Vorstoß in eine unsichtbare Welt

Expedition Mundhöhle

Ein Lebensraum wie aus dem Bilderbuch: Tropische Temperaturen, reizvolle Kalkstein-Erhebungen, vielfältige kulinarische Genüsse – aber auch ein Paradies für aggressive Bakterien. Nur eine regelmäßige Zahnpflege verhindert, dass aus dem Paradies eine Mördergrube wird.

Der weiße Riese wankt. Mehr als 30 Jahre hat er dem Bombardement mikrobieller Gifte und Säuren widerstanden. Doch der erbittert geführte Stellungskrieg nagt an seinem Fundament. Jetzt gibt es kein Halten mehr. Einem gefällten Baumriesen gleich stürzt er krachend zu Boden. Der fehlende Backenzahn hinterlässt eine hässliche Lücke in meinem Mund – und weckt in mir den drängenden Wunsch, den Ursachen seines Schicksals auf den Grund zu gehen.

Meine Nachforschungen führen mich nach Zürich, wo ich Bernhard Guggenheim treffen soll. Als Professor für „orale Mikrobiologie“ hat er vier Jahrzehnte lang jeden Winkel der menschlichen Mundhöhle erforscht. „Sind Sie bereit für ein Abenteuer?“, begrüßt er mich. Ohne meine Antwort abzuwarten, führt er mich zu einem Gerät, das uns in den nächsten Tagen als „Raumschiff“ dienen und in fremde Welten entführen wird. „Das Rasterelektronenmikroskop (REM) macht sichtbar, was beim Blick durch normale Mikroskope verborgen bleibt“, erklärt Bernd Schüpbach, Geschäftsführer der Firma Microphot. „Das liegt daran, dass die Auflösung konventioneller Mikroskope durch die Wellenlänge des Lichts begrenzt ist.“ Beim REM hingegen tastet ein stark gebündelter Elektronenstrahl das Objekt ab.

Ein Computer wandelt die so gewonnen Daten schließlich in ein sichtbares Bild um. Auf diese Weise kann ein REM noch Details von weniger als einem Millionstel Millimeter darstellen.

Bedienerpult wie im Raumschiff

Gewand huschen Schüpbachs Hände über das Bedienungspult. Der erfahrene REM-Experte komplettiert als der Steuermann das Team unserer optischen „Hightech-Raumfähre“. Kaum haben seine Finger einige Knöpfe und Ventile berührt, werden wir in eine andere Dimension katapultiert. Unsere fantastische Entdeckungsreise hat begonnen. Kleine kugelige Organismen hängen an steilen, weiß glänzenden Gebirgswänden, drängen sich in abgrundtiefen Schluchten und Spalten. Auf und zwischen ihnen siedeln zahllose Stäbchen und Fäden, die alle Hänge der mächtigen Zentralmassive in wogende Felder und Wiesen verwandeln.

Kaum zu glauben, aber: Das abwechslungsreiche Terrain ist ein kleiner Ausschnitt der menschlichen Mundhöhle. Mehr als 700 Bakterienarten leben in diesem einzigartigen Biotop: auf dem Zahnschmelz, in den Zahnzwischenräumen und auf den Schleimhäuten, die fast vier Fünftel der Besiedlungsfläche ausmachen. Ein Schlaraffenland, in dem winzige Spezialisten mehrmals täglich wahre Fressorgien feiern – pünktlich zu den Mahlzeiten ihres Wirtes. Derart paradiesische Zustände provozieren eine Bevölkerungsexplosion: Etwa 100 Milliarden Bakterien wachsen täglich zwischen Lippen und Rachen heran.

Über 700 Bakterienarten als Giganten betrachtet

„Sie können die Lebewesen der Mundhöhle mit niederen Pflanzen eines Flusses vergleichen“, sagt Bernhard Guggenheim. „Die brauchen Steine, die sie kolonisieren, und vorbeischwimmende Nahrung, die sie aufnehmen können.“ Auf den rund 215 Quadratzentimetern Siedlungsraum in der Mundhöhle eines Erwachsenen entsteht so ein weit verzweigtes Beziehungsgeflecht mit genau bestimmten Abhängigkeiten. Am Anfang jedoch herrscht Leere: Der Mundraum eines Neugeborenen gleicht einer unbewohnten, feuchtwarmen Höhle. Wir nutzen die Gelegenheit, um uns ein wenig umzuschauen. Die Bilder des REM fügen sich wie ein Film zusammen. Behutsam steuert unser „Raumschiff“ auf riesenhafte Gebilde zu. Von der Zunge ragen so genannte Wallpapillen mit Geschmacksrezeptoren empor, umringt von zahlreichen pilzoder fadenförmigen Warzen. Sie alle verwandeln die Zunge in eine zerklüftete Bergund Tallandschaft. Bei soviel ungenutztem Lebensraum lassen die ersten Organismen nicht lange auf sich warten. Bereits mit dem ersten Atemzug strömt eine vielgestaltige Mikrobenschar durch den Mund. Der Wettstreit um die besten „Grundstücke“ beginnt.

