vollversicherung damit zunehmend unattraktiver werden könnte. Die durch zusätzliche Maßgaben des Gesetzgebers erschwerten Möglichkeiten für Neuzugänge – die Zahlen sinken – verschärfen diese Entwicklung zusätzlich. Ein weiterer Faktor, der neben den im GOZ-Referentenentwurf des BMG drohenden Systemangleichungen dazu beitragen wird, die heute im Gesundheitswesen notwendigerweise erfolgende Mischkalkulation von PKV- und GKV-Einnahmen in Deutschlands Praxen weiter zu erschweren. Die schwarz-rote Koalition scheint es so zu wollen.

Auf zur nächsten Reform

Die Patienten hingegen augenscheinlich nicht: Deren Vertrauen in das deutsche Gesundheitswesen ist inzwischen deutlich gesunken. Inzwischen meinen sechs von zehn Bundesbürgern, so stellt Allensbach aktuell heraus, dass die medizinische Versorgung in Deutschland sich weiter verschlechtert. Mehr als die Hälfte ist überzeugt, dass mit Einführung des Gesundheitsfonds die gesetzlichen Krankenkassen künftig weniger als bisher bezahlen werden. 82 Prozent rechnen zudem mit einer weiteren Steigerung der Beiträge. Alles in allem ein innerhalb eines Jahres festzustellender deutlicher Trend zum Schlechteren.

Letztlich sieht wohl nur noch das Bundesgesundheitsministerium überwiegend Vorteile in der neuen Reform. Der Rest sieht es anders: Viele Experten fordern mit Blick auf die offensichtlich anstehenden Probleme dieser Reform schon jetzt den Anlauf für die nächste Korrektur im System.

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