„In den schluchtartigen Krypten der Zunge finden wir die meisten Keime“, erläutert Guggenheim. Die Vertiefungen des Zungenrückens garantieren Schutz und Nahrung. So drängeln sich hier statt der 20 Bakterien, die normalerweise eine Schleimhautzelle an Gaumen oder Wange bevölkern, mitunter an die hundert. Mikroben, die in den Schluchten nicht unterkommen, weichen auf die Papillen aus. Dort bilden sie, vermischt mit abgestorbenen Schleimhautzellen, Speichel und weißen Blutkörperchen einen pelzigen Belag.

Allerdings: Längst nicht jeder Keim, der in die Mundhöhle eindringt, wird dort auch heimisch. Denn egal, ob Bakterium, Virus oder Pilz – wer hier verweilen möchte, muss rasch einen Platz finden. Dabei helfen den Mikroorganismen bestimmte Proteine. Wie ein Schlüssel zu seinem Schloss passen Sie zu Molekülen auf der Oberfläche von Schleimhautzellen, Bakterien und im Speichelfilm, der die Zähne umzieht. Neuankömmlinge, denen der richtige Schlüssel fehlt, werden mit dem Speichel in den Schlund gespült – rund hundert Millionen mit jedem Milliliter Spucke.

Ein hoch wirksamer Cocktail von Enzymen und Antikörpern macht die Spucke zu einem natürlichen Desinfektionsmittel. Als „Speichelarmee“ rühmen Wissenschaftler deren heilsame Wirkung für den Organismus. Tatsächlich verfügt das System Mundhöhle über eine erstaunliche Selbstheilungskraft. Im Mund schließen sich Wunden schneller als anderswo. Dafür ist insbesondere ein Eiweiß namens SLPI verantwortlich. Ihm wird nachgesagt, dass es weiße Blutkörperchen sogar vor den AIDS auslösenden HIViren schützen soll.

Ich bin sprachlos. Schon die bisherigen Einblicke in dieses verborgene Universum übertreffen all meine Erwartungen. Während ich gedankenversunken die Welt des unendlich Kleinen beobachte, leitet Peter Schüpbach per Knopfdruck einen Zeitsprung ein:

Das Wunder der Dentition

Etwa sechs Monate nach der Geburt vollzieht sich ein tief greifender Wandel im Landschaftsbild der Mundhöhle. Weiße Spitzen kratzen von unten an der Oberfläche der Schleimhaut, reißen Lücken, bohren sich durch das Fleisch über Ober- und Unterkiefer: Die Zähne beginnen durchzubrechen.

Sie komplettieren das Inventar der Mundhöhle und gliedern das einst einheitliche Tiefstromland in ein abwechslungsreiches Panorama mit Senken und Höhen. In die Täler ergießt sich Speichel – täglich bis zu 1,5 Liter. Angeregt von Geruchs-, Kau- und Geschmacksreizen, produzieren sie beim Essen einen mächtigen Strom. Angeschwemmtes organisches Material reichert sich zu einem „Biofilm“ an, der den Zahnschmelz überzieht und ihn für mikrobielle Besetzer attraktiv macht.

Durch den Kuss infiziert

An den noch unbewohnten Glattflächen der Zähne stranden erste Bakterien. Es sind Übersiedler, die aus fremden Mundhöhlen eingeschleust worden sind: mit einem Kuss oder dem Löffel, von dem schon die Mutter gekostet hat. Manche Mikroben reißt bereits die nächste Speichelwelle hinunter in den Magen.

Angeschmiegt an die Furchen und Lamellen des Zahnschmelzes gelingt es einzelnen Bakterien dennoch, sich rechtzeitig an einen passenden Rezeptor zu heften. Sie profitieren von den Nährstoffen, die sich in den strömungsgeschützten Räumen ihrer Schlupfwinkel anhäufen. Wohlgenährt vermehren sie sich konkurrenzlos rasch. Wachsen, Erbsubstanz kopieren, teilen – das alles dauert je nach Art und äußeren Bedingungen kaum länger als 30 Minuten. Innerhalb weniger Stunden entwickelt sich so aus inselartigen Kolonien ein geschlossener Bakterienrasen, die Plaque. Das Wachstum dieser Pionierflora schafft ökologische Nischen: sauerstoffarme Parzellen, saure Lagunen, Stoffwechselprodukte, die neue Nahrungsquellen bieten. Davon angelockt, lassen sich weitere Siedler in der Mundhöhle nieder. Sie klammern sich an die Pioniere, neben-, über-, durcheinander. Für ihr Gedeihen ist das Mundhöhlen-Klima mit einer Temperatur zwischen 32 und 37 Grad Celsius ideal.

Überhaupt ist alles vorhanden, was Bakterien zum Leben brauchen – mit einer wichtigen Ausnahme: Zucker. Doch schon der nächste Schluck Obstsaft kann die Zuckerkonzentration der Mundflüssigkeit ums 50 000-Fache steigern. Die plötzliche Schwemme birgt die Gefahr einer Zuckervergiftung. Viele Plaque bildende Bakterien sperren deshalb einen Teil des Zuckers aus: Sie verknüpfen einzelne Zuckermoleküle zu langkettigen Polysacchariden, die ihre Zellwand nicht durchdringen können. Diese „Vielfachzucker“ verfestigen die Plaque – und bilden ein Nahrungsdepot: Versiegt der Zuckerstrom, können die Streptokokken darauf zurückgreifen und sich etwas länger vermehren als die Konkurrenz. Für den Menschen ist die Anpassung an den vielen Zucker gefährlich: Karies droht (siehe Kasten).

Zahnstein wie ein Riesengebirge

„Steuermann“ Schüpbach lässt die Einzelbilder des REM erneut wie einen Zeitrafferfilm ablaufen. Die Landschaft ist überwältigend. Eben noch wogende, undurchdringliche Streptokokken-Felder sterben ab, mineralisieren Schicht für Schicht zu Zahnstein. „Hier wiederholt sich auf mikroskopischem Niveau ein Kapitel der Erdgeschichte“, kommentiert Bernhard Guggenheim, „die Entstehung der Sedimentgesteine.“ Nicht einmal die fossilen Einschlüsse fehlen. „Zahnstein“, erklärt der Wissenschaftler, „entsteht nur, wo Plaque liegen bleibt und gleichzeitig hohe Konzentrationen von Kalzium und Phosphat vorhanden sind.“ Wir nähern uns dem eigentlichen Ziel unserer Entdeckungsreise. „Sie wollten wissen, was Ihrem Backenzahn, das Leben kostete. Machen Sie sich auf einiges gefasst“, warnen mich meine Begleiter.

Die Feinde kommen

Für Mikrobiologen sind Zahnfleischentzündungen ein jahrzehntelanger Krieg zwischen Bakterien und Abwehrzellen, bei dem heftige Attacken mit Episoden trügerischen Friedens wechseln. Ein Krieg, dem am Ende mein Zahn zum Opfer gefallen ist. Aus sicherer Entfernung verfolgen wir das Geschehen. Am Zahnhals verseuchen bakterieller Stoffwechselmüll und Überreste von Mikroben die Umgebung. Giftstoffe dringen ins Bindegewebe ein und reizen das Zahnfleisch. Auf die mikrobielle Provokation antwortet das Immunsystem mit Gegenoffensiven. In jeder Minute quellen bis zu 100 000 weiße Blutkörperchen aus den Zellritzen des Zahnfleischs. Ziel der Fresszellen ist die flache, unmittelbar an den Schmelz grenzende Gewebesenke. Dort, am Zahnfleischrand, bilden sie einen dicht gestaffelten Wall, der sich der Plaque geschlossen entgegenstemmt.

An der Seite der weißen Blutkörperchen kämpfen Bataillone von Antikörpern. Als Hauptwaffen der spezifischen Immunantwort haben sie ein genau definiertes Feindbild. Hoch spezialisiert heften sie sich wie Erkennungswimpeln an Bakterien oder Viren. So markiert, werden diese zur leichten Beute der Fresszellen. Gemeinsam gelingt es den Verteidigern, den Vormarsch der Mikroben zu stoppen – vorläufig.

Denn ohne die Unterstützung einer höheren Macht, die mit Zahnbürste und Zahnseide agiert, hat die Abwehr wenige Chancen gegen die unablässig wachsende Zahl von Bakterien. Allerorten wuchern am Zahnfleischrand neue Mikrobenkolonien. Der andauernde Zustand bleibt nicht ohne Folgen: „Wenn Sie beim Zähneputzen Blut spucken, haben Sie eine Gingivitis“, beschreibt Bernhard Guggenheim das Alarmsignal.

Heikel wird die Lage, wenn die Plaque ungebremst in Richtung Wurzelzement wächst. Bakterien erobern das angrenzende Gewebe, schlüpfen in den Spalt, der zwischen Zahn und geschwollenem Zahnfleisch entstanden ist. Im Schutz dieser Nische vermehren sie sich rasch. Fresszellen, die den Bakterien entgegenströmen, verursachen Löcher in der Gewebebarriere. Aus ihr ergießt sich Entzündungsflüssigkeit in die etwa drei Millimeter tiefe Zahnfleischtasche: eine dicke mit Eiweißen angereicherte Brühe. Von dieser neuen, hochwertigen Nahrungsquelle zehrt eine Bakterien-Gang, für die jedes Sauerstoffmolekül reinstes Gift ist. Diese bunte Mischung von spindelförmigen Stäbchen und beweglichen Spiralen verdrängt alsbald Kugel- und Kettenbakterien, die das Biotop vorbereitet haben, aber unter den geänderten Umweltbedingungen nicht konkurrenzfähig sind.

Auch die Auseinandersetzung mit der körpereigenen Abwehr gerät in ein neues Stadium. So produzieren die Neulinge ihr eigenes Arsenal wirksamer Waffen. Die Bakterien vermehren sich und sind jederzeit zum Angriff bereit. Sie lauern auf eine lokale Immunschwäche: Grippe, Fieber, psychischen Stress. Ist eine solche günstige Stunde gekommen, beginnt der Vorstoß ins Gewebe.

„Früher glaubte man, dass Zahnverlust eine natürliche Alterserscheinung sei“, erklärt Bernhard Guggenheim den alten Begriff Parodontose. „Heute wissen wir, dass es ein Prozess ist, der auf einer langwierigen, unbehandelten Entzündung beruht und in Schüben verläuft.“ Und: Es ist ein Prozess, der umkehrbar bleibt, solange die Ligamente nicht vernichtet sind – jene kräftigen Fasern, die die Zahnwurzel im Zahnfach verankern.

Die Infektion ist perfekt

Dann eskaliert die Schlacht. Bakterien infiltrieren das hochgradig entzündete Zahnfleisch. Mit einem noch nicht verstandenen Trick gelingt es den Angreifern, die zielgerichtete Erkennung der Abwehr außer Kraft zu setzen und sich mitten im Gewebe in Nestern zu sammeln, ohne dass ihnen die Abwehr auf die Spur kommt. Angesichts der Übermacht geben die Immunzellen ihre Frontstellung auf. Tod und Zerstörung begleiten ihren Rückzug. Das Schlachtfeld gerät zum millionenfachen Massengrab.

Um der drohenden Kapitulation zu entgehen, spielt die überforderte Abwehr ihren letzten Trumpf aus und geht zur „Strategie der verbrannten Erde“ über: Mittels Botenstoffen weist sie knochenabbauende Zellen an, das Zahnfach in einen Steinbruch zu verwandeln, der mehr und mehr abgetragen wird. Jetzt hat die letzte Stunde des Zahns geschlagen. „Im Prinzip“, sagt Guggenheim, „kämpft der Körper so lange, bis es ihm zu viel wird und er den Zahn einfach rauswirft. Dann haben die Abwehrzellen wieder eine stabile Verteidigungslinie.“ Ein Schicksal, das auch meinen Zahn ereilte.

„Vergessen Sie die Geheimnisse der Mundhygiene nicht“, ruft mir Guggenheim beim Abschied mit einem Augenzwinkern hinterher, so „ersparen Sie Ihrem Gebiss weitere Opfer“. Versprochen!

Helge SiegerMedienberater, Journalist & TV-ProducerOtto-Hahn-Str. 293053 Regensburghelge.sieger@email.de

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